David Copperfield

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David Copperfield
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Charles Dickens

David Copperfield

Vollständige Fassung in zwei Bänden

Charles Dickens

David Copperfield

Vollständige Fassung in zwei Bänden

(The Personal History, Adventures, Experience & Observation of David Copperfield, the Younger)

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020

Übersetzung: Gustav Meyer

EV: Albert Langen Verlag, München, 1910

1. Auflage, ISBN 978-3-954183-50-0

www.null-papier.de/dickens


null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Au­tor und Werk

Band 1

1. Ka­pi­tel – Ich kom­me zur Welt

2. Ka­pi­tel – Ich be­ob­ach­te

3. Ka­pi­tel – Eine Ver­än­de­rung

4. Ka­pi­tel – Ich fal­le in Un­gna­de

5. Ka­pi­tel – Man schickt mich fort

6. Ka­pi­tel – Ich er­wei­te­re den Kreis mei­ner Be­kannt­schaft

7. Ka­pi­tel – Mein ers­tes Se­mes­ter in Sa­lem­haus

8. Ka­pi­tel – Mei­ne Fe­ri­en – Ein glück­li­cher Nach­mit­tag

9. Ka­pi­tel – Ein denk­wür­di­ger Ge­burts­tag

10. Ka­pi­tel – Ich wer­de ver­nach­läs­sigt, und man – bringt mich un­ter

11. Ka­pi­tel – Ich be­gin­ne ein Le­ben auf eig­ne Faust und fin­de kei­nen Ge­fal­len dar­an

12. Ka­pi­tel – Da mir das Le­ben auf eig­ne Faust nicht ge­fällt, fas­se ich einen großen Ent­schluss

13. Ka­pi­tel – Die Fol­gen mei­nes Ent­schlus­ses

14. Ka­pi­tel – Mei­ne Tan­te kommt zu ei­nem Ent­schluss über mich

15. Ka­pi­tel – Ich fan­ge wie­der von vorn an

16. Ka­pi­tel – In mehr als ei­ner Hin­sicht bin ich ein Neu­ling in der Schu­le

17. Ka­pi­tel – Ein Mann taucht auf

18. Ka­pi­tel – Ein Rück­blick

19. Ka­pi­tel – Ich hal­te die Au­gen of­fen und ma­che eine Ent­de­ckung

20. Ka­pi­tel – Bei Steer­forth

21. Ka­pi­tel – Die klei­ne Emly

22. Ka­pi­tel – Alte Um­ge­bun­gen und neue Men­schen

23. Ka­pi­tel – Ich sehe, dass Mr. Dick recht hat­te, und wäh­le einen Be­ruf

24. Ka­pi­tel – Mei­ne ers­te Aus­schwei­fung

25. Ka­pi­tel – Gute und böse En­gel

26. Ka­pi­tel – Ich ge­ra­te in Ge­fan­gen­schaft

27. Ka­pi­tel – Tom­my Tradd­les

28. Ka­pi­tel – Mr. Mi­ca­w­ber wirft sei­nen Feh­de­hand­schuh hin

29. Ka­pi­tel – Mein zwei­ter Be­such in Steer­forths Haus

30. Ka­pi­tel – Ein Ver­lust

31. Ka­pi­tel – Ein noch grö­ße­rer Ver­lust

Band 2

32. Ka­pi­tel – Der An­fang ei­ner lan­gen Rei­se

33. Ka­pi­tel – Won­ne

34. Ka­pi­tel – Eine große Über­ra­schung

35. Ka­pi­tel – Nie­der­ge­schla­gen­heit

36. Ka­pi­tel – En­thu­si­as­mus

37. Ka­pi­tel – Eine kal­te Du­sche

38. Ka­pi­tel – Eine Tren­nung

39. Ka­pi­tel – Wick­field und Heep

40. Ka­pi­tel – Der Wan­de­rer

41. Ka­pi­tel – Do­ras Tan­ten

42. Ka­pi­tel – Un­heil

43. Ka­pi­tel – Wie­der ein Rück­blick

44. Ka­pi­tel – Un­ser Haus­halt

45. Ka­pi­tel – Mr. Dick er­füllt die Pro­phe­zei­ung mei­ner Tan­te

46. Ka­pi­tel – Nach­richt

47. Ka­pi­tel – Mar­ta

48. Ka­pi­tel – Häus­li­ches

49. Ka­pi­tel – Ein Ge­heim­nis hält mich in Atem

50. Ka­pi­tel – Mr. Peg­got­tys Traum geht in Er­fül­lung

51. Ka­pi­tel – Der An­fang ei­ner lan­gen Rei­se

52. Ka­pi­tel – Ich woh­ne ei­ner Ex­plo­si­on bei

53. Ka­pi­tel – Wie­der ein Rück­blick

54. Ka­pi­tel – Mr. Mi­ca­w­bers Ge­schäf­te

55. Ka­pi­tel – Sturm

56. Ka­pi­tel – Die neue Wun­de und die alte

57. Ka­pi­tel – Die Aus­wan­de­rer

58. Ka­pi­tel – Un­ter­wegs

59. Ka­pi­tel – Rück­kehr

60. Ka­pi­tel – Ag­nes

61. Ka­pi­tel – Zwei in­ter­essan­te Reui­ge wer­den vor­ge­führt

