David Copperfield

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Nach ei­ner Wei­le klin­gel­te sie.

»Ja­net«, sag­te sie, als das Mäd­chen her­ein­kam. »Geh hin­auf, emp­fiehl mich Mr. Dick und sage ihm, ich möch­te ihn ger­ne spre­chen.«

Ja­net mach­te er­staun­te Au­gen, als sie mich ganz steif auf dem Sofa lie­gen sah, denn ich ge­trau­te mich nicht, eine Be­we­gung zu ma­chen, um nicht mei­ne Tan­te zu er­zür­nen, – und ging dann hin­aus, um ih­ren Auf­trag aus­zu­füh­ren. Mei­ne Tan­te mar­schier­te, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab, bis der Herr, der mich aus dem obe­ren Fens­ter an­ge­zwin­kert hat­te, la­chend her­ein­trat.

»Mr. Dick«, sag­te mei­ne Tan­te, »sei­en Sie jetzt kein Narr. Nie­mand kann ge­schei­ter sein als Sie, wenn Sie wol­len. Also bit­te, nur so ver­nünf­tig wie mög­lich!«

Der Gent­le­man mach­te so­gleich ein erns­tes Ge­sicht und sah mich an, als woll­te er mich bit­ten, nur ja nichts von der Sze­ne vor­hin am Fens­ter zu ver­ra­ten.

»Mr. Dick«, fuhr mei­ne Tan­te fort, »Sie ha­ben mich ein­mal Da­vid Cop­per­field er­wäh­nen hö­ren. Tun Sie jetzt nicht, als ob Sie kein Ge­dächt­nis hät­ten, denn Sie und ich wis­sen das bes­ser.«

»Da­vid Cop­per­field«, sag­te Mr. Dick, der sich mei­ner trotz­dem nicht zu er­in­nern schi­en, »Da­vi­d Cop­per­field? Ach ja, rich­tig. Da­vid. Stimmt.«

»Also«, sag­te mei­ne Tan­te, »dies ist sein Sohn. Er wäre sei­nem Va­ter so ähn­lich wie mög­lich, wenn er nicht sei­ner Mut­ter so gli­che.«

»Sein Sohn«, sag­te Mr. Dick, »Da­vids Sohn? Wirk­lich?«

»Ja«, fuhr mei­ne Tan­te fort, »er hat hüb­sche Sa­chen an­ge­stellt. Er ist da­von­ge­lau­fen. Ach, sei­ne Schwes­ter, Betsey Trot­wood, wäre nie da­von­ge­lau­fen.«

Mei­ne Tan­te schüt­tel­te mit Ent­schie­den­heit den Kopf voll Ver­trau­en auf den Cha­rak­ter und das Be­tra­gen des Mäd­chens, das nie ge­bo­ren wor­den war.

»O Sie glau­ben, sie wäre nie da­von­ge­lau­fen?« sag­te Mr. Dick.

»Ach Gott, der Mann!« rief mei­ne Tan­te är­ger­lich. »Was er wie­der re­det. Ich weiß doch, dass sie es nie ge­tan ha­ben wür­de, sie wür­de mit ih­rer Pa­tin bei­sam­men ge­we­sen sein, und wir hät­ten ein­an­der sehr lieb ge­habt. Von wo, zum Kuckuck, hät­te sei­ne Schwes­ter, Betsey Trot­wood, fort­lau­fen sol­len und wo­hin denn?«

»Nir­gends«, sag­te Mr. Dick.

»No also«, er­wi­der­te mei­ne Tan­te, durch die Ant­wort be­sänf­tigt.

»Wie kön­nen Sie so zer­streut sein, Dick, wo Ihr Ver­stand so scharf ist wie die Lan­zet­te ei­nes Chir­ur­gen. Jetzt se­hen Sie hier den jun­gen Da­vid Cop­per­field, und die Fra­ge, die ich Ih­nen vor­le­ge, ist, was soll ich mit ihm an­fan­gen?«

»Was Sie mit ihm an­fan­gen sol­len«, frag­te Mr. Dick ver­le­gen und kratz­te sich hin­ter den Ohren. »An­fan­gen sol­len?«

»Ja«, sag­te mei­ne Tan­te mit ei­nem erns­ten Blick und den Zei­ge­fin­ger in die Höhe hal­tend. »Ich brau­che einen ver­nünf­ti­gen Rat.«

»Hm, wie wäre es«, sag­te Mr. Dick nach­denk­lich und mich mit lee­rem Blick an­se­hend, »ich wür­de –« mein An­blick schi­en ihm plötz­lich einen Ge­dan­ken ein­zu­flö­ßen – und er er­gänz­te rasch: »ich wür­de ihn wa­schen.«

»Ja­net«, sag­te mei­ne Tan­te und dreh­te sich mit ei­nem stil­len Tri­umph, den ich da­mals noch nicht ver­stand, um: »Mr. Dick hat im­mer recht. Hei­ze das Bad.«

Ob­gleich ich das größ­te In­ter­es­se an dem Ge­spräch hat­te, konn­te ich mich doch nicht ent­hal­ten, wäh­rend des­sel­ben mei­ne Tan­te, Mr. Dick und Ja­net ge­nau zu be­ob­ach­ten und mich im Zim­mer um­zu­se­hen.

