Geschichte der Türkei

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Die Neue Ordnung

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich das Osmanische Reich bereits so tiefgreifend verändert, dass das traditionelle osmanische System und seine Institutionen nur mehr in degenerierter Form Bestand hatten. (Vgl. Inalcik; 1995: 123) Während der Bestand des Reiches von innen her immer mehr durch separatistische Kräfte und aufstrebende Lokalfürsten herausgefordert wurde, entwickelte sich Russland zu der größten militärischen Bedrohung von außen. Seitdem Russland die von Muslimen bewohnten nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres erobert hatte, baute es stetig seine Dominanz über die Region aus und bedrohte zudem die vom Schwarzen Meer aus leicht zugängliche Hauptstadt Istanbul. Die wachsenden inneren und äußeren Bedrohungen für den Fortbestand des Reiches und der klägliche Zustand der Armee machten Reformen dringend notwendig.

Sultan Selim III., der 1789, im Jahr der Französischen Revolution, den osmanischen Thron bestieg, sollte jener Monarch sein, der den Modernisierungs- und Reformprozess einleiten sollte, der heute als Verwest­lichung bezeichnet wird.5

Selim III. war ein aufgeklärter Herrscher und ein Erneuerer. Das westliche Zivilisationsmodell als ein Vorbild für die Umgestaltung des eigenen, sich in einer tiefen Krise befindlichen Reiches, hatte bereits früh Faszination auf ihn ausgeübt. Sofort nach seiner Thronbesteigung berief er einen Zirkel an Beratern und Freunden in wichtige staatliche

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Positionen, die sein Interesse an Europa und vor allem Frankreich, das als Inbegriff eines modernen Staates galt, teilten. Selim wies zudem seine Botschafter in den einzelnen europäischen Hauptstädten an, umfassende Berichte über die militärischen, administrativen und technischen Entwicklungen und Neuigkeiten in den jeweiligen Ländern zu verfassen. Diese Berichte sollten später eine Vorlage für die Reformpläne darstellen. (Vgl. Zürcher, 2004: 21)

Im Jahr 1792 rief Selim III. das Reformprogramm der „Neuen Ordnung“ (Nizam-i Cedid) aus. Die Reformen hatten das Ziel, die Auto­rität des zerrütteten osmanischen Staates wieder herzustellen. Durch eine „Neue Ordnung“ sollten der Korruption und der Misswirtschaft der Garaus gemacht werden. Dies sollte vor allem durch die Reformierung und Modernisierung der osmanischen Armee, einer der zentralsten Insti­tutionen der osmanischen Herrschaft, erfolgen. Das Heer stellte zwar innenpolitisch einen wichtigen Machtfaktor dar, war aber in Bezug auf Ausrüstung, Ausbildung und Disziplin in einem kläglichen Zustand. Im Vergleich zu Gegnern wie Russland, das einen Modernisierungsprozess hinter sich hatte, mangelte es in der osmanischen Armee vor allem an zeitgemäßem Kriegsgerät.

Selim unternahm zunächst den Versuch, die bestehenden militärischen Einheiten der Janitscharen, die Sipahis, und die Spezialeinheiten zu reformieren und sie dadurch kriegstüchtiger und effizienter zu machen. Gleichzeitig sollte es zu einer Entflechtung von militärischen und administrativen Funktionen kommen. Wie weiter oben erwähnt, war es im Lauf der Jahrhunderte zu einer Vermischung von militärischen und bürokratischen Ämtern gekommen. Viele der höheren Stellen in der Verwaltung waren von Janitscharen und Sipahis besetzt, die enge Machtnetzwerke gebildet und so ihre Macht zementiert hatten. Korruption, Misswirtschaft und Ämterkauf waren gang und gäbe. Die Reformversuche Selims III. scheiterten jedoch bald am Widerstand der traditionellen Institutionen, die um Macht, Status und Einfluss fürchteten. (Vgl. Zürcher, 2004: 22) Selim entschloss sich daraufhin im Jahr 1794, eine neue Armee, die außerhalb der traditionellen Strukturen stand, zu schaffen. Mehr als jeder Herrscher zuvor vertraute Selim III. dabei auf europäische Konzepte und Erfahrungen. Zu diesem Zweck holte er

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erstmals europäische Militärberater ins Land. Sie sollten bei der Gründung einer modernen Armee eine wichtige Rolle spielen.