62. Ka­pi­tel – Ein Licht­strahl fällt auf mei­nen Weg

63. Ka­pi­tel – Ein Be­such

64. Ka­pi­tel – Ein letz­ter Rück­blick

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Das Buch

»Da­vid Cop­per­field« ist ei­ner der be­kann­tes­ten Bil­dungs­ro­ma­ne über­haupt. Vie­le Ele­men­te der Ge­schich­te fol­gen Er­eig­nis­sen aus Di­ckens’ ei­ge­nem Le­ben, »Da­vid Cop­per­field« gilt da­her als der am stärks­ten au­to­bio­gra­fisch ge­präg­te Ro­man sei­nes Ge­samt­wer­kes. Di­ckens selbst be­zeich­ne­te »Da­vid Cop­per­field« als sei­ne Lieb­lings­ge­schich­te.

 

Er­zählt wird die Le­bens­ge­schich­te von Da­vid Cop­per­field. Man er­fährt von sei­nem Wer­de­gang und lang­sa­mem Er­wach­sen­wer­den. Nach dem frü­hen Tod der El­tern wächst Da­vid bei sei­nem bru­ta­len Stief­va­ter auf, schon mit 10 Jah­ren wird er zum Ar­bei­ten in die Fa­brik ge­schickt (auch hier Par­al­le­len zu Di­ckens’ Le­ben). Er flieht, um den un­er­träg­li­chen Be­din­gun­gen zu ent­kom­men.

Die Er­zäh­lung lebt von den zahl­rei­chen (be­rühmt ge­wor­de­nen) Fi­gu­ren, die sei­nen Weg kreu­zen, ihn eine Zeit lang be­glei­ten, ver­schwin­den und wie­der auf­tau­chen.

In be­kann­ter Di­ckens-Ma­nier – mit viel Witz in den Ne­ben­sät­zen – be­kom­men die Haupt­fi­gu­ren schließ­lich, was sie ver­die­nen. Nur we­ni­ge Er­zähl­fä­den blei­ben un­auf­ge­löst. In die­sen Zei­len zeigt sich Di­ckens’ groß­ar­ti­ges Kön­nen um die Schil­de­rung von Er­leb­nis­sen und Ge­füh­len der Kind­heit.

Wie die meis­ten Wer­ke Di­ckens’ wur­de auch »Da­vid Cop­per­field« zu­nächst als mehr­tei­li­ge, mo­nat­li­che Fort­set­zungs­ge­schich­te ver­fasst und spä­ter vom Au­tor über­ar­bei­tet.

Di­ckens ist der trotz al­ler ge­le­gent­li­chen Rühr­sam­keit kö­nig­lichs­te eng­li­sche Er­zäh­ler mit sei­nem gü­ti­gen Her­zen und sei­ner pracht­vol­len Lau­ne, von ihm müs­sen wir min­des­tens die Pich­wi­ckier und den Cop­per­field ha­ben. [Quel­le: Biblio­thek der Welt­li­te­ra­tur]

Autor und Werk

Charles John Huf­fam Di­ckens (als Pseud­onym auch Boz; geb. 7. Fe­bru­ar 1812 in Land­port bei Ports­mouth, Eng­land; gest. 9. Juni 1870 auf Ga­d’s Hill Place bei Ro­che­s­ter, Eng­land) ist ein eng­li­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list.

Er gilt als ei­ner der her­aus­ra­gends­ten Au­to­ren sei­ner Zeit und als ei­ner der Ers­ten, die in rea­lis­ti­schen Schil­de­run­gen das Leid ei­ner un­ter­pri­vi­le­gier­ten Be­völ­ke­rung auf­zeich­ne­ten.

Zu sei­nen be­kann­tes­ten Wer­ken ge­hö­ren »Oli­ver Twist«, »Da­vid Cop­per­field«, »Eine Ge­schich­te aus zwei Städ­ten«, »Gro­ße Er­war­tun­gen« so­wie »Eine Weih­nachts­ge­schich­te«. Di­ckens ver­wen­det einen blu­mi­gen und poe­ti­schen Stil, der vie­le hu­mo­ris­ti­sche Ele­men­te be­sitzt. Be­son­ders sei­ne Sei­ten­hie­be auf die Bri­ti­sche Ari­sto­kra­tie sind weit ver­brei­tet und be­liebt.

Di­ckens ist das Zwei­te von acht Kin­dern von John Di­ckens (1786–1851), ei­nem mit­tel­lo­sen Ma­ri­ne­schrei­ber. 1823 kann der Va­ter die hung­ri­ge Fa­mi­lie nicht mehr er­näh­ren und kommt ins Schuld­ge­fäng­nis von Lon­don. Eine Tra­gö­die, die den Jun­gen Charles Di­ckens fürs Le­ben prägt - nicht um­sonst kri­ti­siert er in sei­nen Schrif­ten den un­ge­rech­ten Um­gang mit schuld­los Ver­schul­de­ten. Charles muss schon mit 12 Jah­ren als La­ger- und Fa­brik­ar­bei­ter sei­ne Fa­mi­lie un­ter­stüt­zen; auch die­se Er­fah­rung fließt in sein Werk um »Da­vid Cop­per­field« ein.