Mei­ne Tan­te war eine große Dame mit stren­gen Zü­gen, aber durch­aus nicht bös aus­se­hend. Es lag eine Un­beug­sam­keit in ih­rem Ge­sicht, in ih­rer Stim­me, ih­rem An­zug und in ih­rer Hal­tung, dass ich mir den Ein­druck er­klä­ren konn­te, den sie auf ein so sanf­tes Ge­schöpf, wie mei­ne Mut­ter ge­we­sen, ge­macht hat­te. Aber ihre Züge schie­nen eher hübsch als häss­lich, wenn auch hart und streng; be­son­ders fiel mir ihr leb­haf­tes blit­zen­des Auge auf. Ihr Haar, schon ziem­lich er­graut, war un­ter ei­ner un­ter dem Kinn zu­ge­bund­nen Art Nacht­müt­ze in zwei glei­che Tei­le ge­teilt. Ihr Kleid, la­ven­del­far­big und äu­ßerst sau­ber, war knapp ge­schnit­ten, als wünsch­te sie so we­nig wie mög­lich von ihm be­hin­dert zu sein. Es schi­en mir ei­gent­lich ein Reit­kleid zu sein, von dem man die Schlep­pe ab­ge­schnit­ten hat­te. Sie trug an der Sei­te eine gold­ne Her­ren­uhr, nach Form und Grö­ße zu schlie­ßen und der Ket­te und den Sie­geln dar­an, um den Hals einen Lei­nen­strei­fen wie einen Hemd­kra­gen und an den Hand­ge­len­ken Din­ger wie Man­schet­ten.

Mr. Dick hat­te grau­es Haar und ein blü­hen­des Ge­sicht, wie be­reits er­wähnt. Den Kopf trug er son­der­bar ge­beugt, aber nicht we­gen des Al­ters, und sei­ne großen Au­gen stan­den weit her­vor und hat­ten einen ei­gen­tüm­li­chen wäs­se­ri­gen Glanz, was mich zu­sam­men mit sei­nem zer­streu­ten We­sen, sei­ner Un­ter­wür­fig­keit ge­gen mei­ne Tan­te und sei­ner kin­di­schen Freu­de, wenn sie ihn lob­te, auf den Ge­dan­ken brach­te, er müs­se ein we­nig ver­rückt sein, ob­gleich ich mir dann nicht er­klä­ren konn­te, wie er hier­her kam. Er war wie ein schlich­ter Gent­le­man mit wei­tem grau­em Mor­gen­rock, Wes­te und wei­ßen Ho­sen be­klei­det, trug sei­ne Uhr und sein Geld lose in der Ta­sche und klim­per­te da­mit, als ob er sehr stolz dar­auf wäre.

Ja­net, ein hüb­sches fri­sches Mäd­chen, etwa neun­zehn oder zwan­zig Jah­re alt, schi­en ein wah­res Mus­ter von Net­tig­keit zu sein. Spä­ter er­fuhr ich, dass sie eine aus der Rei­he der weib­li­chen Schütz­lin­ge war, die mei­ne Tan­te nach und nach mit der Ab­sicht in Dienst ge­nom­men, Män­ner­fein­din­nen aus ih­nen zu ma­chen, die aber am Schluss ge­wöhn­lich Bä­cker ge­hei­ra­tet hat­ten.

Das Zim­mer sah eben­so sau­ber aus wie Ja­net und mei­ne Tan­te. Wenn ich nur einen Au­gen­blick dar­an den­ke, rie­che ich wie­der die See­luft, ver­mischt mit dem Duf­te der Blu­men, sehe die alt­mo­di­schen und glän­zend po­lier­ten Mö­bel mei­ner Tan­te, ih­ren ge­weih­ten Tisch und Stuhl, den großen run­den Schirm im Bo­gen­fens­ter ste­hen, den mit Läu­fern be­deck­ten Tep­pich, die Kat­ze, den Kes­sel­stän­der, die zwei Ka­na­ri­en­vö­gel, die Punsch­bow­le, ge­füllt mit trock­nen Ro­sen­blät­tern, den ho­hen Schrank mit sei­nen Fla­schen und Töp­fen und wun­der­voll ge­gen al­les ab­ste­chend mein stau­bi­ges Ich auf dem Sofa.

Ja­net war fort­ge­gan­gen, um das Bad zu hei­zen, als zu mei­nem größ­ten Schre­cken mei­ne Tan­te plötz­lich ganz starr vor Ent­rüs­tung wur­de und nach Luft schnap­pend auf­schrie:

»Ja­net! Esel!«

So­fort kam Ja­net die Trep­pe her­auf­ge­sprun­gen, als ob das Haus in Flam­men stün­de, stürz­te auf einen klei­nen Ra­sen­fleck vor dem Haus hin­aus und ver­scheuch­te zwei von Da­men ge­rit­te­ne Esel, die ge­wagt hat­ten, ihre Hufe auf den Ra­sen zu set­zen, wäh­rend mei­ne Tan­te ihr auf dem Fuß folg­te, den Zaum ei­nes drit­ten Esels, auf dem ein Kind saß, er­griff, das Tier um­dreh­te, es zur Sei­te zog und dem un­glück­li­chen Jun­gen, der den Esel ge­führt und die hei­li­ge Stel­le zu ent­wei­hen sich un­ter­stan­den hat­te, eins hin­ter die Ohren gab. Bis heu­te weiß ich nicht, ob mei­ne Tan­te ein Recht auf die­sen Ra­sen­fle­cken be­saß, aber je­den­falls hat­te sie es sich in den Kopf ge­setzt, und das ge­nüg­te ihr. Es war in ih­ren Au­gen eine große Un­tat, die nach be­stän­di­ger Ahn­dung ver­lang­te, wenn ein Esel die­sen jung­fräu­li­chen Fleck be­trat. Moch­te sie in wel­cher Be­schäf­ti­gung im­mer be­grif­fen und die Un­ter­hal­tung noch so in­ter­essant sein, der An­blick ei­nes Esels gab dem Gang ih­rer Ge­dan­ken so­fort eine an­de­re Rich­tung und un­ver­züg­lich stürz­te sie auf ihn los. Krü­ge voll Was­ser und Töp­fe stan­den an ge­hei­men Plät­zen be­reit, um die Füh­rer der Esel zu be­gie­ßen, Stö­cke lau­er­ten hin­ter den Tü­ren, Aus­fäl­le wur­den zu al­len Stun­den ge­macht und un­un­ter­bro­chen wü­te­te der Krieg. Vi­el­leicht war al­les das eine an­ge­neh­me Un­ter­hal­tung für die Jun­gen, und wahr­schein­lich mach­te es den Klü­gern un­ter den Eseln, die die Sa­che durch­schau­ten, in der ih­nen eig­nen Hart­nä­ckig­keit eine be­son­de­re Freu­de, ge­ra­de des­halb die­sen Weg zu be­tre­ten.

Drei­mal, ehe das Bad fer­tig war, wur­de Lärm ge­schla­gen und beim letz­ten und ver­zwei­felts­ten ge­riet mei­ne Tan­te in ein Ge­fecht mit ei­nem fünf­zehn­jäh­ri­gen Bur­schen mit sand­gel­bem Haar, den sie mit dem Kopf an die Gar­ten­tür sto­ßen muss­te, ehe er zu be­grei­fen schi­en, worum es sich han­del­te. Die­se Un­ter­bre­chun­gen ka­men mir umso lä­cher­li­cher vor, als sie mir ge­ra­de Fleisch­brü­he ein­flö­ßte, – sie hat­te sich of­fen­bar ein­ge­re­det, ich stün­de dicht vor dem Hun­ger­to­de und dürf­te an­fangs nur in klei­nen Quan­ti­tä­ten Nah­rung zu mir neh­men. In Er­war­tung des Löf­fels hielt ich noch den Mund of­fen, da leg­te sie das Be­steck auf den Tel­ler, rief: »Ja­net! Esel!« und eil­te hin­aus zum Kamp­fe.

Das Bad war eine wah­re Er­qui­ckung für mich. Das Schla­fen im Frei­en hat­te mir Glie­der­schmer­zen ge­macht, und ich fühl­te mich so matt, dass ich kaum fünf Mi­nu­ten hin­ter­ein­an­der wach blei­ben konn­te. Als ich mich ge­ba­det, zog ich, das heißt, sie zo­gen mir – näm­lich mei­ne Tan­te und Ja­net – ein Hemd und ein Paar Ho­sen Mr. Dicks an und wi­ckel­ten mich in zwei oder drei große Schals. Ich sah wie ein Pa­ket aus und es war mir schreck­lich heiß. Da mich über­dies ein Ge­fühl von Mat­tig­keit und Schläf­rig­keit über­wäl­tig­te, schlum­mer­te ich bald auf dem Sofa ein. Vi­el­leicht träum­te ich wie­der von dem Bil­de; ich er­wach­te mit der Vor­stel­lung, dass mei­ne Tan­te sich über mich ge­beugt, mir das Haar aus dem Ge­sicht ge­stri­chen, mei­nen Kopf be­que­mer ge­legt und mich dann lan­ge be­trach­tet hät­te. Die Wor­te »hüb­scher Jun­ge« oder »ar­mer Jun­ge« schie­nen mir auch noch in den Ohren zu klin­gen, aber sonst war bei mei­nem Er­wa­chen nichts da, das mich hät­te glau­ben ma­chen kön­nen, mei­ne Tan­te hät­te ge­spro­chen, denn sie saß un­be­weg­lich am Bo­gen­fens­ter und blick­te hin­ter dem grü­nen Schirm her­vor aufs Meer hin­aus. Wir aßen, bald nach­dem ich er­wacht war, zu Mit­tag. Ein ge­bra­te­nes Huhn und ein Pud­ding ka­men auf den Tisch; ich selbst sah auch aus wie ein tran­chier­ter Vo­gel und konn­te mei­ne Arme nur mit großer Schwie­rig­keit be­we­gen. Aber da mei­ne Tan­te mich selbst ein­ge­wi­ckelt hat­te, durf­te ich mich doch nicht be­kla­gen! Die gan­ze Zeit über lag es mir sehr am Her­zen, zu er­fah­ren, was sie mit mir an­zu­fan­gen ge­den­ke. Aber sie nahm ihre Mahl­zeit in tiefs­tem Schwei­gen ein, nur manch­mal sah sie mich an und rief aus »Gott er­bar­me sich un­ser!« Und das war gar nicht ge­eig­net, mei­ne Be­sorg­nis­se zu ver­scheu­chen.

 

Nach­dem das Tisch­tuch ent­fernt war, kam Sher­ry, und ich er­hielt auch ein Glas. Mei­ne Tan­te schick­te wie­der nach Mr. Dick, der uns dann Ge­sell­schaft leis­te­te und so klug dreinsah, wie er nur konn­te, als sie ihn auf­for­der­te, mei­ner Ge­schich­te zu­zu­hö­ren, die sie durch eine Rei­he von Fra­gen aus mir her­aus­lock­te. Wäh­rend mei­ner Er­zäh­lung wand­te sie kein Auge von Mr. Dick, der, wie ich glau­be, sonst ein­ge­schla­fen wäre. Wenn er sich ver­lei­ten ließ, zu lä­cheln, wies ihn ein Stirn­run­zeln mei­ner Tan­te in sei­ne Schran­ken zu­rück.

