David Copperfield

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9. Kapitel – Ein denkwürdiger Geburtstag

Ich über­ge­he al­les, was sich in der Schu­le ab­spiel­te bis zu mei­nem Ge­burts­tag im März. Au­ßer dass Steer­forth noch be­wun­de­rungs­wür­di­ger war als je, ist mir nichts im Ge­dächt­nis ge­blie­ben. Er soll­te am Ende des Se­mes­ters aus­tre­ten und kam mir leb­haf­ter und selbst­stän­di­ger vor als je, und da­her noch ge­win­nen­der. Sonst weiß ich nichts mehr. Das große Er­eig­nis, das die­se Zeit für mich aus­zeich­net, scheint alle klei­nen Erin­ne­run­gen ver­schlun­gen zu ha­ben und al­lein üb­rig­ge­blie­ben zu sein. Wie klar ich mich an den Tag er­in­ne­re! Ich rie­che den Ne­bel, der das Haus um­dun­kelt, sehe die Ge­gen­stän­de drau­ßen wie ge­spens­ti­ge Schat­ten hin­durch­schim­mern, ich füh­le mein be­reif­tes Haar sich kalt und feucht an mei­ne Wan­ge kle­ben, ich bli­cke in die däm­mer­haf­te Per­spek­ti­ve der Schul­stu­be hin­ab, wo hie und da ein fla­ckern­des Licht das trü­be Zwie­licht er­leuch­tet und der Atem der Schü­ler sich damp­fend in die kal­te Luft er­hebt, wenn sie sich auf die Fin­ger bla­sen, mit den Fü­ßen auf dem Flur stamp­fend.

Wir wa­ren nach dem Früh­stück eben vom Spiel­platz her­ein­ge­kom­men, als Mr. Sharp ein­trat und sag­te:

»Da­vid Cop­per­field soll zum Di­rek­tor kom­men.«

Ich er­war­te­te ein Ge­burts­tags­ge­schenk von Peg­got­ty, und mein Ge­sicht hei­ter­te sich auf.

Ei­ni­ge Jun­gen um mich her­um mahn­ten mich, ih­rer bei der Ver­tei­lung der gu­ten Din­ge nicht zu ver­ges­sen, als ich sehr ver­gnügt von mei­nem Plat­ze auf­sprang.

»Eil dich nicht, Da­vid«, sag­te Mr. Sharp. »Du hast Zeit ge­nug, mein Kind. Eil dich nicht.«

Der war­me Ton, mit dem er sprach, hät­te mir auf­fal­len müs­sen, aber ich ach­te­te nicht dar­auf.

Ich eil­te in das Wohn­zim­mer und sah dort Mr. Cre­akle beim Früh­stück sit­zen, Rohr­stock und eine Zei­tung ne­ben sich. Er hielt einen off­nen Brief in der Hand. Ein Ge­burts­tags­korb war nicht da.

»Da­vid Cop­per­field«, sag­te Mrs. Cre­akle und führ­te mich zum Sofa und setz­te sich ne­ben mich. »Ich habe et­was Be­son­de­res mit dir zu re­den. Ich habe dir et­was mit­zu­tei­len, mein Kind.«

Mr. Cre­akle, zu dem ich na­tür­lich hin­schiel­te, schüt­tel­te nur den Kopf, ohne mich an­zu­se­hen, und ver­schluck­te einen Seuf­zer mit ei­nem großen Stück But­ter­brot.

»Du bist noch zu jung, um zu wis­sen, wie die Welt sich mit je­dem Tag ver­än­dert«, sag­te Mrs. Cre­akle, »und wie die Men­schen da­hin­ge­hen, aber wir alle müs­sen dar­an glau­ben, Da­vid, man­che von uns in der Ju­gend, man­che im Al­ter. Man­che ha­ben es das gan­ze Le­ben vor Au­gen.«

Ich sah sie mit Span­nung an.

»Be­fan­den sich alle wohl, als du nach den Fe­ri­en von zu Hau­se weg­reis­test?« frag­te Mrs. Cre­akle nach ei­ner Pau­se. »War dei­ne Mama wohl?«

Ich zit­ter­te, ohne recht zu wis­sen warum, sah sie im­mer noch mit großem Ernst an, konn­te aber nicht ant­wor­ten. Sie fuhr fort:

»Weil ich dir zu mei­nem größ­ten Kum­mer sa­gen muss, dass dei­ne Mut­ter sehr krank ist, wie ich heu­te Mor­gen er­fuhr.«

Ein Ne­bel bil­de­te sich zwi­schen Mrs. Cre­akle und mir, und ihre Ge­stalt schi­en einen Au­gen­blick zu schwan­ken. Dann stürz­ten mir die bren­nen­den Trä­nen aus den Au­gen und ich sah sie wie­der deut­lich ne­ben mir sit­zen.

»Sie ist sehr ge­fähr­lich krank.«

Jetzt wuss­te ich al­les.

