Geschichte der Türkei

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Cengiz Günay

Die Geschichte der Türkei

Von den Anfängen der Moderne bis heute

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2012

Dr. Cengiz Günay ist am oiip – dem Österreichischen Institut für Internationale Politik in Wien tätig und unterrichtet an der Universität Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com ?Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 3301 | ISBN 978-3-8463-3301-3 | ISBN Print 978-3-8252-3301-3

In Liebe für Oya

Sen sen olduğun için

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Einleitung

I. Das osmanische Reich

Das Entstehen eines Großreiches

Die politische und wirtschaftliche Struktur

Die osmanische Gesellschaft

Staat und Religion

II. Modernisierung – ein Paradigmenwechsel

Zerfallserscheinungen

Lokale Machtfaktoren

Die ersten Zeichen der Öffnung

Die Neue Ordnung

Der Aufstieg Ägyptens

Die Tanzimat-Ära

Die Jungosmanen

Die erste Verfassungsperiode

Die hamidische Ära (1878 – 1908)

Die Jungtürken

Die zweite Verfassungsperiode

Die Balkankriege – der Anfang vom Ende

Die Geburt des türkischen Nationalismus

III. Die Republik

Die Lage nach dem Krieg

Mustafa Kemal betritt die Bühne

Der Befreiungskampf

Die Voraussetzungen für einen türkischen Nationalstaat werden geschaffen

Die Situation der Minderheiten

Die Konstruktion der Türk Ulusu

Die Errichtung einer Einparteiendiktatur

Atatürk Inkilaplari – Die kemalistische Kulturrevolution

Der türkische Laizismus

Die Tradition des paternalistischen Staates

Nach Atatürk

Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik – der Nährboden für Opposition

IV. Demokratie entlang gesellschaftlicher Bruchlinien

Übergang zum Mehrparteiensystem

Die Ära der Demokratischen Partei

Die Armee: Wächterin über das Modernisierungsprojekt

Die Rückkehr zur Demokratie

Demirel, ein Ingenieurspolitiker

Urbanisierung und wachsende Fragmentierung

Ethnisch-religiöse Bruchlinien und politisch-ideologische Identitäten

Rechts- und Links-Begriffe im türkischen Kontext

Die Mitterechts: Das Bollwerk gegen den Kommunismus

Das Auseinanderbrechen der Mitterechtskoalition

Die islamistische Bewegung

Die nationalistische Bewegung

Das Militär greift erneut „korrigierend“ ein

Links von der Mitte: Die Staatspartei erfindet sich neu

Die Zypernkrise

Die Nationalistische Frontregierung

V. Der Sieg der Rechten: Marktwirtschaft und Konservativismus – Die Türkei nach 1980

Der Coup der Generäle

Die Ära des Özalismus

Eine zersplitterte Parteienlandschaft entsteht

Der Kurdenkonflikt

Eine Frau an der Spitze

Der Aufstieg der Islamisten

Die Islamisten an der Macht

Der 28. Februar: ein anti-islamistischer Putsch

Die letzte Ära Ecevit – Das Ende des Projektes Links von der Mitte

Die Parteienlandschaft ordnet sich neu

Die AKP und das Projekt der „Konservativen Demokratie“

Die Ära der AKP

Eine lange und beschwerliche Reise nach Europa

VI. Schlussfolgerungen

 

VII. Bibliographie

Register

Rückumschlag

Einleitung

Die neuere Geschichte der Türkei ist geprägt durch das Streben nach Modernisierung. Modernisierung stellte den Versuch dar, Antworten auf Herausforderungen der westlichen Moderne in der schrittweisen Eingliederung und Anpassung an diese zu finden. Die Moderne umfasst in diesem Zusammenhang kein präzises Konzept. Der Begriff beschreibt vielmehr eine ganze Palette an Phänomenen, die die Verbreitung des Kapitalismus und die Integration immer weiterer Weltregionen in die revolutionären Prozesse, die damit verbunden waren, begleiteten. (Vgl. Zubaida, 2011) Modernität bezeichnet aber nicht nur einen Prozess, sondern auch eine Periode, die Ende des 18. Jahrhunderts begann und sich bis zum heutigen Tag auf verschiedene Arten fortgesetzt hat. (Bayly, 2004: 26) Im Falle der Türkei ging die Modernisierung (modernleşme) von den bürokratischen Eliten im Zentrum aus. Sie betrachteten Modernisierung als einen linearen Entwicklungsprozess. In der Anpassung an westliche Normen, Konzepte, Denk- und Verhaltensweisen sahen sie eine Chance, um den schwachen Staat stärker, zentralisierter und damit widerstandsfähiger gegen die Herausforderungen der westlichen Moderne zu machen. Modernisierung wurde dadurch mehr als in anderen Ländern zu einem durch die Staatseliten vorgegebenen politischen und zivilisatorischen Reformprogramm.