»Was nur dem ar­men un­glück­li­chen Baby ein­ge­fal­len sein muss, dass sie noch ein­mal hei­ra­te­te«, sag­te mei­ne Tan­te, als ich fer­tig war. »Ich kann es nicht be­grei­fen.«

»Vi­el­leicht hat sie sich in ih­ren zwei­ten Mann ver­liebt«, mein­te Mr. Dick.

»Ver­liebt?« wie­der­hol­te mei­ne Tan­te. »Was re­den Sie da? Zu wel­chem Zweck?«

»Vi­el­leicht«, sim­pel­te Mr. Dick, nach­dem er ein we­nig nach­ge­dacht, »viel­leicht tat sie es zu ih­rem Ver­gnü­gen.«

»Zu ih­rem Ver­gnü­gen! Na­tür­lich! Ein Mords­ver­gnü­gen für das arme Baby, ihr schlich­tes Herz ei­nem Schwei­ne­hund zu schen­ken, der sie in je­der Art ent­täusch­te. Was hat sie sich ei­gent­lich da­bei ge­dacht, möch­te ich gern wis­sen? Sie hat­te doch schon einen Mann ge­habt, hat­te Da­vid Cop­per­field be­gra­ben, der von Kind­heit an Wach­s­pup­pen nach­lief, be­saß ein Kind – was brauch­te sie mehr?«

Mr. Dick schüt­tel­te ge­heim­nis­voll den Kopf, als kön­ne er sich über die­sen Punkt nicht klar­wer­den.

»Sie brach­te es nicht ein­mal fer­tig, ein Kind zu krie­gen wie an­de­re Leu­te«, sag­te mei­ne Tan­te. »Wo ist die­ses Kin­des Schwes­ter Betsey Trot­wood ge­blie­ben? Kam ein­fach nicht! Re­den Sie nichts!«

Mr. Dick schi­en ganz er­schro­cken zu sein.

»Der klei­ne Dok­tor mit dem seit­wärts ge­neig­ten Kopf, Jel­lips oder wie er sonst hieß, wozu war er denn da? Er konn­te nichts, als wie ein Rot­kehl­chen, das er üb­ri­gens ist, sa­gen: ’s ist ein Kna­be. Ein Kna­be! Ha, über die Dumm­heit die­ses gan­zen Ge­schlechts!«

Über die Hef­tig­keit die­ses Aus­rufs er­schrak Mr. Dick au­ßer­or­dent­lich und, wenn ich die Wahr­heit sa­gen soll, ich eben­falls.

»Und dann, noch nicht ge­nug da­mit, und als ob sie die­ses Kin­des Schwes­ter Betsey Trot­wood noch nicht ge­nü­gend im Licht ge­stan­den hät­te«, sag­te mei­ne Tan­te, »hei­ra­tet sie zum zwei­ten Mal, geht hin und hei­ra­tet einen Mör­der – oder so et­was der­glei­chen – und steht die­sem Kind auch noch im Licht. Die na­tür­li­che Fol­ge ist, was je­der, bloß ein Baby nicht, hät­te vor­aus­se­hen kön­nen, dass der Jun­ge her­um­va­ga­bun­diert. Er ist, noch be­vor er auf­wächst, ei­nem Kain so ähn­lich wie mög­lich.«

Mr. Dick sah mich hart an.

»Und dann ist das Frau­en­zim­mer mit dem heid­nischen Na­men da«, sag­te mei­ne Tan­te, »die muss na­tür­lich auch hei­ra­ten. Weil sie noch nicht ge­nug von dem Un­glück ge­se­hen hat, das bei so et­was her­aus­kom­men muss. Sie hei­ra­tet auch, wie das Kind er­zählt. Ich hof­fe bloß, mei­ne Tan­te schüt­tel­te den Kopf, – dass ihr Gat­te ei­ner von der Prü­gel­sor­te ist, von de­nen man im­mer in der Zei­tung liest, und sie or­dent­lich ver­haut.«

Das konn­te ich von mei­ner al­ten Kinds­frau nicht mit an­hö­ren und ver­si­cher­te mei­ner Tan­te, dass sie sich be­stimmt irre, Peg­got­ty sei die bes­te, treues­te, hin­ge­hends­te und auf­op­fernds­te Freun­din und Die­ne­rin von der Welt. Ich sag­te, dass sie im­mer mich und mei­ne Mut­ter von Her­zen ge­liebt, – mei­ner Mut­ter ster­ben­des Haupt ge­stützt habe, und dass mei­ne Mut­ter ih­ren letz­ten dank­ba­ren Kuss auf ihr Ge­sicht drück­te. Und da mich die Erin­ne­rung an die bei­den so sehr er­schüt­ter­te, konn­te ich nicht aus­re­den und er­zäh­len, wie Peg­got­tys Haus auch mein Haus sei, dass al­les, was sie be­sä­ße, mein sei, und dass ich nur mit Rück­sicht auf ihre be­schei­de­ne Stel­lung und aus Furcht, ihr Un­ge­le­gen­hei­ten zu ma­chen, nicht bei ihr Schutz ge­sucht habe. Trä­nen er­stick­ten mei­ne Stim­me, und ich leg­te mein Ge­sicht auf den Tisch.