»Sie ist ge­stor­ben.«

Sie hät­te es nicht aus­zu­spre­chen brau­chen. Ich hat­te be­reits einen ver­zwei­fel­ten Schmer­zens­schrei aus­ge­sto­ßen und be­griff, dass ich eine Wai­se war in der wei­ten Welt.

Mrs. Cre­akle be­nahm sich sehr gü­tig zu mir.

Sie be­hielt mich den gan­zen Tag bei sich im Zim­mer und ließ mich nur manch­mal al­lein. Und ich wein­te, bis ich vor Er­schöp­fung ein­sch­lief, und wach­te auf und jam­mer­te wie­der. Als ich nicht mehr wei­nen konn­te, fing ich an zu grü­beln. Da wur­de mir die Brust noch en­ger und mein Gram schwoll zu ei­nem dump­fen Schmerz an, für den es kei­ne Lin­de­rung gab.

Und doch flat­ter­ten mei­ne Ge­dan­ken her­um und blie­ben nicht fest an dem Un­glück haf­ten, das mich nie­der­drück­te. Ich dach­te an un­ser Haus, wie es nun ver­schlos­sen und öde wäre. Ich dach­te an das klei­ne Kind­chen, das, wie Mrs. Cre­akle sag­te, seit ei­ni­ger Zeit hin­siech­te und, wie man fürch­te, wohl auch ster­ben wür­de. Ich dach­te an mei­nes Va­ters Grab auf dem Kirch­hof ne­ben un­serm Hau­se, und dass mei­ne Mut­ter jetzt auch bald un­ter dem mir so be­kann­ten Bau­me ru­hen wer­de. Ich stell­te mich auf den Stuhl, als man mich al­lein ge­las­sen, und blick­te in den Spie­gel, um zu se­hen, wie rot mei­ne Au­gen und be­küm­mert mei­ne Züge sei­en. Ich frag­te mich nach ei­ni­gen Stun­den, ob mei­ne Trä­nen wirk­lich ver­siegt wä­ren, wie es der Fall zu sein schi­en. Das schmerz­te mich au­ßer mei­nem Ver­lust am meis­ten, wenn ich an das Nach­hau­se­ge­hen dach­te; – soll­te ich doch dem Lei­chen­be­gräb­nis bei­woh­nen.

Dann hat­te ich die Emp­fin­dung, als ob mich et­was vor den üb­ri­gen Kna­ben aus­zeich­ne, und dass ich in mei­ner Be­trüb­nis eine wich­ti­ge Per­son sei.

Wenn je­mals ein Kind einen auf­rich­ti­gen Schmerz fühl­te, so war ich es, aber ich er­in­ne­re mich, dass die­se Wich­tig­keit mir eine Art Trost ge­währ­te, als ich nach­mit­tags wäh­rend der Schul­stun­den al­lein auf dem Spiel­platz her­um­ging. Wenn die Schü­ler aus dem Fens­ter nach mir her­un­ter­blick­ten, fühl­te ich mich aus­ge­zeich­net und sah noch gram­voller drein und ging lang­sa­mer. Als die Schu­le aus war und sie her­aus­ka­men und mich an­re­de­ten, rech­ne­te ich es mir wie Güte an, dass ich mich nicht stolz ge­gen sie be­nahm und sie alle eben­so sehr be­ach­te­te wie frü­her.

Ich soll­te am nächs­ten Abend nach Hau­se fah­ren, aber nicht mit der Nacht­post, son­dern mit der ge­wöhn­li­chen Post­kut­sche, die man den Land­wa­gen nann­te, weil sie meist von Bau­ern be­nutzt wur­de, die nur kur­ze Stre­cken reis­ten. Das Ge­schich­ten­er­zäh­len un­ter­blieb für die­sen Abend, und Tradd­les be­stand dar­auf, mir sein Kis­sen zu lei­hen. Ich be­griff nicht, was es mir hel­fen soll­te. Aber der arme Kerl hat­te sonst nichts her­zu­ge­ben, au­ßer einen Bo­gen Pa­pier voll Ge­rip­pen, den er mir zum Ab­schied als Trös­ter für mei­nen Schmerz und zum Wie­der­her­stel­len mei­nes See­len­frie­dens schenk­te.

Ich ver­ließ Sa­lem­haus nach­mit­tags und ahn­te nicht, dass ich nicht wie­der zu­rück­keh­ren soll­te. Wir fuh­ren die gan­ze Nacht hin­durch sehr lang­sam und er­reich­ten Yar­mouth erst um zehn Uhr mor­gens. Ich schau­te nach Mr. Bar­kis aus, aber er war nicht da, und an sei­ner Stel­le er­schi­en am Kut­schen­fens­ter ein di­cker, kurz­at­mi­ger, fröh­lich aus­se­hen­der klei­ner al­ter Mann in schwar­zem An­zug, mit fa­den­schei­ni­gen schwar­zen Schlei­fen an den Knie­ho­sen und ei­nem breit­krem­pi­gen Hut und sag­te:

»Mas­ter Cop­per­field?«

»Ja, Sir.«

»Wenn Sie mit mir kom­men wol­len, jun­ger Herr«, und er öff­ne­te die Tür, »so wer­de ich das Ver­gnü­gen ha­ben, Sie heim­zu­brin­gen.«