Das Aufeinandertreffen der autochthonen Wirtschaftssysteme und der traditionellen gesellschaftlichen und politischen Strukturen mit der europäischen Moderne erfolgte in den meisten Fällen nicht friedlich. Die Hegemonie der europäischen Moderne war meist mit militärischer Eroberung, zumindest aber mit massiver wirtschaftlicher und kultureller Expansion verbunden.

Im Gegensatz zu anderen Gesellschaften der Peripherie geriet das Osmanische Reich nie unter direkte koloniale Herrschaft. Das

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Aufeinandertreffen mit der westlichen Moderne war daher nicht, wie z. B. in Ägypten oder Indien durch Fremdherrschaft und Unterdrückung geprägt.

Das Osmanische Reich, das an seinem Höhepunkt weite Teile Ost- und Südosteuropas sowie den gesamten Mittelmeerraum beherrschte, war ab dem 17. Jahrhundert zusehends ins Hintertreffen geraten. Seit der misslungenen Belagerung Wiens 1683 befand sich das Reich in einem Prozess des territorialen Rückzugs. Mit dem Ende der Expansion, die ein wichtiger Bestandteil des osmanischen Systems gewesen war, geriet das Reich in eine Krise. Die staatlichen Strukturen, die Wirtschaft und vor allem das Militär befanden sich im Verfall.

Die Geschichte der Modernisierung im Sinne der Anpassung an die westliche Moderne setzte hier an. Ende des 18. Jahrhunderts rief Selim III. ein Reformprogramm mit dem programmatischen Namen „Neue Ordnung“ aus. Vorrangiges Ziel war die Wiederherstellung der geschwächten staatlichen Autorität. Es galt das Reich neu zu ordnen, der Korruption und Misswirtschaft den Garaus zu machen, die Effizienz der Administration zu steigern und die Steuereinnahmen zu erhöhen. Dabei orientierte man sich an den erfolgreichen Erfahrungen in europäischen Staaten wie Frankreich, England und Österreich. Als Vorlage dienten umfassende Berichte osmanischer Diplomaten über die militärischen, administrativen und technischen Entwicklungen und Neuerungen in den jeweiligen europäischen Ländern, in die sie entsandt worden waren.

Die Modernisierung sollte vom Staat und seinen Institutionen ausgehen. Damit versuchte man den Entwicklungsprozess umzukehren. Während in Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Österreich und Preußen die Institutionen, die man sich zum Vorbild nahm, als das Ergebnis eines gesellschaftlichen und kulturellen Prozesses entstanden waren, versuchte man diesen im Reich durch die Übernahme dieser Institutionen auszulösen. Gesellschaftliche und soziale Aspekte spielten in den Überlegungen der Reformer kaum eine Rolle. Das vorrangige Ziel war es, den Staat zu stärken und dadurch zu retten. Die Stärkung der staatlichen Institutionen und Strukturen und später die Reform des Rechtswesens sollten den Übergang von einem lose organisierten mittelalterlichen Reich zu einem modernen Konzept des westfälischen Staates

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mit Territorialitätsprinzip, starken zentralstaatlichen Institutionen, einem absoluten Machtmonopol, Steuerhoheit und voller Souveränität nach innen und nach außen gewährleisten.