»Schon gut, schon gut«, sag­te mei­ne Tan­te, »das Kind hat ganz recht, wenn es zu de­nen hält, die ihm bei­ge­stan­den ha­ben. – Ja­net! Esel!«

Ich bin über­zeugt, ohne das Da­zwi­schen­tre­ten die­ser un­glück­se­li­gen Esel wä­ren wir jetzt zu ei­ner Auss­pra­che ge­kom­men, denn mei­ne Tan­te hat­te mir die Hand auf die Schul­tern ge­legt, und ich war eben im Be­grif­fe, da­durch er­mu­tigt, sie zu um­ar­men und ih­ren Schutz an­zu­fle­hen. Aber die Un­ter­bre­chung und die Auf­re­gung, in die sie durch den Kampf drau­ßen ge­riet, mach­ten vor­der­hand al­len sanf­te­ren Ge­füh­len ein Ende und ver­an­lass­ten mei­ne Tan­te, sich in höchs­ter Ent­rüs­tung ge­gen Mr. Dick über ih­ren Ent­schluss aus­zu­las­sen, bei den Lan­des­ge­set­zen Hil­fe zu su­chen und sämt­li­che Esels­ei­gen­tü­mer von Do­ver zu ver­kla­gen.

Nach dem Tee setz­ten wir uns ans Fens­ter, – wie ich aus dem ge­spann­ten Ge­sicht mei­ner Tan­te schloss – um auf neue Ein­dring­lin­ge zu lau­ern. Dann als es dämm­rig wur­de, brach­te Ja­net Lich­ter und ein Poch­brett und ließ die Vor­hän­ge her­un­ter.

»Jetzt, Mr. Dick«, sag­te mei­ne Tan­te mit erns­tem Blick und em­por­ge­ho­be­nem Zei­ge­fin­ger, »will ich Ih­nen eine an­de­re Fra­ge vor­le­gen. Se­hen Sie das Kind an.«

»Da­vids Sohn?« frag­te Mr. Dick mit auf­merk­sa­mem und be­stürz­tem Ge­sicht.

»Ganz rich­tig«, ent­geg­ne­te mei­ne Tan­te, »Da­vids Sohn. Was wür­den Sie jetzt mit ihm ma­chen?«

»Mit Da­vids Sohn ma­chen?« frag­te Mr. Dick.

»Ja«, er­wi­der­te mei­ne Tan­te, »mit Da­vids Sohn.«

»O«, sag­te Mr. Dick. »Ja. Mit ihm ma­chen – ich wür­de ihn zu Bett brin­gen.«

»Ja­net!« rief mei­ne Tan­te mit der­sel­ben tri­um­phie­ren­den Mie­ne, die ich schon ein­mal an ihr ent­deckt hat­te. »Mr. Dick rät uns im­mer das bes­te. Wenn das Bett fer­tig ist, wol­len wir Da­vid hin­auf­brin­gen.« Auf Ja­nets Äu­ße­rung, dass al­les be­reit sei, wur­de ich hin­auf­ge­führt, freund­lich, aber wie eine Art Ge­fan­ge­ner. Mei­ne Tan­te ging vor­aus, und Ja­net be­schloss den Zug.

Der ein­zi­ge Um­stand, der mir Hoff­nung ein­flö­ßte, war, dass Ja­net auf die Fra­ge mei­ner Tan­te, wo­her plötz­lich so ein bran­di­ger Ge­ruch kom­me, ant­wor­te­te, sie habe un­ten in der Kü­che aus mei­nem Hemd Zun­der ge­brannt. Über­dies la­gen in mei­nem Zim­mer sonst kei­ne Klei­der au­ßer den ver­rück­ten Sa­chen, in die man mich ein­ge­wi­ckelt hat­te. Als man mich mit ei­ner klei­nen Ker­ze, die, wie mir mei­ne Tan­te sag­te, ge­nau fünf Mi­nu­ten bren­nen wür­de und nicht län­ger, al­lein ge­las­sen, hör­te ich, wie sie drau­ßen die Türe zu­schlos­sen. Ich dach­te dar­über nach und kam zu dem Schluss, dass mei­ne Tan­te mich wahr­schein­lich im Ver­dacht hat­te, es sei eine üble Ge­wohn­heit von mir, da­von­zu­lau­fen, und da­ge­gen Vor­keh­run­gen traf.

Das Zim­mer, au­ßer­or­dent­lich freund­lich, lag oben im Hau­se mit der Aus­sicht auf das Meer hin­aus, auf das der Mond jetzt glän­zend schi­en. Ich sag­te mein Nacht­ge­bet her und blieb, als die Ker­ze aus­ge­brannt war, noch sit­zen und blick­te auf das mond­be­schie­ne­ne Was­ser hin, als könn­te ich dar­in mein Schick­sal le­sen oder mei­ne Mut­ter mit ih­rem Kind auf den Licht­strah­len vom Him­mel her­ab­stei­gen und mich mit ih­rem lieb­li­chen Ant­litz, wie einst, an­bli­cken se­hen.