Ich gab ihm mei­ne Hand und hät­te gern ge­wusst, wer er wäre. Dann gin­gen wir in einen La­den in ei­ner en­gen Gas­se, über dem ge­schrie­ben stand: Omer, Tuch­händ­ler, Schnei­der, Hut­ma­cher, Lei­chen­be­sor­ger usw. Es war ein klei­ner, dump­fer La­den, voll von fer­ti­gen und halb­fer­ti­gen Klei­dern al­ler Art; am Fens­ter hin­gen Filz­hü­te und Müt­zen. Wir tra­ten in ein klei­nes Stüb­chen hin­ten, wo drei jun­ge Mäd­chen eine große Men­ge schwar­zen Stof­fes ver­ar­bei­te­ten, der über den gan­zen Tisch aus­ge­brei­tet war, wäh­rend klei­ne Schnit­zel da­von auf dem gan­zen Fuß­bo­den ver­streut la­gen. Es brann­te ein star­kes Feu­er im Ofen und ein er­sti­cken­der Ge­ruch von war­mem schwar­zem Krepp er­füll­te die Luft.

Die drei Mäd­chen, die sehr mun­ter und flei­ßig zu sein schie­nen, ho­ben einen Au­gen­blick ihre Köp­fe und näh­ten dann wei­ter. Gleich­zei­tig tön­te aus ei­nem Ar­beits­schup­pen auf ei­nem klei­nen Hof vor dem Fens­ter ein takt­mä­ßi­ges Häm­mern her­ein: rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat, – ohne Un­ter­bre­chung.

»Nun«, sag­te mein Füh­rer zu ei­nem der drei Mäd­chen. »Wie weit bist du, Min­nie?«

»Wir wer­den schon recht­zei­tig zum An­pro­bie­ren fer­tig sein«, ant­wor­te­te die Ge­frag­te mun­ter, ohne auf­zu­bli­cken. »Hab kei­ne Angst, Va­ter.«

Mr. Omer nahm den breit­krem­pi­gen Hut ab, setz­te sich nie­der und keuch­te. Er war so dick, dass er ei­ni­ge Zeit brauch­te, ehe er sa­gen konn­te: »Da bin ich froh.«

»Va­ter«, sag­te Min­nie lus­tig, »du wirst dick wie eine Rob­be.«

»Ich weiß auch nicht, wies kommt, aber es ist so.«

»Du bist zu be­quem, da siehst dus. Du nimmst die Din­ge zu leicht.«

»Es hat kei­nen Zweck, sie an­ders zu neh­men, mein Herz«, mein­te Mr. Omer.

»Nein, wahr­haf­tig nicht«, gab sei­ne Toch­ter zur Ant­wort. »Wir sind alle fröh­lich hier, Gott sei Dank, nicht wahr, Va­ter?«

»Hof­fent­lich, mein Kind. Da ich jetzt wie­der Luft ge­kriegt habe, will ich die­sem jun­gen Ge­lehr­ten Maß neh­men. Wol­len Sie so gut sein und mit mir in den La­den kom­men, Mas­ter Cop­per­field?«

Ich ging vor Mr. Omer her; nach­dem er mir ein Stück Tuch ge­zeigt hat­te, das, wie er sag­te, ex­tra su­per­fein sei und für al­les an­de­re als für Trau­er um El­tern zu fein wäre, nahm er mir Maß und schrieb es in ein Buch.

Wäh­rend er die Zah­len no­tier­te, wies er auf sein Wa­ren­la­ger und auf ge­wis­se Mo­den, die eben »auf­ge­kom­men« und an­de­re, die wie­der »ab­ge­kom­men« wa­ren.

 

»Und da­bei ver­lie­ren wir oft viel Geld«, sag­te er. »Die Mo­den sind wie die Men­schen, sie kom­men und ge­hen und nie­mand weiß, wann, warum und wie­so. Mei­ner Mei­nung nach ist al­les wie das Le­ben, wenn man es von die­sem Ge­sichts­punkt aus be­trach­tet.«

Mir war viel zu kum­mer­voll zu­mu­te, als dass ich mich auf das Ge­spräch, das wohl auch un­ter an­de­ren Um­stän­den über mein Be­griffs­ver­mö­gen ge­gan­gen wäre, hät­te ein­las­sen kön­nen. Mr. Omer führ­te mich wie­der keu­chend zu­rück in die Stu­be. Dann rief er eine klei­ne Trep­pe hin­ab: »Bringt den Tee her­auf und But­ter­brot«, was nach ei­ni­ger Zeit, wäh­rend­des­sen ich mich um­ge­schaut und nach­ge­grü­belt, dem Nä­hen in der Stu­be zu­ge­se­hen und dem Häm­mern im Hof drau­ßen zu­ge­hört hat­te, auf ei­nem Prä­sen­tier­brett er­schi­en und für mich be­stimmt war.