In den Dekreten, die die Reformen einleiteten, rechtfertigte er die Übernahme europäischer Konzepte und die Rolle, die ausländische Militärberater spielten, indirekt, indem er darauf hinwies, dass ihm bereits seine Vorfahren das Beispiel geliefert hätten, dass es die Scharia Muslimen erlaube, „die Tricks und Methoden der Feinde“ anzuwenden um diese zu besiegen. (Vgl. Inalcik, 1995: 129)

Die Reformen, die unter dem Namen „Neue Ordnung“ eingeleitet wurden, beschränkten sich nicht nur auf die bloße Übernahme moderner europäischer Waffentechniken und das Training an diesen, sondern sie gingen viel weiter. Es galt, einen neuen Soldaten zu schaffen. Dieser sollte nicht nur moderne Waffentechniken und Methoden der Kriegsführung beherrschen, sondern auch in modernen Wissenschaften und Sprachen bewandert sein. Äußerlich sollten die neuen Einheiten von den traditionellen durch moderne Uniformen nach westlichem Vorbild zu unterscheiden sein.

Für die Ausbildung von Offizieren für die neuen Einheiten wurden Militär- und Marineakademien nach westlichem Vorbild gegründet. Dadurch entstand parallel zu den bestehenden Einheiten nicht nur eine neue moderne Armee, sondern es bildete sich auch eine neue, in westlichen Wissenschaften, Techniken und Methoden ausgebildete Elite heraus.

Die Gründung einer neuen, modernen Armee parallel zu den bestehenden Einheiten schuf einen Dualismus innerhalb des Systems. Das Verhältnis zwischen neuen und alten Institutionen war durch Rivalität, Neid und Ablehung geprägt. Die neuen Einheiten konnten ihren Einfluss allerdings rasch ausbauen. Ihr Aufstieg ging zu Lasten der Vormachtstellung traditioneller Institutionen wie der Janitscharen, der Sipahis und der ulema.

Dennoch sollte es eine Weile dauern, bis der Dualismus, also das Bestehen alter und neuer rivalisierender Parallelstrukturen im Heer aufgehoben wurde. Erst Mahmut II. (1808 –1839) beendete 1826 diesen mit einem blutigen Massaker, bei dem beinahe alle führenden Janitscharen ermordet wurden.

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In den folgenden Jahren sollten die Militärakademien zu Kaderschmieden für Generationen von Reformern werden. Damit kann festgestellt werden, dass die Reformen Institutionen schufen, die Kader für den Staatsdienst ausbildeten, die wiederum weitere Reformen vorantrieben. Die Modernisierungsbewegung perpetuierte, beschleunigte und radikalisierte sich dadurch von Generation zu Generation. Während die ersten Generationen Modernisierung als einen technischen Veränderungsprozess verstanden hatten, sollten spätere Generationen wie die Republiksgründer rund um Mustafa Kemal Modernisierung als ein zivilisatorisches Projekt, ja als eine Kulturrevolution betrachten, in der es als rückständig geltende orientalische Muster abzulegen und westlich-moderne, als fortschrittlich geltende, anzunehmen galt.

Die von Selim III. initiierte neue Armee gilt als erste Institution, die sich nach modernen westlichen Maßstäben orientierte. Sie sollte sich zu einem Motor der Modernisierungs-Bewegung bzw. der Verwestlichung im Staat entwickeln.

Auf die Militär- und Marineakademien sollten bald Verwaltungsakademien folgen. Die osmanischen Herrscher erkannten, dass eine moderne Armee alleine den bedrängten Staat nicht retten konnte. Vielmehr war es zur Stärkung der Zentralmacht notwendig, auch eine moderne staat­liche Verwaltung zu schaffen. Eine moderne Administration sollte zudem bessere Steuereinnahmen gewährleisten. Denn es galten die Prämissen „Ohne Armee keine Macht“ und „Ohne ausreichende Einnahmen keine Armee“. Außerdem sollte eine moderne Verwaltung Gerechtigkeit und Prosperität unter den Subjekten steigern. Auch die neue Bürokratie sollte sich, ebenso wie auch die neuen Militärs, von den Vertretern der traditionellen Institutionen sichtbar unterscheiden. Dafür wurde 1828 eine neue Kleidervorschrift erlassen, die den Beamten das Tragen von traditioneller Kleidung untersagte und stattdessen das Tragen eines dem Frack nachempfundenen Gehrocks und des Fes, einer ursprünglich aus Marokko stammenden Kopfbekleidung, vorschrieb.