Das fei­er­li­che Ge­fühl wich all­mäh­lich ei­ner Emp­fin­dung der Dank­bar­keit und der Ruhe, die mir der An­blick des weiß­ver­han­ge­nen Bet­tes und viel­mehr noch die Rast in dem wei­ßen Pfühl mit den schnee­wei­ßen Lei­nen ein­flö­ßte. Ich er­in­ne­re mich, dass ich an alle die ein­sa­men Orte dach­te, wo ich un­ter dem Nacht­him­mel ge­schla­fen, und be­te­te, Gott möge mich nie wie­der ob­dach­los wer­den und nie der Ob­dach­lo­sen ver­ges­sen las­sen. Ich er­in­ne­re mich, wie ich dann auf dem sil­ber­nen Däm­mer­schim­mer des Mond­lich­tes in die Welt der Träu­me hin­über­g­litt.

14. Kapitel – Meine Tante kommt zu einem Entschluss über mich

Als ich früh her­un­ter­kam, saß mei­ne Tan­te in so tie­fem Sin­nen am Früh­stücks­tisch, die Ell­bo­gen auf das Tee­brett ge­stützt, dass sie gar nicht be­merk­te, dass der Tee­kes­sel über­ge­lau­fen war und das gan­ze Tisch­tuch un­ter Was­ser ge­setzt hat­te. Bei mei­nem Er­schei­nen kam sie wie­der zu sich. Über­zeugt, dass sie mei­net­we­gen nach­ge­dacht habe, wünsch­te ich nichts sehn­li­cher, als zu wis­sen, was sie mit mir vor­hat­te. Doch ich wag­te nicht zu fra­gen, aus Angst, sie zu be­lei­di­gen.

Mei­ne Au­gen je­doch, die ich nicht so im Zau­me hal­ten konn­te wie mei­ne Zun­ge, fühl­ten sich wäh­rend des Früh­stücks sehr oft zu mei­ner Tan­te hin­ge­zo­gen. Ich konn­te sie kaum ein paar Au­gen­bli­cke hin­ter­ein­an­der an­se­hen, ohne dass sie mich nicht eben­falls an­blick­te, und zwar in ei­ner selt­sa­men nach­denk­li­chen Art, als ob ich in un­end­lich wei­ter Fer­ne säße und nicht an der an­de­ren Sei­te des klei­nen run­den Ti­sches.

Als sie mit dem Früh­stück fer­tig war, lehn­te sie sich sehr ge­dan­ken­voll in ih­ren Stuhl zu­rück, zog die Brau­en zu­sam­men, ver­schränk­te die Arme und be­trach­te­te mich mit so un­abläs­si­ger Auf­merk­sam­keit, dass ich vor Ver­le­gen­heit mir gar nicht mehr zu hel­fen wuss­te. Ich war mit mei­nem Früh­stück noch nicht zu Ende und ver­such­te, durch Es­sen mei­ne Ver­le­gen­heit zu ver­ber­gen. Aber mein Mes­ser stol­per­te über die Ga­bel, die Ga­bel warf das Mes­ser um, ich schnell­te ein Stück­chen Schin­ken in über­ra­schen­de Höhe in die Luft em­por, an­statt es zu­recht­zu­schnei­den, und der Tee kam mir so oft in die un­rech­te Keh­le, dass ich es zu­letzt ganz auf­gab und er­rö­tend still saß und mich mus­tern ließ.

»Hal­lo!« sag­te mei­ne Tan­te nach ei­ner lan­gen Zeit.

Ich blick­te auf und be­geg­ne­te mit ehr­er­bie­ti­ger Mie­ne ih­ren schar­fen glän­zen­den Au­gen.

»Ich habe an ihn ge­schrie­ben«, sag­te mei­ne Tan­te.

»An –?«

»An dei­nen Stief­va­ter«, sag­te mei­ne Tan­te. »Ich habe ihm einen Brief ge­schrie­ben, er möge hier­her­kom­men, oder er be­käme es mit mir zu tun.«

»Weiß er, wo ich bin, Tan­te?« frag­te ich sehr be­un­ru­higt.

»Ich habe es ihm ge­schrie­ben«, nick­te mei­ne Tan­te.

»Wird er – soll er – nimmt er mich wie­der mit?« stot­ter­te ich.

»Ich weiß nicht, was er tun wird«, sag­te mei­ne Tan­te. »Wir wer­den se­hen.«

»Ach, ich darf gar nicht dar­an den­ken!« rief ich aus. »Ich weiß nicht, was ich an­fan­gen soll, wenn ich wie­der zu Mr. Murd­sto­ne zu­rück­keh­ren muss.«

»Ich auch nicht«, sag­te mei­ne Tan­te und schüt­tel­te den Kopf. »Ich weiß es auch nicht. Wir wer­den se­hen.«

All mein Mut ver­ließ mich bei die­sen Wor­ten, und ich wur­de ganz nie­der­ge­schla­gen und schwe­ren Her­zens. Ohne an­schei­nend dar­auf zu ach­ten, band sich mei­ne Tan­te ein große Schür­ze vor, die sie aus dem Schrank nahm, wusch die Tee­tas­sen ei­gen­hän­dig aus, stell­te sie dann auf das Tee­brett, fal­te­te das Tisch­tuch zu­sam­men und klin­gel­te Ja­net. Dann zog sie ein paar Hand­schu­he an, kehr­te mit ei­nem klei­nen Be­sen die letz­ten Kru­men weg, bis auch kein mi­kro­sko­pi­sches Fleck­chen mehr auf dem Tisch zu se­hen war, staub­te ab und ord­ne­te das Zim­mer auf das sorg­fäl­tigs­te. Als al­les zu ih­rer Zufrie­den­heit er­le­digt schi­en, leg­te sie Hand­schu­he und Schür­ze wie­der ab, fal­te­te sie zu­sam­men, leg­te sie an ih­ren Platz im Schran­ke, stell­te ihr Ar­beits­körb­chen auf den Tisch am off­nen Fens­ter und setz­te sich nie­der, den grü­nen Schirm zwi­schen sich und das Licht ge­rückt.