»Ich ken­ne Sie schon lan­ge, mein jun­ger Freund«, sag­te Mr. Omer, wäh­rend er mir beim Früh­stück zu­sah, von dem ich nur we­nig ge­nie­ßen konn­te, weil mir die schwar­ze Um­ge­bung je­den Ap­pe­tit be­nahm.

»Wirk­lich, Sir?«

»Seit Sie auf der Welt sind, fast noch län­ger. Ich kann­te doch Ihren Va­ter. Er war fünf Fuß neun­ein­halb Zoll hoch und liegt fünf­und­zwan­zig Fuß tief in der Erde.«

»Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat«, klang es drau­ßen im Hofe.

»Er liegt fünf­und­zwan­zig Fuß in der Erde«, sag­te Mr. Omer auf­ge­räumt. »Ent­we­der auf sein oder auf ihr Ver­lan­gen, ich weiß es nicht mehr ge­nau.«

»Wis­sen Sie, was mein klei­ner Bru­der macht, Sir?« frag­te ich.

Mr. Omer schüt­tel­te den Kopf.

Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat.

»Er liegt in sei­ner Mut­ter Ar­men«, sag­te er end­lich.

»Ach ar­mer, klei­ner Jun­ge, ist er tot?«

»Grä­men Sie sich nicht mehr, als Sie müs­sen«, sag­te Mr. Omer. »Das Kind ist tot.«

Mei­ne Wun­de brach von Neu­em auf. Ich schob das kaum be­rühr­te Früh­stück zu­rück, stand auf und leg­te den Kopf auf den an­de­ren Tisch in ei­ner Ecke des klei­nen Zim­mers. Min­nie räum­te has­tig auf, da­mit ich die Trau­er­sa­chen nicht mit mei­nen Trä­nen be­net­ze. Sie schi­en ein hüb­sches, gut­her­zi­ges Mäd­chen zu sein und strich mir mit sanf­ter freund­li­cher Hand das Haar aus dem Ge­sicht, aber sehr hei­ter, weil sie fast mit ih­rer Ar­beit fer­tig war, und so ganz an­ders als ich.

Jetzt hör­te das Häm­mern auf, und ein jun­ger, hüb­scher Bur­sche kam über den Hof ins Zim­mer. Er hat­te einen Ham­mer in der Hand und den Mund voll klei­ner Nä­gel, die er her­aus­neh­men muss­te, ehe er re­den konn­te.

»Nun, Joram«, sag­te Mr. Omer, »bist du auch fer­tig?«

»All­right«, sag­te Joram, »fer­tig, Sir.«

Min­nie wur­de ein we­nig rot, und die an­de­ren bei­den Mäd­chen lä­chel­ten.

»Du hast also ges­tern bei Licht ge­ar­bei­tet, was? Als ich im Klub war, nicht wahr?« frag­te Mr. Omer und kniff ein Auge zu.

»Ja«, nick­te Joram. »Da Sie sag­ten, wir woll­ten einen klei­nen Aus­flug ma­chen und zu­sam­men hin­über­fah­ren, wenn wir fer­tig wür­den, Min­nie und ich und Sie –«

»So! Ich dach­te schon, du woll­test mich ganz weg­las­sen«, sag­te Mr. Omer und lach­te, bis er hus­ten muss­te.

»– da Sie so gut wa­ren, das zu fra­gen«, fuhr der jun­ge Mann fort, »hab ich mich eben or­dent­lich dazu ge­hal­ten. Wol­len Sie sichs ein­mal an­se­hen?«

»Ja«, sag­te Mr. Omer und stand auf. »Mas­ter«, und er wand­te sich an mich. »Wol­len Sie viel­leicht Ih­rer –«

»Nein, Va­ter«, un­ter­brach ihn Min­nie.

»Ich dach­te, es wäre ihm an­ge­nehm«, sag­te Mr. Omer, »aber du hast ganz recht, mein Schatz.«

Ich weiß nicht, wie­so ich er­riet, dass er sich mei­ner lie­ben Mut­ter Sarg an­se­hen woll­te. Ich hat­te noch nie einen zim­mern hö­ren, aber ich be­griff lang­sam, was das Häm­mern von vor­hin be­deu­te­te; und als der jun­ge Mann wie­der ein­trat, wuss­te ich ganz be­stimmt, wor­an er ge­ar­bei­tet hat­te.

Da die Ar­beit jetzt fer­tig war, bürs­te­ten die bei­den an­de­ren Mäd­chen die Schnit­zel und Fä­den von ih­ren Klei­dern und gin­gen in den La­den hin­aus, um auf­zuräu­men und auf Kun­den zu war­ten.

Min­nie blieb zu­rück, um die fer­tig ge­w­ord­ne Ar­beit zu­sam­men­zu­fal­ten und in zwei Kör­be zu pa­cken. Sie knie­te da­bei und summ­te ein mun­te­res Lied. Joram, in dem ich ohne Mühe ih­ren Ge­lieb­ten er­kann­te, kam her­ein und raub­te ihr einen Kuss und sag­te, ihr Va­ter sei nach dem Wa­gen ge­gan­gen und er müs­se sich auch rei­se­fer­tig ma­chen. Dann ging er wie­der hin­aus, und sie steck­te einen Fin­ger­hut und eine Sche­re in die Ta­sche und eine Na­del mit schwar­zem Zwirn in ih­ren Brust­latz und mach­te sich dann schön vor ei­nem klei­nen Spie­gel hin­ter der Tür, in dem ich ein fröh­li­ches Ge­sicht se­hen konn­te.