Als sein Va­ter 1824 aus dem Ge­fäng­nis ent­las­sen wird, geht Charles bis 1826 zu­rück in die Schu­le und wird 1827 als Schrei­ber bei ei­nem Rechts­an­walt an­ge­stellt. Er ar­bei­tet sich bis zum Par­la­ment­ss­te­no­gra­fen hoch (1929).

1836 hei­ra­tet Di­ckens Ca­the­ri­ne Ho­garth (1816–1879), von der er sich 1858 trennt. Das Ehe­paar hat zehn Kin­der.

Ab 1831 ver­dient Di­ckens sei­nen Le­bens­un­ter­halt als Jour­na­list für ver­schie­de­ne Zei­tun­gen. 1836–37 er­schei­nen in mo­nat­li­chen Hef­ten die »Pick­wick Pa­pers«, durch die Di­ckens rasch Be­kannt­heit als Schrift­stel­ler er­langt. Eben­so sei­ne fol­gen­den Ro­ma­ne ent­ste­hen als Fort­set­zungs­ge­schich­ten in Zei­tun­gen. Oft schreibt er an meh­re­ren gleich­zei­tig.

Aber Di­ckens will nicht nur li­te­ra­ri­schen Er­folg, son­dern auch auf ge­sell­schaft­li­che Miss­stän­de hin­wei­sen und den Weg für so­zia­le Re­for­men eb­nen. 1838 er­scheint »Oli­ver Twist« und Di­ckens wird Her­aus­ge­ber der li­be­ra­len Ta­ges­zei­tung »Dai­ly News«.

Auf ei­ner er­folg­rei­chen Le­se­rei­se in die Ve­rei­nig­ten Staa­ten bringt Di­ckens, der un­ter nicht au­to­ri­sier­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent lei­det, die Idee ei­nes welt­wei­ten Ur­he­ber­rech­tes auf, aber ern­tet da­für kei­ne Un­ter­stüt­zung.

1843 ver­öf­fent­licht Di­ckens sei­ne be­kann­te »Weih­nachts­ge­schich­te«, in der er eine fan­tas­ti­sche Hand­lung mit der mo­ra­li­schen Idee von So­li­da­ri­tät und Nächs­ten­lie­be ver­knüpft.

1856 er­lau­ben ihm sei­ne Ein­künf­te, den Land­sitz Ga­d‘s Hill Place in Ro­che­s­ter zu er­wer­ben. Am 9. Juni 1865 über­lebt Di­ckens den schwe­ren Ei­sen­bah­n­un­fall von Staple­hurst. Die­sen über­steht er kör­per­lich un­ver­sehrt, wird aber zeit­le­bens an den Erin­ne­run­gen lei­den.

1869 macht er eine letz­te Le­se­rei­se durch Groß­bri­tan­ni­en, auf der er wäh­rend ei­ner Le­sung einen Schlag­an­fall er­lei­det. Am 9. Juni 1870 stirbt Charles Di­ckens auf sei­nem Land­sitz an ei­nem zwei­ten Schlag­an­fall. Er wird am 14. Juni in der West­mins­ter Ab­bey bei­ge­setzt.

Di­ckens ist ei­ner der meist­ge­le­se­nen Schrift­stel­ler der eng­li­schen Li­te­ra­tur. Der als Kind Mit­te­lo­se hin­ter­lässt bei sei­nem Tode ein statt­li­ches Ver­mö­gen.

Charles Di­ckens bei Null Pa­pier:

www.null-papier.de/dickens

Band 1

1. Kapitel – Ich komme zur Welt

Ob ich mich in die­sem Bu­che zum Hel­den mei­ner eig­nen Lei­dens­ge­schich­te ent­wi­ckeln wer­de oder ob je­mand an­ders die­se Stel­le aus­fül­len soll, wird sich zei­gen.

Um mit dem Be­ginn mei­nes Le­bens an­zu­fan­gen, be­mer­ke ich, dass ich, wie man mir mit­ge­teilt hat und wie ich auch glau­be, an ei­nem Frei­tag um Mit­ter­nacht zur Welt kam. Es heißt, dass die Uhr zu schla­gen be­gann, ge­ra­de als ich zu schrei­en an­fing.

Was den Tag und die Stun­de mei­ner Ge­burt be­trifft, so be­haup­te­ten die Kinds­frau und ei­ni­ge wei­se Frau­en in der Nach­bar­schaft, die schon Mo­na­te zu­vor, ehe wir noch ein­an­der per­sön­lich vor­ge­stellt wer­den konn­ten, eine leb­haf­te Teil­nah­me für mich ge­zeigt hat­ten…

ers­tens: Dass es mir vor­aus­be­stimmt sei, nie im Le­ben Glück zu ha­ben, und

zwei­tens: Dass ich die Gabe be­sit­zen wür­de, Geis­ter und Ge­s­pens­ter se­hen zu kön­nen. Wie sie glaub­ten, hin­gen die­se bei­den Ei­gen­schaf­ten un­ver­meid­lich all den un­glück­li­chen Kin­dern bei­der­lei Ge­schlechts an, die in der Mit­ter­nachts­stun­de ei­nes Frei­tags ge­bo­ren sind.