Die Auseinandersetzung fand zwischen alten und neuen Eliten statt. Im Zuge der Reformen waren Militär- und Verwaltungsakademien gegründet worden, die die Aufgabe hatten, Kader für ein reformiertes modernes Heereswesen bzw. eine effiziente Verwaltung auszubilden. Es sollten diese neuen Kader sein, die die Modernisierungsbewegung tragen und vorantreiben sollten. Sie verdrängten zusehends die traditionellen militärischen Einheiten und drängten den Einfluss der Geistlichen (ulema) zurück. Die Anpassung an die Moderne erfolgte also zu Ungunsten der traditionellen politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Sie war begleitet von einer schrittweisen Säkularisierung des Systems. Auch der Absolutismus des Sultans wurde zurückgedrängt, stattdessen gewann die reformorientierte Bürokratie an Einfluss.Angesichts eines nun starken und zentralisierten Staates, dem eine heterogene und nur schwach organisierte Gesellschaft gegenüberstand, kam es zur Errichtung der Despotie der hohen Bürokratie.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Modernisierung immer stärker mit Verwestlichung (batılılaşma) gleichgesetzt. Gemeint war damit nicht nur die Übernahme von Technologie und Institutionen, sondern eine zivilisatorische Transformation, die die bewusste Übernahme von Denk- und Lebensweisen, von Mode, Geschmack und Vergnügen sowie von Verhaltenscodes beinhaltete. Diese starke Ausrichtung nach Europa ging einher mit der Abwertung der eigenen Tradition, Kultur und Geschichte, die oftmals aus einem eurozentristischen Blick heraus als „rückständig“ und „primitiv“ empfunden wurden.

Damit setzten sich jene Kräfte unter den Eliten durch, die die Moderne als ein universelles Gut verstanden, das zwar aus der westlichen Zivilisation erwachsen sei, das aber für die gesamte Menschheit Gültigkeit habe und das es deshalb ohne Wenn und Aber zu übernehmen galt. Dieser Ansatz ließ keine „Vielfalt der Moderne“ (Vgl. Eisenstadt, 2008) zu und schloss lokale Ausformungen, die sich von den Konzepten der westlichen Moderne unterschieden, aus. Die westliche Moderne wurde damit zusehends als eine zivilisatorische Entwicklungsebene betrachtet. Um modern

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und damit zivilisiert zu sein galt es demnach so zu sein wie der Westen. Dieses Paradigma leitete den Transformationsprozess.

Mit Mustafa Kemal Atatürk setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine radikale Gruppe innerhalb der Modernisierungsbewegung durch. Die Republik, die sie gründeten, sollte eine Abkehr von der osmanisch-islamischen Tradition bedeuten und einen Neuanfang darstellen. Die kemalistischen Reformen hatten das Ausmaß einer von oben verordneten Kulturrevolution. Es galt die Gesellschaft und Kultur aus der islamisch-orientalischen Tradition herauszulösen und eine neue türkische Nation zu konstruieren, die dem westlichen Kultur- und Zivili­sationskreis angehören sollte.

Die kemalistische Kulturrevolution schuf nicht nur das Rahmenwerk für einen staatlichen türkischen Nationalismus, führte zur Adaptierung des gregorianischen Kalenders und zur Einführung des Sonntags als gesetzlicher Feiertag und verfolgte die gesetzliche Gleichstellung von Mann und Frau, sondern sie machte sich auch daran, die Religion zu reformieren. Durch staatliche Hand sollte ein „türkischer“ Islam geschaffen werden, der sich mit dem türkischen Nationalismus und Prinzip des Laizismus, der gesetzlich verankerten Trennung von religiösen und staatlichen Bereichen, vereinbaren ließ. Religion sollte dagegen zur Privat­sache des Einzelnen werden. Zwangsläufig musste dieses Projekt zu Spannungen mit autochthonen und islamischen Traditionen führen. Mit dem Übergang zu einem demokratischen Mehrparteiensystem kamen nicht nur diese Spannungen, die sich aus dem autoritär durchgeführten Transformationsprozess ergeben hatten, an die Oberfläche, sondern es brachen auch gesellschaftliche Bruchlinien entlang ethnisch-religiöser und kultureller Unterschiede auf.