Al­les dies be­merk­te ich, wäh­rend ich an dem Tisch in ei­ner Ecke saß, den Kopf in die Hand ge­stützt, im Geis­te ganz an­ders­wo. Der Wa­gen fuhr bald vor, und nach­dem man zu­erst die Kör­be und dann mich hin­ein­ge­ho­ben, stie­gen die drei an­de­ren ein. Ich er­in­ne­re mich, es war halb ein Korb- halb ein Mö­bel­wa­gen, dun­kel an­ge­stri­chen und von ei­nem Rap­pen mit lan­gem Schweif ge­zo­gen.

Ich glau­be, ich habe nie­mals eine so selt­sa­me Emp­fin­dung ge­habt, wie auf die­ser Fahrt, wenn ich mir vor Au­gen hielt, wor­an sie ge­ar­bei­tet hat­ten und wie sie sich jetzt über die Rei­se freu­ten. Ich heg­te kei­nen Groll ge­gen sie, scheu­te mich vor ih­nen wie vor We­sen, die kei­ne Ge­mein­schaft mit mir hat­ten. Sie wa­ren alle bes­ter Lau­ne. Der Alte saß auf dem Kutsch­bock, und die bei­den jun­gen Leu­te sa­ßen hin­ter ihm, und wenn er et­was sag­te, beug­ten sie sich links und rechts von sei­nem paus­bä­cki­gen Ge­sicht vor und küm­mer­ten sich sehr um ihn. Sie wür­den wohl auch mit mir ge­spro­chen ha­ben, wenn ich mich nicht scheu in eine Ecke zu­rück­ge­zo­gen hät­te, ganz ent­setzt über ihre Lie­be­lei und ihre Fröh­lich­keit, die zwar nicht lär­mend war, mich aber doch in eine Art Stau­nen ver­setz­te, dass der Him­mel kei­ne Stra­fe für ihre Her­zens­här­te her­ab­sand­te. Wenn sie an­hiel­ten, um das Pferd zu füt­tern, und selbst aßen und tran­ken und sich ver­gnüg­ten, konn­te ich nichts an­rüh­ren und blieb nüch­tern.

Als wir un­ser Haus er­reich­ten, schlüpf­te ich so schnell wie mög­lich hin­ten aus dem Wa­gen, um nicht in ih­rer Ge­sell­schaft vor die­se ge­weih­ten Fens­ter tre­ten zu müs­sen, die mich an­blick­ten wie ge­schlos­se­ne Au­gen, die einst hell ge­glänzt. Ach, wie we­nig Ur­sa­che hat­te ich zu sor­gen, dass ich kei­ne Trä­nen mehr ha­ben wür­de, als ich die Fens­ter mei­ner Mut­ter sah und hin­ter ih­nen das Zim­mer, das in bes­sern Zei­ten auch das mei­ne ge­we­sen war!

Ich lag in Peg­got­tys Ar­men, ehe ich noch zur Tür kam, und sie brach­te mich in das Haus. Ihr Schmerz brach hef­tig aus, als sie mich er­blick­te, aber bald be­zwang sie sich und sprach flüs­ternd und ging auf den Ze­hen, wie um die Tote nicht zu stö­ren.

Sie war seit lan­gem nicht ins Bett ge­kom­men. Sie wach­te jetzt noch jede Nacht. So­lan­ge ihr ar­mer, sü­ßer Lieb­ling über der Erde weil­te, sag­te sie, woll­te sie ihn nicht ver­las­sen.

Mr. Murd­sto­ne nahm kei­ne No­tiz von mir, als ich in die Wohn­stu­be trat. Er saß in sei­nem Lehn­stuhl ne­ben dem Ka­min und wein­te still vor sich hin. Miss Murd­sto­ne, die em­sig an dem mit Brie­fen und Pa­pie­ren be­deck­ten Ti­sche schrieb, reich­te mir ihre ei­si­gen Fin­ger­nä­gel und frag­te mich mit kal­tem Flüs­tern, ob mir die Trau­er­klei­der an­ge­mes­sen wor­den wä­ren.