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Der Aufstieg Ägyptens

Die Invasion Ägyptens durch die napoleonischen Truppen im Jahre 1798 leitete die Ära des europäischen Kolonialismus im Nahen Osten ein. Auch wenn die französische Okkupation nur knapp drei Jahre dauerte so hinterließ sie dennoch tiefe kulturelle Spuren und gilt als Auslöser für die Entstehung eines modernen ägyptischen Staatswesens.6

Die Gründung eines modernen ägyptischen Staates steht mit diesem Ereignis in Zusammenhang und geht auf Muhammed Ali Pascha zurück. Muhammed Ali war ein in Albanien geborener osmanischer Offizier, der zusammen mit osmanischen Truppen nach der französischen Invasion Ägyptens durch Napoléon zur Wiederherstellung der osmanischen Autorität ins Land am Nil entsandt worden war. Anstatt die Vormacht des Sultans herzustellen, konnte Muhammed Ali rasch und geschickt die Rivalitäten zwischen den einzelnen lokalen Machtfaktoren wie den Mamelucken, lokalen Notabeln und der ulema für sich selbst nutzen und sich als neuer Herrscher Ägyptens etablieren. Muhammed Ali schuf in kürzester Zeit eine solide Machtbasis, die es ihm erlaubte, auch gegen den Sultan aufzutreten.

Nach einigem Widerstand blieb dem Sultan nichts anderes übrig, als Muhammed Alis faktische Macht über Ägypten, das nach dem Abzug der Franzosen wieder ins Reich eingegliedert worden war, anzuerkennen und ihn als Vali (Statthalter) von Ägypten zu bestätigen. Muhammed Ali war damit zwar formell ein Statthalter des Sultans und damit ein Beamter des osmanischen Staates, faktisch regierte er aber als ein unabhängiger Herrscher. Er lieferte lediglich Tributzahlungen an den Hof in Istanbul ab, sonst agierte er weitgehend autonom. Muhammed Ali strebte danach die Herrschaft über Ägypten für seine Familie zu sichern und damit eine erbliche Dynastie zu begründen.

 

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Unter seiner Herrschaft erlebte Ägypten den Aufstieg zu einer regionalen Größe. Muhammed Alis Ägypten bedrohte nicht nur die Interessen der europäischen Größmächte, sondern entwickelte sich auch zu einer ernsthaften Konkurrenz für den Sultan.

Der Aufstieg Ägyptens unter Muhammed Ali war bedingt durch ein umfassendes Reformprogramm, das dieser im Land umgesetzt hatte. Ähnlich wie der Sultan hatte auch Muhammed Ali eine sogenannte „Neue Ordnung“ ausgerufen und ein modernes ägyptisches Militärwesen mit neuen Einheiten und Militärakademien geschaffen.

Eine starke ägyptische Armee sollte nicht nur seine Autorität über Ägypten gegenüber dem Sultan gewährleisten, sondern auch die ägyp­tische Unabhängigkeit gegenüber den imperialistischen Ansprüchen und Interessen der europäischen Großmächte garantieren.

Allerdings gingen seine Reformen weiter. Er initiierte neben einer Militärreform auch eine umfassende Verwaltungsreform und ein wirtschaftliches Entwicklungsprogramm. Das Modernisierungsprogramm Muhammed Alis war stark vom Merkantilismus geprägt. Das Ziel war es eine moderne ägyptische Industrie zu schaffen. Die Verstaatlichung von Land, die Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktionsmethoden sowie die Schaffung von Monopolen leiteten zunächst zu einem Entwicklungsboom. Allerdings war dieser nicht von unabhängigen privaten Kräften getragen. Muhammed Ali sicherte sich als unumschränkter Herrscher auch die wirtschaftliche Vormacht. Als größter Landbesitzer gründete er landwirtschaftliche Musterunternehmen und behielt das Monopol über die Produktion mancher Produkte. Muhammed Ali wurde dadurch auch zum größten Unternehmer des Landes. Durch die umfassenden Reformen wurde die ägyptische Wirtschaft zwar modernisiert und Ansätze für eine Industrialisierung geschaffen, gleichzeitig wurde das Land aber mehr oder weniger in einem wirtschaftliches Unternehmen des Herrschers verwandelt. Ein privates ägyptisches Unternehmertum konnte sich erst später, nach dem Tod Muhammed Ali Paschas, herausbilden.

Muhammed Alis Reformen schufen damit zwar die Grundlage für eine Industrialisierung Ägyptens, diese war aber sehr stark mit politischem Absolutismus und der Monopolisierung der wirtschaftlichen Macht und des Landbesitzes in den Händen des Herrschers verbunden.

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Längerfristig betrachtet scheiterten Muhammed Alis Reformen. Auch Ägypten konnte durch staatliche Reformen und Modernisierungsansätze nicht gegenüber dem Westen aufholen, das Land schlitterte in eine Schuldenspirale, musste nach Muhammed Alis Tod Staatsbankrott anmelden und geriet schließlich sogar unter britische Herrschaft.