Über den ers­ten Punkt brau­che ich nichts wei­ter zu sa­gen, weil ja mei­ne Ge­schich­te am bes­ten zei­gen wird, ob er ein­ge­trof­fen ist oder nicht.

Was den zwei­ten an­be­langt, will ich nur fest­stel­len, dass ich bis­her noch nichts be­merkt habe. – Vi­el­leicht habe ich schon als ganz klei­nes Kind die­sen Teil mei­ner Erb­schaft an­ge­tre­ten und auf­ge­braucht. Ich be­kla­ge mich auch durch­aus nicht, falls mir die­se schö­ne Gabe vor­ent­hal­ten blei­ben soll­te. Und wenn sich ir­gend­je­mand an­ders ih­rer viel­leicht be­mäch­tigt hat, mag er sie in Got­tes­na­men be­hal­ten.

Ich kam in ei­nem Haut­netz zur Welt, das spä­ter um den nied­ri­gen Preis von fünf­zehn Gui­ne­en in den Zei­tun­gen zum Ver­kauf aus­ge­schrie­ben wur­de. Ob da­mals die See­rei­sen­den ge­ra­de knapp bei Kas­se wa­ren oder schwach im Glau­ben und da­her Korkja­cken vor­zo­gen, weiß ich nicht; ich weiß bloß so viel, dass nur ein ein­zi­ges An­ge­bot ein­lief, und zwar von ei­nem An­walt, der zu­gleich Wech­se­l­agent war und zwei Pfund bar und den Rest in Sher­ry ge­ben woll­te und es ent­schie­den ab­lehn­te, um einen hö­hern Preis die­se Ga­ran­tie ge­gen das Er­trin­ken zu er­wer­ben. Die An­non­ce wur­de zu­rück­ge­zo­gen – denn was Sher­ry an­be­lang­te, so wur­de mei­ner ar­men lie­ben Mut­ter eig­ner Sher­ry ge­ra­de da­mals ver­stei­gert.

Das Haut­netz wur­de zehn Jah­re spä­ter in un­se­rer Ge­gend in ei­ner Lot­te­rie un­ter fünf­zig Per­so­nen aus­ge­kno­belt; je fünf­zig Be­wer­ber zahl­ten eine hal­be Kro­ne per Kopf, und der Ge­win­ner hat­te noch fünf Schil­lin­ge dar­auf­zu­le­gen. Ich selbst war ge­gen­wär­tig und er­in­ne­re mich, wie un­be­hag­lich und ver­le­gen mir zu Mute war, als ein Teil mei­nes eig­nen Selbsts auf die­se Wei­se ver­äu­ßert wur­de. Ich weiß noch, dass eine alte Dame mit ei­nem Hand­korb das Netz ge­wann und die aus­ge­mach­ten fünf Schil­lin­ge in lau­ter Half­pen­ny­stücken zö­gernd her­aus­hol­te.

Es fehl­ten da­mals noch zwei und ein hal­ber Pen­ny, was man ihr nur mit ei­nem großen Auf­wand an Zeit und Arith­me­tik be­greif­lich ma­chen konn­te. Tat­sa­che ist, dass die alte Dame wirk­lich nie er­trank, son­dern tri­um­phie­rend im Bet­te starb; zwei­und­neun­zig Jah­re alt.

Ich ließ mir er­zäh­len, dass sie sich bis an ihr Ende au­ßer­or­dent­lich da­mit brüs­te­te, in ih­rem gan­zen Le­ben nie­mals auf dem Was­ser ge­we­sen zu sein, höchs­tens auf ei­ner Brücke, und dass sie bei ih­rem Tee, dem sie sehr zu­ge­tan war, stets ihre Ent­rüs­tung über die Gott­lo­sig­keit der See­leu­te aus­sprach, die sich auf dem Mee­re »her­um­trie­ben«.

Es war ver­ge­bens, ihr vor­zu­stel­len, wie vie­le An­nehm­lich­kei­ten wir, den Tee zum Bei­spiel mit in­be­grif­fen, die­ser Un­sit­te ver­dan­ken. Stets er­wi­der­te sie mit noch grö­ßerm Nach­druck und mit in­stink­ti­vem Be­wusst­sein von der Ge­walt ih­res Ein­wan­des: »Man hat sich trotz­dem nicht her­um­zu­trei­ben.«

Um mich aber nicht selbst her­um­zu­trei­ben und ab­zu­schwei­fen, will ich wie­der zu mei­ner Ge­burt zu­rück­keh­ren.

Ich er­blick­te in Blun­der­sto­ne in Suf­folk oder da­her­um, wie man in Schott­land sagt, das Licht der Welt. Ich bin ein nach­ge­bor­nes Kind. Mei­nes Va­ters Au­gen schlos­sen sich sechs Mo­na­te frü­her, als die mei­ni­gen sich öff­ne­ten.