 

»Du könn­test hin­auf­ge­hen«, sag­te sie, als sie dann ihre Na­del ein­fä­del­te, »mich Mr. Dick emp­feh­len und ihn fra­gen, wie er mit sei­ner Denk­schrift vor­wärts­kommt.«

Ich sprang auf, um den Auf­trag aus­zu­füh­ren.

»Ich ver­mu­te«, sag­te mei­ne Tan­te und sah mich so scharf an wie vor­hin die Na­del beim Ein­fä­deln, »du denkst dir, Mr. Dick ist ein sehr kur­z­er Name.«

»Er kam mir ges­tern abends ein we­nig kurz vor«, ge­stand ich.

»Du brauchst nicht zu glau­ben, dass er kei­nen län­gern zur Ver­fü­gung hät­te, wenn er woll­te«, sag­te mei­ne Tan­te, mit ei­ner groß­ar­ti­gen Ges­te. »Ba­bley – Mr. Richard Ba­bley – ist die­ses Gent­le­mans wirk­li­cher Name.«

Ich woll­te im Be­wusst­sein mei­ner Ju­gend, und um die Re­spekt­lo­sig­keit, de­ren ich mich schul­dig ge­macht zu ha­ben glaub­te, wie­der gut zu ma­chen, eben be­schei­den be­mer­ken, dass ich Mr. Dick von jetzt an sei­nen vol­len Na­men wol­le zu­kom­men las­sen, als mei­ne Tan­te fort­fuhr:

»Aber nen­ne ihn bei Lei­be nicht so! Er kann den Na­men nicht aus­ste­hen. Das ist eine sei­ner Ei­gen­hei­ten. Es ist bei Licht be­trach­tet viel­leicht nichts Son­der­ba­res da­bei! Ver­wand­te, die den­sel­ben Na­men tra­gen, ha­ben ihn schlecht be­han­delt, so­dass sein töd­li­cher Wi­der­wil­le wohl ge­recht­fer­tigt er­scheint. Also nimm dich in acht, Kind, dass du ihn nicht an­ders als Mr. Dick nennst.«

Ich ver­sprach es und ging mit mei­ner Bot­schaft hin­auf. Un­ter­wegs dach­te ich, Mr. Dick müss­te wohl mit sei­ner Denk­schrift gut vor­wärts­kom­men, wenn er im­mer so eif­rig an ihr ar­bei­te­te, wie ich es heu­te früh beim Vor­bei­ge­hen durch die off­ne Tür ge­se­hen.

Bei mei­nem Ein­tritt schrieb er im­mer noch höchst eif­rig, und sein Kopf lag fast auf dem Pa­pier. Er war so in sei­ne Ar­beit ver­tieft, dass ich Zeit ge­nug hat­te, mir einen großen Pa­pier­dra­chen in ei­ner Ecke, eine Men­ge be­schrie­be­nes Pa­pier in Bün­deln und vor al­lem die in Dut­zen­den her­um­ste­hen­den di­cken Tin­tenkrü­ge an­zu­se­hen, ehe er mei­ner ge­wahr wur­de.

»Ha! Phö­bus!« sag­te er dann, die Fe­der weg­le­gend. »Wie gehts in der Welt?«

»Ich will dir was sa­gen«, setz­te er lei­ser hin­zu, »aber du musst es für dich be­hal­ten«, – er wink­te mir und leg­te sei­ne Lip­pen dicht an mein Ohr – »es ist eine ver­rück­te Welt, ver­rückt wie ein Ir­ren­haus, mein Sohn!« Dann nahm er eine Pri­se aus ei­ner großen run­den Ta­baks­do­se, die auf dem Ti­sche stand, und lach­te herz­lich.

Ohne mir eine Mei­nungs­äu­ße­rung zu er­lau­ben, rich­te­te ich mei­nen Auf­trag aus.

»Gut«, ant­wor­te­te Mr. Dick. »Bit­te, eben­falls mei­ne Emp­feh­lun­gen, und ich – ich hät­te einen tüch­ti­gen An­satz ge­macht!« Er fuhr mit der Hand durch sein grau­es Haar und warf einen kei­nes­wegs zu­ver­sicht­li­chen Blick auf sein Ma­nu­skript.

»Hast du die Schu­le be­sucht?«

»Ja, Sir«, er­wi­der­te ich, »kur­ze Zeit.«

»Kannst du dich an das Da­tum er­in­nern«, frag­te Mr. Dick, sah mich ernst an und nahm eine Fe­der, um mei­ne Ant­wort auf­zu­schrei­ben, »wann Kö­nig Karl I. ent­haup­tet wur­de?«

Ich sag­te, ich glaub­te, es sei das Jahr 1649 ge­we­sen.

»Hm«, ent­geg­ne­te Mr. Dick, in­dem er sich mit der Fe­der hin­ter dem Ohre kratz­te und mich voll Zwei­fel an­sah. »Das sa­gen die Bü­cher, aber ich sehe nicht ein, wie das stim­men kann. Wenn das so lan­ge her ist, warum ha­ben da die Leu­te das Ver­se­hen be­gan­gen, ein paar Sor­gen aus sei­nem Kopf, nach­dem sie ihm ihn ab­ge­schnit­ten, in mei­nen zu ste­cken?«

Ich war sehr ver­blüfft durch die­se Fra­ge, konn­te aber kei­ne Ant­wort fin­den.