Dennoch war Ägypten zu einem neuen Machtfaktor im östlichen Mittel­meer aufgestiegen. Muhammed Alis selbstbewusstes agieren forderte nicht nur die Autorität des Sultans in Istanbul heraus sondern störte auch die Interessen der europäischen Großmächte in der Region. In den folgenden Jahren sollten die europäischen Großmächte immer öfter in die innenpolitischen Entwicklungen des Reiches eingreifen.

Der griechische Aufstand (zwischen 1821 und 1829) bildete den Auftakt für eine von ethnischen Nationalismen getragene Bewegung unter den christlichen Untertanen des Balkans, die sich alle gegen die osmanische Herrschaft richteten.7 Die Misswirtschaft, Korruption, die Sicherheitsprobleme und die Willkür der osmanischen Behörden, alles Phänomene, die durch die Zerrüttung der osmanischen Staatsgewalt zugenommen hatten, spielten den nationalistischen Bewegungen, die Freiheit und Unabhängigkeit propagierten, in die Hände.

Die Osmanen waren alleine zu schwach, um die aufständischen Griechen, die massive Unterstützung aus Europa erfuhren, niederschlagen zu können. 1824 musste sich Sultan Mahmud II. an seinen mächtigen Vasallen Muhammed Ali in Ägypten um Hilfe wenden. Dieser entsandte daraufhin seine Flotte zur Unterstützung der osmanischen Truppen. In der

Schlacht von Navarino wurde die türkisch-ägyptische Flotte durch die britisch-französisch-russischen Alliierten vernichtend geschlagen, die auf Seiten der Griechen eingegriffen hatten, um den Sultan zu einem Waffen­stillstand zu zwingen. Muhammed Alis Flotte war damit beinahe zur Gänze vernichtet worden. Als Kompensation für diesen schweren Verlust forderte Muhammed Ali vom Sultan die Übertragung der Herrschaft

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über Syrien. Als der Sultan dies ablehnte, im Übrigen stemmten sich auch Frankreich und Großbritannien gegen einen territorialen Zuwachs der Macht Muhammed Alis, entschloss sich dieser, die Provinz Syrien durch Gewalt einzunehmen. Die ägyptischen Einheiten eroberten Syrien in kürzester Zeit. Als der Sultan weiterhin zu keinerlei Zugeständnissen, geschweige denn Gesprächen, mit Muhammed Ali bereit war, ließ dieser seine Armee weiter in Richtung Norden marschieren. Die ägyptischen Einheiten drangen bis weit in das osmanische Kernland in Anatolien ein. In Konya in Zentralanatolien, südlich von Ankara gelegen, schlugen die ägyptischen Truppen (1832) erneut die Osmanen vernichtend. Die osmanische Niederlage bei Konya öffnete den Ägyptern den Weg nach Istanbul. Muhammed Ali stand knapp davor die Hauptstadt zu erobern, den osmanischen Sultan zu stützen und die eigene Herrschaft über das gesamte Reich einzunehmen. Bedrängt durch Muhammed Ali wandte sich der Sultan nun verzweifelt an die Großmächte um Hilfe.

Nachdem Großbritannien, Österreich und Frankreich nicht bereit waren, aktiv in den Konflikt einzugreifen, mussten sich die Osmanen schließlich an den Erzrivalen Russland wenden. Russland intervenierte zur Rettung der osmanischen Dynastie, weil es kein Interesse an einer Neuverteilung der Macht hatte, allerdings waren die eilig herbei geeilten russischen Truppen zahlenmäßig zu schwach um die Ägypter auch zurückzudrängen. In Folge dessen war der Sultan gezwungen in Verhandlungen mit Muhammed Ali zu treten und seinen Forderungen ihn als Statthalter von Syrien zu bestätigen nachzugeben.

Im Jahr 1839 versuchte Mahmud II., die Machtverhältnisse wieder umzukehren und griff die ägyptischen Truppen in Syrien an. Die osmanische Armee wurde allerdings neuerlich in der Schlacht von Nizip von den Ägyptern vernichtend geschlagen. Kurz darauf verstarb Mahmud II. Ihm folgte sein Sohn Abdülmecit I. auf den osmanischen Thron.