Die türkische Demokratiegeschichte ist damit zu einem hohen Teil geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprojekt der Eliten. Dabei war auch die Demokratie lange Zeit ein Elitenprojekt. Die Einführung einer Mehrparteiendemokratie war nicht die Folge diesbezüglicher Forderungen, sondern eine Entscheidung der Eliten. Wieder einmal stand nicht das Wohl der Bevölkerung, sondern das des Staates im Vordergrund. Demokratisierung ging daher auch nicht automatisch mit der Liberalisierung des Systems einher. Das System wurde weiterhin

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durch die Vertreter einer städtischen Elitenkultur dominiert. Die Staats­ideologie des Kemalismus setzte der Demokratie die legalen Grenzen. Die Integration der breiteren Bevölkerung in dieses Projekt erfolgte schrittweise und ist durch große Spannungen geprägt. Immer wieder erfolgten aus Angst um die Fortsetzung des Modernisierungsprojektes, aber auch zum Schutz von Privilegien, Interventionen durch die Armee. Seit dem Beginn des Modernisierungsprozesses im 18. Jahrhundert hatte sich die Institution der Armee zu einer Vorkämpferin der Anpassung an die westliche Moderne entwickelt.

Auch wenn es sich um eine von den Staatseliten getragene Bewegung handelt, ist heute die Idee der Modernisierung und des Aufholens gegenüber dem Westen tief in der Seele der Türkei verankert. Das Projekt der Modernisierung hat durch die Demokratisierung zwar an Radikalität eingebüßt, es ist aber heute breiter aufgestellt denn je. Die ­Ausweitung des Elitenprojektes erfolgte durch die staatliche Bildungspolitik, durch die wirtschaftliche Öffnung, die ein privates Unternehmertum ermöglichte, aber mehr noch durch die Integration der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen in das demokratische System. Insbesondere der reformierte Islamismus und seine Integration in das demokratische System scheinen aus internationaler Perspektive ein Erfolg des türkischen Modernisierungsprojektes zu sein. Der Integrationsprozess verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in das Projekt der türkischen Moderne ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Neben religiös-konservativen Strömungen sind es vor allem Bewegungen, die einen nicht-türkischen ethnischen Nationalismus vertreten, wie z. B. kurdische Gruppierungen, die in einem Dialog mit dem Projekt einer türkischen Moderne stehen und diese herausfordern. Durch diesen Prozess veränderten und verändern sich nicht nur die einzelnen Bewegungen, die nach Inte­gration in das System streben, sondern auch das System verändert sich dadurch wesentlich.

Ausgehend von der Annahme, dass die Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne einen der wichtigsten Vektoren in der neueren Geschichte der Türkei darstellt, bezieht sich die Darstellung auf die Geschichte der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozio-ökonomischen Transformation. Aus historischer Perspektive sollen dabei verschiedene Aspekte der Modernisierung selbst, aber vor allem auch

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die dadurch hervorgerufenen Entwicklungen, Spannungen und Wider­sprüche, beleuchtet werden. Das Buch geht dabei der Frage nach, wo die Kontinuitäten liegen und wo sich Brüche auftun. Es zeigt Entwicklungslinien und Muster auf, die trotz oder wegen der Modernisierung Bestand haben und das heutige politische und gesellschaftliche Leben prägen. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf dem ausschließlich politischen Bereich, sondern bezieht auch gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Veränderungsprozesse und deren Folgen ein.

Ein Ansinnen war es auch, bewusst die historischen Hintergründe für Themen und Problembereiche, die im aktuellen Diskurs auftauchen, zu beleuchten. Angesichts der Aktualität und des Interesses für Türkei-relevante Themen soll dadurch einer interessierten Leserschaft die Möglichkeit für einen differenzierteren Blick auf das Land, seine Kultur und seine Menschen geboten werden.

Mehr als eine wissenschaftliche Abhandlung der türkischen Geschichte versteht sich das Buch daher als eine Einführung in das Thema. Die Arbeiten von Autoren wie Erik J. Zürcher, Feroz Ahmad, Halil İnalcık, Andrew Mango, Bernard Lewis oder Taner Akçam dienten bei der historischen Annäherung an das Thema als eine wichtige Stütze. Gleichzeitig konnte ich auf meine eigene längere berufliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zurückgreifen. Eine Sammlung verschiedener zur Türkei, ihrem politischen System, der Geschichte des Islamismus, der Rolle der Religion sowie den Entwicklungen in Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess verfasster Texte diente als Ausgangspunkt für dieses Überblickswerk.