Es liegt et­was Selt­sa­mes für mich in dem Ge­dan­ken, dass mein Va­ter mich nie­mals ge­se­hen hat, und noch Selt­sa­me­res in der schat­ten­haf­ten Erin­ne­rung aus mei­ner ers­ten Kin­der­zeit an den wei­ßen Grab­stein auf dem Kirch­hof. Ich emp­fand un­säg­li­chen Kum­mer, dass er dort drau­ßen al­lein lie­gen muss­te in der dunklen Nacht, wäh­rend un­ser klei­nes Wohn­zim­mer warm und hell war von Feu­er und Licht und das Tor un­se­res Hau­ses – fast grau­sam kam es mir manch­mal vor – für ihn ver­rie­gelt und ver­schlos­sen.

Eine Tan­te mei­nes Va­ters, folg­lich eine Groß­tan­te von mir, von der ich bald mehr zu er­zäh­len ha­ben wer­de, galt als die an­ge­se­hens­te Per­son in un­se­rer Fa­mi­lie. Miss Trot­wood oder Miss Betsey, wie mei­ne arme Mut­ter sie im­mer nann­te, wenn sie ihre Angst vor die­ser schreck­li­chen Per­sön­lich­keit so weit über­wand, sie über­haupt zu er­wäh­nen, war ver­hei­ra­tet ge­we­sen mit ei­nem Man­ne, der jün­ger als sie selbst und sehr hübsch war. Al­ler­dings nicht in dem Sinn des Sprich­worts, »hübsch ist, wer sich hübsch be­trägt«, – denn er stand stark in dem Ver­dacht, dass er Miss Betsey durch­zu­prü­geln pfleg­te und ein­mal so­gar we­gen ei­ner strit­ti­gen Un­ter­stüt­zungs­fra­ge schnel­le, aber ent­schlos­se­ne Vor­be­rei­tun­gen ge­trof­fen hät­te, sie aus ei­nem Fens­ter im zwei­ten Stock hin­aus­zu­wer­fen.

Die­se of­fen­kun­di­gen Be­wei­se un­ver­träg­li­cher Ge­müts­art be­wo­gen schließ­lich Miss Betsey, ihn mit Geld ab­zu­fer­ti­gen und eine Schei­dung auf ge­gen­sei­ti­ge Übe­rein­kunft durch­zu­set­zen.

Er ging mit dem Ka­pi­tal nach In­di­en und wur­de dort nach ei­ner wil­den Le­gen­de in un­se­rer Fa­mi­lie ein­mal auf ei­nem Ele­fan­ten rei­ten ge­se­hen in Ge­sell­schaft ei­nes Babu. Es wird wohl ein Pa­vi­an ge­we­sen sein – oder eine Be­gum! Wie dem auch sei, ehe zehn Jah­re um wa­ren, kam aus In­di­en die Kun­de von sei­nem Tod.

Wie mei­ne Tan­te es auf­ge­nom­men hat, weiß nie­mand. Gleich nach der Schei­dung nahm sie ih­ren Mäd­chen­na­men wie­der an, kauf­te sich ein Häu­schen in ei­nem Wei­ler weit drau­ßen an der See­küs­te und leb­te dort mit ei­ner ein­zi­gen Die­ne­rin in un­er­bitt­li­cher Zu­rück­ge­zo­gen­heit.

Mein Va­ter muss­te einst ihr Lieb­ling ge­we­sen sein, aber sei­ne Hei­rat hat­te sie töd­lich be­lei­digt, da mei­ne Mut­ter nach ih­rer An­sicht nur eine »Wach­s­pup­pe« war. Sie hat­te mei­ne Mut­ter wohl nie ge­se­hen, wuss­te aber, dass sie sehr jung war – noch nicht zwan­zig.

 

Mein Va­ter und Miss Betsey sa­hen ein­an­der nie wie­der. Er war dop­pelt so alt als mei­ne Mut­ter, als er sie hei­ra­te­te, und von zar­ter Ge­sund­heit. Ein Jahr dar­auf starb er; wie ich schon ge­sagt habe, sechs Mo­na­te, ehe ich zur Welt kam.

So la­gen die Din­ge an je­nem, wie ich wohl sa­gen darf, er­eig­nis­vol­len und wich­ti­gen Frei­tag. Ich weiß na­tür­lich über sie nichts aus eig­ner An­schau­ung und stüt­ze mei­ne Erin­ne­run­gen auch nicht auf eig­ne Sin­nes­wahr­neh­mung.

Mei­ne Mut­ter saß am Feu­er, kör­per­lich schwach und geis­tig sehr nie­der­ge­drückt, schau­te, die Au­gen voll Trä­nen, in das Feu­er und sann trü­be nach über das Schick­sal des vor der Ge­burt ver­wais­ten Kin­des, des­sen An­kunft bin­nen kur­z­em er­war­tet wur­de, und über ihre ei­ge­ne Zu­kunft.

Es war ein hel­ler, win­di­ger Herbst­nach­mit­tag, und sie saß be­trübt und nie­der­ge­schla­gen da und von ban­gen Zwei­feln er­füllt, ob sie wohl glück­lich die zu er­war­ten­de schwe­re Stun­de über­ste­hen wer­de, als sie, ihre Au­gen trock­nend, auf­blick­te und durch das ge­gen­über­lie­gen­de Fens­ter eine frem­de Dame in den Gar­ten her­ein­kom­men sah.