Ich sag­te: »Ja.«

»Und hast du dei­ne Wä­sche mit­ge­bracht?«

»Ja, Ma’am. Ich habe alle mei­ne Klei­der mit­ge­nom­men.«

Das war der gan­ze Trost, den sie mir in ih­rer Fes­tig­keit spen­de­te. Ich glau­be, dass sie ein be­son­de­res Ver­gnü­gen dar­an fand, ihre so­ge­nann­te Selbst­be­herr­schung, Fes­tig­keit und Cha­rak­ter­stär­ke und das gan­ze üb­ri­ge höl­li­sche Re­per­toir ih­rer un­lie­bens­wür­di­gen Ei­gen­schaf­ten bei die­ser Ge­le­gen­heit zu of­fen­ba­ren. Be­son­ders stolz schi­en sie auf ihre Ge­schäfts­kennt­nis zu sein und be­wies sie, in­dem sie al­les zu Pa­pier brach­te und sich von nichts rüh­ren ließ. Den gan­zen Tag und noch den nächs­ten Mor­gen bis zum Abend saß sie an die­sem Schreib­ti­sche, kratz­te un­be­irrt mit ei­ner har­ten Fe­der, sprach zu je­der­mann mit dem glei­chen teil­nahms­lo­sen Ge­flüs­ter, und kein Mus­kel ih­res Ge­sichts und kein Ton ih­rer Stim­me mil­der­te sich einen Au­gen­blick.

Ihr Bru­der nahm manch­mal ein Buch vor, aber las nicht dar­in. Eine gan­ze Stun­de lang wen­de­te er kein Blatt um, leg­te es dann wie­der hin und ging im Zim­mer auf und ab. Ich saß meist da mit ge­fal­te­ten Hän­den, be­ob­ach­te­te ihn stun­den­lang und zähl­te sei­ne Schrit­te. Er sprach sehr sel­ten mit sei­ner Schwes­ter und nie mit mir. Er schi­en au­ßer den Uhren das ein­zig ru­he­lo­se We­sen in dem gan­zen to­ten­stil­len Haus zu sein.

In die­sen Ta­gen vor dem Be­gräb­nis be­kam ich Peg­got­ty nur sel­ten zu Ge­sicht. Bloß wenn ich die Trep­pe hin­auf- und hin­un­ter­ging, fand ich sie im­mer in un­mit­tel­ba­rer Nähe des Zim­mers, wo mei­ne Mut­ter und ihr Kind la­gen. Und je­den Abend kam sie an mein Bett und blieb bei mir, bis ich ein­sch­lief. Ein oder zwei Tage vor dem Lei­chen­be­gräb­nis nahm sie mich mit in das Zim­mer. Ich er­in­ne­re mich nur noch, dass un­ter ei­nem wei­ßen La­ken auf dem Bett, das wun­der­voll rein und frisch aus­sah, die Ver­kör­pe­rung der fei­er­li­chen Stil­le, die im Hau­se herrsch­te, zu lie­gen schi­en, und dass ich, als sie das Tuch sanft weg­zie­hen woll­te, schrie: »nein, nein«, und ihre Hand zu­rück­hielt.

Wenn das Be­gräb­nis ges­tern ge­we­sen wäre, könn­te ich mich sei­ner nicht bes­ser er­in­nern. Das Aus­se­hen des Be­suchs­zim­mers, als ich hin­ein­trat, der hel­le Schein des Feu­ers, der glän­zen­de Wein in den Kar­af­fen, die Mus­ter der Glä­ser und Tel­ler, der schwa­che, süße Duft der Ku­chen, der Ge­ruch von Miss Murd­sto­nes Kleid und un­sern Trau­er­klei­dern, al­les steht wie­der vor mir.

Mr. Chil­lip ist an­we­send und spricht mich an.

»Und wie geht’s denn Mas­ter Da­vid?« fragt er freund­lich.

Ich kann ihm doch nicht sa­gen, gut! Ich gebe ihm mei­ne Hand und er hält sie fest.

»Mein Gott«, und er lä­chelt schüch­tern, und et­was glänzt in sei­nen Au­gen, »un­se­re klei­nen Freun­de wach­sen in die Höhe um uns her. Wir ver­lie­ren sie fast aus den Au­gen, Ma’am.« Das sagt er zu Miss Murd­sto­ne, be­kommt aber kei­ne Ant­wort. »Wir ha­ben große Fort­schrit­te ge­macht, Ma’am!«

Miss Murd­sto­ne ant­wor­tet mit ei­nem Stirn­run­zeln und ei­nem stei­fen Knix. Mr. Chil­lip geht ver­schüch­tert in eine Ecke und zieht mich zu sich und tut den Mund nicht mehr auf.

Ich be­mer­ke das, weil ich al­les be­mer­ke, was ge­schieht. Nicht weil ich mei­net­we­gen acht gebe, oder es seit mei­ner An­kunft ge­tan hät­te. Und jetzt fängt die To­ten­glo­cke zu läu­ten an und Mr. Omer und ein an­de­rer Mann kom­men und ord­nen uns. Wie mir Peg­got­ty vor lan­ger Zeit er­zählt hat, ha­ben sich die Leid­tra­gen­den, die schon mei­nem Va­ter zum Gra­be folg­ten, in dem­sel­ben Zim­mer ge­ord­net.

Der Lei­chen­zug be­steht aus Mr. Murd­sto­ne, Mr. Gray­per, Mr. Chil­lip und mir. Wie wir zur Tür her­austre­ten, sind die Trä­ger mit ih­rer Bür­de schon im Gar­ten und schrei­ten vor uns her den Steig ent­lang an den Ul­men vor­bei und durch das Gar­ten­tor zum Fried­hof, wo ich so man­chen Som­mer­mor­gen die Vö­gel habe sin­gen hö­ren.