»Es ist sehr sehr selt­sam«, mein­te Mr. Dick mit ei­nem ver­zag­ten Blick auf sei­ne Pa­pie­re und sich wie­der mit der Hand durch die Haa­re fah­rend, »dass ich nie da­mit ins rei­ne kom­men kann! – Aber scha­det nichts, scha­det nichts«, sag­te er ver­gnügt und wie­der Mut fas­send. »Ich habe ja Zeit ge­nug. Mei­ne Emp­feh­lun­gen an Miss Trot­wood und ich käme recht gut vor­wärts.«

Ich woll­te hin­aus­ge­hen, als er mei­ne Auf­merk­sam­keit auf den Dra­chen lenk­te.

»Was sagst du zu die­sem Dra­chen?« frag­te er.

Ich ant­wor­te­te, er sei sehr schön. Man soll­te mei­nen, er müss­te sie­ben Fuß hoch sein.

»Ich habe ihn selbst ge­macht, wir wol­len ihn mal zu­sam­men stei­gen las­sen. Schau ein­mal her.«

Er zeig­te mir, dass der Dra­che über und über be­schrie­ben war, und zwar so deut­lich, – wenn auch in kleins­ter Schrift – dass ich beim Über­flie­gen der Zei­len an ein paar Stel­len An­spie­lun­gen auf Kö­nig Karls des Ers­ten Kopfs zu le­sen glaub­te.

»Die Schnur ist sehr lang«, sag­te Mr. Dick, »und wenn er hoch fliegt, nimmt er die Tat­sa­chen weit fort. Das ist so mei­ne Art, sie zu ver­brei­ten. Ich weiß nicht, wo sie nie­der­fal­len, – das hängt von den Um­stän­den und vom Win­de ab –, aber ich tref­fe mei­ne Vor­keh­run­gen da­nach.«

Sein ge­sun­des und fri­sches Ge­sicht war so sanft und freund­lich und hat­te et­was so Ehr­wür­di­ges an sich, dass ich ver­mu­te­te, er trei­be einen fröh­li­chen Scherz mit mir. Da­her lach­te ich, und er lach­te auch, und wir schie­den als die bes­ten Freun­de.

»Nun, Kind«, frag­te mei­ne Tan­te, als ich die Trep­pen her­un­ter­kam, »was ists mit Mr. Dick heu­te Mor­gen?«

Ich rich­te­te ihr aus, dass er sich emp­feh­len las­se und recht gute Fort­schrit­te ma­che.

»Was hältst du von ihm?« forsch­te mei­ne Tan­te.

Ich woll­te der Fra­ge da­durch aus­wei­chen, dass ich sag­te, er sei ein sehr ge­win­nen­der Gent­le­man. Aber mei­ne Tan­te ließ sich nicht so leicht ab­fer­ti­gen; sie leg­te ihre Ar­beit in den Schoß, ver­schränk­te die Arme und sag­te:

»Schau! Dei­ne Schwes­ter Betsey Trot­wood wür­de mir ohne Aus­flüch­te ge­sagt ha­ben, was sie denkt. Sei doch dei­ner Schwes­ter ähn­lich und sprich ganz of­fen!«

»Ist er – ist Mr. Dick – ich fra­ge, weil ich es nicht wis­sen kann, Tan­te, – ist er nicht recht bei Sin­nen?« stot­ter­te ich, denn ich fühl­te, dass ich mich auf ei­nem ge­fähr­li­chen Ge­biet be­weg­te.

»O durch­aus nicht«, sag­te mei­ne Tan­te.

»O wirk­lich«, be­merk­te ich schüch­tern.

»Wenn es ir­gend­je­mand in der Welt nicht ist«, sag­te mei­ne Tan­te mit großer Ent­schie­den­heit, »so ist es Mr. Dick.«

Ich wuss­te nichts Bes­se­res zu er­wi­dern als aber­mals ein schüch­ter­nes »O wirk­lich.«

»Man hat wohl be­haup­tet, er sei ver­rückt«, sag­te mei­ne Tan­te. »Mir macht es ein be­son­de­res Ver­gnü­gen, dass das ge­sche­hen ist, denn ich hät­te sonst nicht die Freu­de sei­ner Ge­sell­schaft und sei­nes Ra­tes ge­nos­sen seit den letz­ten zehn Jah­ren, oder so. Kurz, seit dei­ne Schwes­ter Betsey Trot­wood mich im Sti­che ge­las­sen hat.«

»So lan­ge schon«, sag­te ich.

»Und net­te Leu­te wa­ren es, die die Frech­heit be­ses­sen ha­ben, ihn für ver­rückt zu er­klä­ren«, fuhr mei­ne Tan­te fort. »Mr. Dick ist eine Art ent­fern­ter Ver­wand­ter von mir; es ist gleich­gül­tig, in wel­chem Gra­de. Wäre ich nicht da­zwi­schen­ge­tre­ten, so hät­te ihn sein eig­ner Bru­der zeit­le­bens ein­ge­sperrt. So steht die Sa­che.«

Ich fürch­te, es war heuch­le­risch von mir, dass ich ein teil­neh­men­des Ge­sicht mach­te, aber ich tat es, weil mei­ner Tan­te die Sa­che of­fen­bar sehr zu Her­zen ging.

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