Beim zwei­ten Blick hat­te mei­ne Mut­ter schon die si­che­re Ah­nung, dass es Miss Betsey wäre. Die un­ter­ge­hen­de Son­ne schi­en über den Gar­ten­zaun auf die frem­de Dame, und die­se schritt auf die Türe zu mit ei­ner so un­beug­sa­men Stren­ge in Ge­sicht und Hal­tung, dass es nie­mand an­ders sein konn­te.

Als sie das Haus er­reich­te, lie­fer­te sie noch einen an­de­ren Be­weis ih­rer Iden­ti­tät. Mein Va­ter hat­te oft er­wähnt, dass sie sich sel­ten wie ein ge­wöhn­li­cher Chris­ten­mensch be­neh­me; und nun trat sie wirk­lich, an­statt die Glo­cke zu zie­hen, an das nächs­te Fens­ter und drück­te ihre Nase mit sol­cher Ener­gie ge­gen das Glas, dass die­se im Au­gen­blick ganz platt und weiß wur­de, wie mei­ne Mut­ter oft er­zähl­te.

Sie be­kam dar­über einen sol­chen Schre­cken, dass ich es mei­ner Über­zeu­gung nach nur Miss Betsey zu dan­ken habe, wenn ich an ei­nem Frei­tag zur Welt kam.

Mei­ne Mut­ter war in ih­rer Auf­re­gung auf­ge­stan­den und hin­ter den Stuhl in eine Ecke ge­tre­ten. Miss Betsey sah sich durch die Schei­ben lang­sam und for­schend im Zim­mer um, wo­bei sie am an­de­ren Ende der Stu­be an­fing, und wen­de­te au­to­ma­ten­haft wie ein Tür­ken­kopf auf ei­ner Schwarz­wäl­der­wand­uhr das Ge­sicht, bis ihre Bli­cke auf mei­ner Mut­ter haf­ten blie­ben. Dann zog sie die Brau­en zu­sam­men und wink­te wie je­mand, der zu be­feh­len ge­wohnt ist, dass man ihr die Türe auf­ma­chen sol­le. Mei­ne Mut­ter ge­horch­te.

»Mrs. Da­vid Cop­per­field ver­mut­lich«, sag­te Miss Betsey mit ei­ner Em­pha­se, die sich wahr­schein­lich auf die Trau­er­klei­der mei­ner Mut­ter und auf ih­ren Zu­stand be­zog.

»Ja«, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter schüch­tern.

»Ha­ben Sie schon von Miss Trot­wood ge­hört?« frag­te die Dame.

Mei­ne Mut­ter ent­geg­ne­te, sie habe das Ver­gnü­gen ge­habt, hat­te aber da­bei das un­an­ge­neh­me Ge­fühl, nicht da­nach aus­zu­se­hen, als ob es ein über­wäl­ti­gen­des Ver­gnü­gen ge­we­sen wäre.

»Jetzt steht sie vor Ih­nen«, sag­te Miss Betsey. Mei­ne Mut­ter ver­beug­te sich und bat die Dame, ein­zu­tre­ten.

Sie gin­gen in das Wohn­zim­mer, aus dem mei­ne Mut­ter ge­kom­men, denn das Be­such­zim­mer auf der an­de­ren Sei­te des Gan­ges war nicht ge­heizt und nicht ge­heizt ge­we­sen seit mei­nes Va­ters Lei­chen­be­gäng­nis. Als sie bei­de Platz ge­nom­men hat­ten, Miss Betsey aber nichts sprach, fing mei­ne Mut­ter, nach ei­nem ver­geb­li­chen Be­mü­hen sich zu fas­sen, zu wei­nen an.

»O still, still, still!« sag­te Miss Betsey has­tig. »Nur das nicht. Lass das, lass das!«

Mei­ne Mut­ter aber konn­te sich nicht hel­fen, und ihre Trä­nen flos­sen, bis sie sich aus­ge­weint hat­te.

»Nimm dei­ne Hau­be ab, Kind«, sag­te Miss Betsey, »da­mit ich dich se­hen kann.«

Mei­ne Mut­ter war viel zu sehr ein­ge­schüch­tert, um die­ses selt­sa­me Ver­lan­gen ab­zu­schla­gen, selbst wenn sie ge­wollt hät­te. Da­her ent­sprach sie dem Wun­sche und tat es mit so zit­tern­den Hän­den, dass ihr Haar, das sehr reich und schön war, sich lös­te und auf ihre Schul­tern her­ab­fiel.

»Gott be­wah­re!« rief Miss Betsey, »du bist ja noch ein wah­res Wi­ckel­kind.«

Al­ler­dings sah mei­ne Mut­ter selbst für ihre Jah­re noch sehr ju­gend­lich aus. Sie ließ den Kopf hän­gen, als ob es ihre Schuld wäre, und sag­te schluch­zend, dass sie auch fürch­te, sie sei ein wah­res Kind von ei­ner Wit­we und wer­de auch ein Kind von ei­ner Mut­ter sein, wenn sie am Le­ben blie­be.

In der kur­z­en Pau­se, die dar­auf folg­te, kam es ihr fast vor, als ob Miss Betsey ihr Haar be­rühr­te, und zwar nicht mit un­sanf­ter Hand; aber wie sie schüch­tern hof­fend auf­blick­te, hat­te sich die Dame mit auf­ge­schürz­tem Kleid be­reits hin­ge­setzt, die Hän­de über ein Knie ge­fal­tet, die Füße auf das Ka­min­git­ter ge­stützt, und starr­te grim­mig ins Feu­er.