Wir ste­hen um das Grab her­um. Der Tag scheint mir an­ders als je­der an­de­re Tag und das Licht hat sei­ne Far­be ver­lo­ren. Dann herrscht die fei­er­li­che Stil­le, die wir her­aus­ge­tra­gen ha­ben mit dem, was jetzt in der Erde ruht. Wir ste­hen ent­blö­ßten Haup­tes da, und ich höre die Stim­me des Geist­li­chen hier im Frei­en, so fern und doch so deut­lich klin­gen: »Ich bin die Au­fer­ste­hung und das Le­ben, spricht der Herr.« Dann höre ich schluch­zen; ich ste­he ge­son­dert von den üb­ri­gen und sehe die gute und treue Die­ne­rin, die ich von al­len Men­schen auf Er­den am meis­ten lie­be, und zu der, wie mein kind­li­ches Herz fest über­zeugt ist, der Herr ei­nes Ta­ges sa­gen wird: »Du hast wohl­ge­tan.«

Es sind vie­le be­kann­te Ge­sich­ter da in der klei­nen Men­ge, die ich von der Kir­che her ken­ne, Ge­sich­ter, die mei­ne Mut­ter noch kann­ten, als sie in ih­rer Ju­gend­blü­te in das Dorf ge­kom­men war. Ich küm­me­re mich nicht um sie, ich küm­me­re mich nur um mei­nen Schmerz und doch sehe ich sie und ken­ne sie alle und sehe selbst weit im Hin­ter­grund Min­nie zu­schau­en und auf ih­ren Schatz bli­cken, der in mei­ner Nähe steht.

 

Es ist vor­bei, und das Grab ist zu­ge­schüt­tet, und wir wen­den uns wie­der heim­wärts. Vor uns steht un­ser Haus, so schmuck und un­ver­än­dert, so fest ver­knüpft in mei­ner See­le mit dem Ju­gend­bild de­rer, die nicht mehr ist. All mein Schmerz ist nichts ge­gen den, den ich jetzt füh­le. Aber sie füh­ren mich fort, und Mr. Chil­lip re­det mir zu, und wie wir da­heim sind, be­netzt er mei­ne Lip­pen mit Was­ser, und als ich ihn um Er­laub­nis bit­te, auf mein Zim­mer ge­hen zu dür­fen, ent­lässt er mich mit der Zärt­lich­keit ei­ner Frau. Al­les das kommt mir vor, als wäre es ges­tern ge­sche­hen. Er­eig­nis­se ei­ner spä­tem Zeit sind fort­ge­weht an jene Küs­te, wo al­les Ver­ges­se­ne der­einst wie­der­kommt. Doch die­ses ragt vor mir wie ein ho­her Fels im wei­ten Meer.

Ich wuss­te, dass Peg­got­ty in mein Zim­mer kom­men wür­de. Die Sab­bat­stil­le tat uns bei­den wohl. Sie setz­te sich ne­ben mich auf mein klei­nes Bett, nahm mei­ne Hand, drück­te sie von Zeit zu Zeit an ihre Lip­pen und strei­chel­te sie, wie sie wohl mein klei­nes Brü­der­chen ge­strei­chelt ha­ben moch­te, und er­zähl­te mir in ih­rer schlich­ten Art, wie al­les ge­kom­men war.

»Sie fühl­te sich seit lan­ger Zeit gar nicht mehr recht wohl«, sag­te Peg­got­ty. »Sie fühl­te sich nicht glück­lich. Als das Klei­ne zur Welt kam, dach­te ich, es wür­de mit ihr bes­ser wer­den. Aber sie war an­ge­grif­fe­ner als je und schwand da­hin mit je­dem Tage. Vor der Ge­burt des Kin­des pfleg­te sie viel al­lein zu sit­zen und dann wein­te sie; aber spä­ter sang sie ihm vor, so lei­se, dass ich manch­mal dach­te, es sei wie eine Stim­me in der Luft, die lang­sam ver­klingt.

Ich glau­be, sie wur­de in der letz­ten Zeit im­mer ver­schüch­ter­ter und furcht­sa­mer, und ein har­tes Wort war für sie ein Schlag, aber ge­gen mich blieb sie im­mer die glei­che. Sie wur­de nie an­ders ge­gen ihre ein­fäl­ti­ge Peg­got­ty, mein sü­ßes Mä­del.«

Hier hielt Peg­got­ty inne und klopf­te mir ein Weil­chen sanft die Hand.