 

Das Buch spannt einen historischen Bogen vom Beginn des Aufeinandertreffens mit der westlichen Moderne bis heute. Es ist chronologisch aufgebaut, erhebt allerdings nicht den Anspruch einer lückenlosen Darstellung der türkischen Geschichte. Die Priorisierung von Ereignissen, Entwicklungen, Akteuren und Faktoren geschah vielmehr selektiv in Hinblick auf die Darstellung des Modernisierungs- und Transforma­tionsprozesses und seiner Folgen.

Die thematischen Blöcke, in die das Buch unterteilt ist, richten sich nach der zeitlichen Abfolge. Das Buch gliedert sich dabei in fünf Kapitel und mehrere Unterkapitel. Der Erzählstrang beginnt mit der politischen,

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gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur des Osmanischen ­Reiches, erläutert die Hintergründe für das Entstehen der Reformbewegung, beleuchtet die Widersprüchlichkeiten und setzt diese internen Entwicklungen mit externen Entwicklungen in Verbindung. Zentrale Themenkomplexe drehen sich um die Fragen nach gesellschaftlichen, ethnischen und religiösen Bruchlinien, der Rolle des Nationalismus, der Bedeutung von nationalistischen Narrativen, der Rolle des Kemalismus und Laizismus, Spannungen mit dem Islam sowie um die Rolle der Eliten in einem paternalistischen Staat, die Geschichte der Demokratisierung, die Tradition von politischen Parteien und Ideologien und den Wandel, dem sie ausgesetzt sind. Die Darstellung, Beleuchtung und Analyse der neueren türkischen Geschichte endet mit dem Kapitel über die Beziehungen mit der EU, der langen Reise nach Europa.

Im Detail ist das das Buch folgendermaßen gegliedert:

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Struktur des Osmanischen Reiches, das an der Frontlinie mit dem christlichen Byzantinischen Reich entstand. Die islamische Religion und die Mission des Kampfes gegen die Ungläubigen spielten folglich von Beginn an eine wichtige Rolle in der Selbstdefinition der Osmanen. Die Osmanen waren aber nicht auf Zerstörung bestehender gesellschaftlicher Strukturen aus, vielmehr übernahmen sie weitgehend Elemente von Byzantinern, den arabisch-islamischen Großreichen sowie von den türkischen Nomadenstämmen. In der Tradition der islamischen Großreiche, als deren Nachfolger die Osmanen sich betrachteten, gab der Islam den Rahmen für das Rechtssystem vor. Zudem war der Sultan war nicht nur politischer Herrscher, sondern als Kalif zugleich auch Führer der Gemeinschaft der Gläubigen. Territoriale Expansion war nicht nur Bestandteil einer religiösen Mission, die auf die Verbreitung des Islams hinarbeitete, sondern bildete auch einen wichtigen Bestandteil des Wirtschaftssystems. Mit dem Ende der Expansion und dem Ausfall von Beute sowie zusätzlichem Land, das vergeben werden konnte, geriet das gesamte System in Not. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Einblick in die Grundzüge des Aufbaus des Reiches und seine Eigenheiten zu geben und damit Entwicklungslinien, die bis heute prägend sind, darzustellen bzw. die Schwächen, die später zu seinem Niedergang beitrugen, aufzuzeigen.

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Kapitel zwei setzt sich mit dem Paradigmenwechsel, der mit der Modernisierungsbewegung eingeleitet wurde, auseinander. In Folge der immer offenkundiger zu Tage tretenden militärischen Niederlagen und der zunehmenden wirtschaftlichen Hegemonie der europäischen Großmächte setzte ein Umdenken der osmanischen Eliten ein. Der Westen, der Jahrhunderte lang als Expansionsgebiet betrachtet worden war, wurde mit einem Schlag zu einer Quelle der Inspiration und zu einem Vorbild. Um das Fortbestehen des Reiches zu sichern, holten sich die Sultane Militärberater ins Land, kopierten erfolgreiche Institutionen und versuchten das gesamte staatliche und rechtliche System umzugestalten.

Die Öffnung zum Westen erfolgte schrittweise und immer im Rahmen des islamischen Systems. Die Reformen brachten aber weitere Reformen hervor. Modernisierung war keine Forderung, die aus der Bevölkerung gestellt wurde, sondern ein Projekt der Eliten, das autoritär von oben her durchgeführt wurde und das den Zweck hatte, den sterbenden Staat zu retten. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt dabei auf der Darstellung der Dynamiken und Akteure hinter der Modernisierungsbewegung. Es wird versucht, Machtstrukturen und Grundlagen für politische Konzeptionen, die damals geschaffen wurden und die bis heute Gültigkeit haben, aufzuzeigen.