»Um Got­tes­wil­len?« frag­te Miss Betsey plötz­lich. »Wa­rum ei­gent­lich Krä­hen­horst?«

»Sie mei­nen das Haus, Ma­da­me?«

»Wa­rum Krä­hen­horst?« frag­te Miss Betsey. »Hüh­ner­hof wäre pas­sen­der ge­we­sen, wenn ihr bei­de einen Be­griff vom prak­ti­schen Le­ben ge­habt hät­tet.«

»Mr. Cop­per­field hat ihm den Na­men ge­ge­ben«, er­wi­der­te mei­ne Mut­ter. »Als er das Haus kauf­te, mein­te er, es müss­te hübsch sein, wenn Krä­hen dar­in nis­ten wür­den.«

Der Abend­wind feg­te in die­sem Au­gen­blick so ge­wal­tig durch die al­ten ho­hen Ul­men im Gar­ten, dass so­wohl mei­ne Mut­ter wie Miss Betsey un­will­kür­lich hin­aus­sa­hen. Als sich die Bäu­me zu­ein­an­der neig­ten wie Rie­sen, die sich Ge­heim­nis­se zu­flüs­ter­ten, und gleich dar­auf in hef­ti­ge Be­we­gung ge­rie­ten und mit ih­ren za­cki­gen Ar­men wild in der Luft her­um­fuh­ren, als ob die­se Ge­heim­nis­se zu gräss­lich für ihre See­len­ru­he wä­ren, wur­den ein paar alte, vom Sturm zer­zaus­te Krä­hen­nes­ter auf den höchs­ten Zwei­gen wie Wracks auf stür­mi­scher See hin und her­ge­wor­fen.

»Wo sind die Vö­gel?« ver­hör­te Miss Betsey.

»Was?« Mei­ne Mut­ter hat­te an et­was an­de­res ge­dacht.

»Die Krä­hen – wo sie hin­ge­kom­men sind?«

»Es wa­ren über­haupt nie wel­che da, seit wir hier ge­lebt ha­ben«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Wir dach­ten – Mr. Cop­per­field dach­te, es sei ein großer Krä­hen­horst, aber die Nes­ter wa­ren alt und von den Vö­geln längst ver­las­sen.«

»Echt Da­vid Cop­per­field«, rief Miss Betsey. »Da­vid Cop­per­field, wie er leibt und lebt! Nennt das Haus Krä­hen­horst, wo gar kei­ne Krä­he da ist, und nimmt die Vö­gel auf gu­ten Glau­ben, weil er die Nes­ter sieht.«

»Mr. Cop­per­field ist tot«, gab mei­ne Mut­ter zur Ant­wort, »und wenn Sie sich un­ter­ste­hen, un­freund­lich über ihn zu spre­chen –«

Ich glau­be, mei­ne arme, lie­be Mut­ter hat­te einen Au­gen­blick die Ab­sicht, sich an der Tan­te tät­lich zu ver­grei­fen. Die­se hät­te sie wohl leicht mit ei­ner Hand be­zwun­gen, selbst wenn mei­ne Mut­ter in ei­ner bes­sern Ver­fas­sung für einen sol­chen Kampf ge­we­sen wäre als an die­sem Abend. Aber es blieb bei ei­nem schüch­ter­nen Auf­ste­hen. Dann setz­te sich mei­ne Mut­ter wie­der schwach nie­der und fiel in Ohn­macht.

Als sie wie­der zu sich kam, sah sie Miss Betsey am Fens­ter ste­hen. Es war mitt­ler­wei­le ganz dun­kel ge­wor­den, und so un­deut­lich sie ein­an­der un­ter­schie­den, hät­ten sie doch auch das nicht ohne den Schein des Feu­ers kön­nen.

»Nun?« frag­te Miss Betsey und trat wie­der zu dem Stuhl, als hät­te sie bloß einen Blick aus dem Fens­ter ge­wor­fen, »und wann er­war­test du –?«

»Ich zit­te­re am gan­zen Lei­be«, stam­mel­te mei­ne Mut­ter. »Ich weiß nicht, was es ist, ich st­er­be si­cher­lich.«

»Nein, nein, nein«, sag­te Miss Betsey; »trink eine Tas­se Tee!«

»Ach Gott, ach Gott, mei­nen Sie, dass mir das gut­tun wird?« rief mei­ne Mut­ter in hilflo­sem Tone.

»Selbst­ver­ständ­lich!« sag­te Miss Betsey. »Es ist al­les bloß Ein­bil­dung. Wie heißt denn das Mäd­chen?«

»Ich weiß doch nicht, ob es ein Mäd­chen sein wird, Ma­da­me«, sag­te mei­ne Mut­ter un­schulds­voll.

»Gott seg­ne die­ses Kind!« rief Miss Betsey aus, un­be­wusst den Sinn­spruch auf dem Na­del­kis­sen in der Schub­la­de des obe­ren Stocks an­füh­rend, aber nicht mit An­wen­dung auf mich, son­dern auf mei­ne Mut­ter. »Das mei­ne ich doch nicht. Ich mei­ne doch das Dienst­mäd­chen.«

»Peg­got­ty«, sag­te mei­ne Mut­ter.