»Das letz­te Mal, wo sie ganz wie­der schi­en wie frü­her, war an je­nem Abend, wo du nach Hau­se kamst, mein Lieb­ling. Und am Tag, als du fort­gingst, sag­te sie zu mir: ›Ich wer­de mei­nen Her­zens­lieb­ling nie mehr wie­der­se­hen. Eine Stim­me sagt es mir und ich weiß, dass sie die Wahr­heit spricht.‹ Sie ver­such­te dann hei­ter zu er­schei­nen, und manch­mal, wenn sie zu hö­ren be­kam, sie wäre ge­dan­ken­los und leicht­sin­nig, tat sie so, als ob sies wäre, aber es war schon al­les vor­bei. Sie sag­te ih­rem Man­ne nichts. Bis ei­nes Abends, kaum eine Wo­che, ehe sie starb, da sag­te sie zu ihm, ›ich glau­be, ich st­er­be bald.‹

›Jetzt hab ichs vom Her­zen her­un­ter, Peg­got­ty‹, sag­te sie dann zu mir, als ich sie an die­sem Abend zu Bett brach­te. ›Es wird ihm in den we­ni­gen Ta­gen, die ich noch zu le­ben habe, deut­li­cher und deut­li­cher wer­den, dem Ar­men. Und dann ists vor­bei. Ich bin sehr müde. Wenn es nur Schlaf ist, so blei­be bei mir sit­zen und ver­lass mich nicht. Gott seg­ne mei­ne bei­den Kin­der. Gott be­schüt­ze und be­hü­te mei­nen va­ter­lo­sen Jun­gen.‹

Seit­dem hab ich sie nicht mehr ver­las­sen«, sag­te Peg­got­ty. »Sie sprach oft mit den bei­den da un­ten, denn sie lieb­te sie. Sie konn­te nicht an­ders, sie muss­te je­den lie­ben, der in ih­rer Nähe war. Aber wenn sie von ih­rem Bet­te weg­ge­gan­gen wa­ren, da muss­te ich kom­men, als ob nur Ruhe sein könn­te, wo Peg­got­ty war, und nie konn­te sie an­ders ein­schla­fen.

Am letz­ten Abend küss­te sie mich und sag­te, ›wenn das Baby mit mir ster­ben soll­te, Peg­got­ty, so sol­len sie es mir in die Arme le­gen und uns zu­sam­men be­gra­ben. Und mein lie­ber Sohn soll zu mei­nem Gra­be ge­hen‹, sag­te sie, ›er­zäh­le ihm, dass ich ihn, als ich hier lag, nicht ein­mal, son­dern tau­send­mal ge­seg­net habe.‹«

Wie­der folg­te eine Pau­se des Schwei­gens, und Peg­got­ty klopf­te mir wie­der sanft die Hand.

»Es war schon spät in der Nacht, da ver­lang­te sie zu trin­ken, und als sie ge­trun­ken hat­te, da lä­chel­te sie mich so ge­dul­dig und lieb und schön an.

Der Tag brach an und die Son­ne ging eben auf, als sie mir er­zähl­te, wie gü­tig und rück­sichts­voll Mr. Cop­per­field im­mer ge­gen sie ge­we­sen war, wie er mit ihr Ge­duld ge­habt und ihr im­mer, wenn sie an sich selbst zwei­fel­te, ver­si­chert hat­te, dass ein Herz voll Lie­be bes­ser und stär­ker sei als alle Weis­heit, und dass ihn ihre Lie­be glück­lich ma­che. ›Lie­be Peg­got­ty‹ sag­te sie dann, ›le­ge mich nä­her an dich her­an‹ – so schwach war sie schon – ›le­ge dei­nen lie­ben Arm un­ter mei­nen Kopf und wen­de mein Ge­sicht dir zu, denn dei­ne Züge ge­hen im­mer wei­ter von mir weg und ich will dir so nahe sein.‹ Ich tat, wie sie ver­lang­te, und ach, Davy, die Zeit war ge­kom­men, wo das wahr wur­de, was ich dir ein­mal ge­sagt habe, sie war froh, ih­ren ar­men Kopf auf den Arm ih­rer ein­fäl­ti­gen, mür­ri­schen, al­ten Peg­got­ty le­gen zu kön­nen. Sie starb wie ein Kind, das ein­schläft.«

So en­dig­te Peg­got­tys Er­zäh­lung. Von dem Au­gen­blick an, wo ich den Tod mei­ner Mut­ter er­fuhr, war das Bild, das ich mir zu­letzt von ihr mach­te, ver­schwun­den. Von dem Au­gen­blick an er­in­ner­te ich mich ih­rer bloß als der jun­gen Mut­ter mei­ner frü­he­s­ten Kind­heit, die ihre glän­zen­den Lo­cken um ihre Fin­ger zu wi­ckeln und im Zwie­licht mit mir im Zim­mer her­um­zu­tan­zen pfleg­te. Mit ih­rem Tode schweb­te ihr Bild zu­rück in ihre ru­hi­ge, un­ge­stör­te Ju­gend­zeit, und al­les üb­ri­ge war aus­ge­löscht.

Die Mut­ter, die im Gra­be ruht, ist die Mut­ter mei­ner Kind­heit, das klei­ne We­sen in ih­ren Ar­men ist, wie ich einst ge­we­sen war, und liegt an ih­rem Bu­sen ein­ge­lullt auf ewig.