Kapitel drei behandelt die sogenannte republikanische Ära, die Zeit der Gründung der Republik unter Mustafa Kemal Atatürk. Es stellt die kemalistischen Reformen, die zum Zwecke der Verwestlichung die Dimension einer Kulturrevolution erreichten, dar. Trotz seiner radikalen Reformansätze vor allem im Bereich der Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum setzte der Kemalismus in weiten Bereichen dennoch Traditionen des Osmanischen Reiches fort. Insbesondere die Rolle des paternalistischen Staates und die Vorherrschaft der städtischen Eliten wurden durch die Zentralisierung und Modernisierung, die der Kemalismus vorantrieb, eher verstärkt als geschwächt. Das Kapitel bezieht sich deshalb auch auf die Frage des Elitismus und die Rolle der Bürokratie.

Kapitel vier behandelt den Übergang zu einem demokratischen System. Die demokratische Transition erfolgte in der Türkei nicht in Folge eines revolutionären Umbruchs und auch nicht in Folge veränderter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern war vielmehr eine Entscheidung der Staatseliten, die im Lichte der veränderten

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internationalen Bedingungen getroffen wurde. Folglich kam es auch kaum zu Brüchen mit dem autoritären System, das die Modernisierungsbewegung geschaffen hatte. In der Türkei war also Demokratie nicht die Folge eines sozio-ökonomischen Veränderungsprozesses, sondern löste vielmehr diesen aus. Das Kapitel setzt sich insbesondere mit den gesellschaftlichen, ethnisch-religiösen Bruchlinien und primordialen Verbindungen auseinander, die sich nach dem Übergang zur Demokratie mit politisch-demokratischen Strukturen zu vermischen begannen. Auch die Rolle der Armee und die Folgen ihrer Intervention in den demokratischen Prozess stellen einen zentralen Punkt des Kapitels dar. Der demokratische Transitionsprozess wurde einerseits durch die politische Polarisierung der 1970er Jahre und andererseits durch die anti-demokratischen Interventionen des Militärs in Frage gestellt.

Kapitel fünf beginnt mit dem Putsch der Generäle im Jahr 1980 und zeigt dessen Folgen auf. Der Putsch ermöglichte die reibungslose Einführung der Marktwirtschaft. Es kam zur Zerschlagung der Linken, die von den Eliten als eine Gefahr für die Einheit der Nation betrachtet worden waren. Der Putsch verhalf damit der politischen Rechten zum endgültigen Sieg. Der Islam wurde im Zuge der Einführung der Marktwirtschaft als ein sozialer Dämpfer bewusst durch den Staat eingesetzt. Es sollte zu einer Aussöhnung zwischen kemalistischem Laizismus und Islam kommen. Davon wurden insbesondere konservative Gruppen begünstigt. Mit den 1990er Jahren begann der Aufstieg der Islamisten. Das Kapitel setzt sich näher mit den Hintergründen dieses Aufstiegs auseinander, deutet auf die Rückschläge hin und behandelt die Spaltung der Bewegung und die Gründung einer reformierten islamistischen Kraft. Die Entideologisierung zu Gunsten eines Wertkonservativismus versöhnte die islamistische Bewegung mit der Marktwirtschaft und ermöglichte ihre nachhaltige Integration in das demokratische System. Aufgrund des autoritären Charakters der kemalistischen Institutionen schien die Integration mit Europa für die Islamisten ein Ausweg aus ihrer Diskriminierung. Das konservative-islamische Segment der Gesellschaft, das durch die Hegemonie des kemalistischen Projektes der Verwestlichung von der Mitsprache in Politik und Wirtschaft ausgeschlossen war, konnte durch die AKP zu einem Teil des Systems werden. Dadurch konnte das

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demokratische System gestärkt werden. Gleichzeitig verschob sich aber durch den EU-Beitrittsprozess das Gleichgewicht. Kritiker stellen einen Machtverlust der etablierten kemalistischen Kräfte zu Gunsten der reformierten Islamisten fest.

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