»Peg­got­ty!« wie­der­hol­te Miss Betsey ent­rüs­tet. »Willst du da­mit sa­gen, Kind, dass ein mensch­li­ches Ge­schöpf in eine christ­li­che Kir­che ge­gan­gen ist und sich hat Peg­got­ty tau­fen las­sen?«

»Es ist ihr Fa­mi­li­enna­me«, sag­te mei­ne Mut­ter schüch­tern. »Mr. Cop­per­field nann­te sie so, weil ihr Tauf­na­me der­sel­be ist wie mei­ner.«

»Heda, Peg­got­ty!« rief Miss Betsey und öff­ne­te die Zim­mer­tür. »Tee! Dei­ne Herr­schaft ist ein biss­chen un­wohl, aber rasch!«

Nach­dem sie die­sen Be­fehl so ge­bie­te­risch aus­ge­spro­chen, als wäre sie von je­her Her­rin die­ses Hau­ses, und aus dem Zim­mer hin­aus­ge­späht hat­te, um nach der er­staun­ten Peg­got­ty zu se­hen, die bei dem Klang ei­ner frem­den Stim­me mit ei­nem Licht den Gang ent­lang­kam, schloss sie die Tür wie­der und setz­te sich nie­der wie zu­vor, die Füße am Ka­min­git­ter, das Kleid auf­ge­schürzt und die Hän­de über ein Knie ge­fal­tet.

»Du mein­test, es wer­de ein Mäd­chen wer­den«, sag­te Miss Betsey. »Ich zweifle kei­nen Au­gen­blick dar­an. Ich habe ein Vor­ge­fühl, dass es ein Mäd­chen wird. Nun, Kind! Von dem Mo­ment der Ge­burt die­ses Mäd­chens an –«

»Vi­el­leicht ists ein Kna­be«, er­laub­te sich mei­ne Mut­ter, sie zu un­ter­bre­chen.

»Ich sag­te dir be­reits, ich habe das Vor­ge­fühl, dass es ein Mäd­chen ist«, ent­geg­ne­te Miss Betsey. »Wi­der­sprich mir nicht im­mer. Also von dem Au­gen­blick der Ge­burt die­ses Mäd­chens an wer­de ich sei­ne Freun­din sein, Kind. Ich will sei­ne Pa­tin sein, und sie hat Betsey Trot­wood-Cop­per­field zu hei­ßen. Mit die­ser Betsey Trot­wood-Cop­per­field soll es im Le­ben glatt­ge­hen. Mit ih­ren Ge­füh­len darf nicht ge­spielt wer­den. Ar­mes Klei­nes. Sie muss gut er­zo­gen und in acht ge­nom­men wer­den, dass sie ihr Ver­trau­en nicht auf tö­rich­te Wei­se je­mand schenkt, der es nicht ver­dient. Das lass mei­ne Sor­ge sein.«

Bei je­dem die­ser Sät­ze zuck­te Miss Betsey mit dem Kopf, als ob das er­lit­te­ne Un­recht ver­gan­ge­ner Zei­ten in ihr wie­der le­ben­dig wür­de und sie einen deut­li­che­ren Hin­weis dar­auf nur mit Über­win­dung un­ter­drück­te. So ver­mu­te­te we­nigs­tens mei­ne Mut­ter, als sie sie beim schwa­chen Schim­mer des Feu­ers be­ob­ach­te­te, aber zu sehr von ih­rem We­sen er­schreckt war und in­ner­lich viel zu un­ru­hig und zu ver­wirrt, um über­haupt ir­gen­det­was klar be­ob­ach­ten zu kön­nen.

»Und war Da­vid gut ge­gen dich, Kind?« frag­te Miss Betsey, nach­dem sie eine Wei­le ge­schwie­gen und die Be­we­gung ih­res Kopfs all­mäh­lich auf­ge­hört hat­te. »Habt ihr euch gut ver­tra­gen?«

»Wir wa­ren sehr glück­lich«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Mr. Cop­per­field war viel zu gut zu mir.«

»Er hat dich also ver­zo­gen?«

»Al­lein und ver­las­sen zu sein und ohne Stüt­ze in die­ser rau­en Welt da­zu­ste­hen«, schluchz­te mei­ne Mut­ter, »dazu hat er mich wohl nicht er­zo­gen.«

»Gut. Wei­ne nicht«, sag­te Miss Betsey. »Ihr pass­tet eben nicht zu­sam­men, Kind, – zwei Men­schen kön­nen über­haupt nicht zu­sam­men­pas­sen – des­halb frag­te ich. Du warst eine Wai­se, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Gou­ver­nan­te?«

»Ich war Bon­ne in ei­ner Fa­mi­lie, die Mr. Cop­per­field häu­fig be­such­te. Mr. Cop­per­field war sehr freund­lich und auf­merk­sam ge­gen mich und mach­te mir zu­letzt einen Hei­rats­an­trag. Und ich sag­te ja. Und so wur­den wir Mann und Frau«, sag­te mei­ne Mut­ter ein­fach.