Muhammed Alis Aufstieg zu einem regionalen Machtfaktor, der sogar den Fortbestand des schwächelnden Osmanischen Reiches herausfordern konnte, lag nicht im Interesse der europäischen Großmächte und störte das politische Gleichgewicht zwischen den einzelnen politischen Interessen. So war Großbritannien über den wachsenden Einfluss Russlands, der sich in Folge der Hilfestellung durch russische Truppen für den Sultan

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ergeben hatte, besorgt. Die europäischen Großmächte waren weder an einem Zerfall des Reiches interessiert, denn das hätte ernsthafte Konflikte unter den Großmächten verursacht, noch daran, dass die Region von einem lokalen Emporkömmling wie Muhammed Ali dominiert wird.

Das im Jahr 1840 zwischen Großbritannien, Österreich, Preußen und dem Osmanischen Reich unterzeichnete Londoner Abkommen sollte daher Muhammed Alis Herrschaft ein für alle mal auf Ägypten beschränken. Im Gegenzug dafür räumte das Abkommen aber der Dynastie Muhammed Alis das Erbfolgerecht für Ägypten ein. Die internationale Anerkennung der Dynastie Muhammed Alis kam einer Unabhängigkeit Ägyptens gleich. Auch wenn Ägypten nominell noch immer als ein Teil des Osmanischen Reiches galt und Tribut an den Hof abliefern musste, bestätigte das Abkommen die Selbständigkeit des Landes in allen übrigen Belangen. (Vgl. Ayubi, 2001)

Die Tanzimat-Ära

Nach der verheerenden Niederlage des Reiches gegen Russland 1768 und dem Vertrag von Küçük Kaynarca (1774) hatten die traditionellen osmanischen Machtinstitutionen wie der Hof und die ihm angeschlossenen Haushalte (bab), die durch die Rekrutierung von Angehörigen und die Weiterdelegierung von staatlicher Autorität ein Patronagenetzwerk über persönliche Verbindungen aufgebaut hatten und erhebliche Macht ausübten, sukzessive zu Gunsten einer neuen bürokratischen Elite und zu Gunsten der neuen Institutionen an Einfluss verloren. Dennoch waren die Zahlen der an den neuen Akademien ausgebildeten Eliten bei weitem nicht ausreichend, um eine moderne und effiziente Verwaltung zu gewährleisten. Auch die Reformen im militärischen Bereich hatten zwar einen Paradigmenwechsel und eine Neuorganisation nach europäischem Vorbild eingeleitet und zur Entstehung einer neuen, in westlichen Techniken und Methoden ausgebildeten Offiziersklasse geführt, aber dadurch war noch keine moderne Armee geschaffen. Vielmehr mangelte es auch weiterhin an modernen Waffen, Gerätschaft, Uniformen und vor allem an Disziplin in den Einheiten.

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Auch im Bereich der Verwaltung mangelte es oft, trotz Verbesserungen, an der Umsetzung der Reformen. In weiten Bereichen war der Staat bei der Umsetzung der Neuerungen gerade auf jene korrupten Behörden auf lokaler Ebene angewiesen, deren Misswirtschaft es zu vermeiden und einzuschränken galt. Zwar hatte die Auflösung der Janitscharen einen Durchbruch bedeutet und weiteren Reformen den Weg geebnet, dennoch beschränkte man sich im Wesentlichen auf die Ausarbeitung neuer Gesetze und die Schaffung neuer Institutionen, während die alten beibehalten wurden. (Vgl. Zürcher, 2004: 46) Auch weiterhin sollte der staatliche Bereich durch einen Dualismus zwischen neuen und alten Institutionen und Strukturen geprägt sein, ein Umstand, der die Umsetzung der Reformen und ihre Effizienz verzögerte.

Die durch Selim III. im militärischen Bereich eingeleiteten und unter Mahmut II. fortgeführten Reformen konnten die Niederlagen nicht aufhalten. Erik Zürcher führt an, dass mit den Reformen zwar Maßnahmen zur effektiven Kontrolle über das Reich geschaffen wurden, dass es allerdings weitere 50 Jahre dauern sollte bis diese Maßnahmen zu greifen anfingen. In der kurzen Zeit hatten weder die Militär-, noch die Verwaltungsakademien im benötigten Maß Absolventen, die in modernen Kriegs- und Verwaltungstechniken bewandert waren, hervorbringen können, noch war die Reformbewegung über eine kleine Zahl an hohen Beamten bei Hofe hinausgegangen. Zürcher berichtet zudem, dass die Reformen zwar versuchten den Traditionalismus in der Verwaltung durch Legalismus zu ersetzen, dass sie aber nicht die patrimonialistischen Netzwerke abschaffen konnten. (Vgl. Zürcher, 2004: 45ff.)

Die Niederlage der osmanischen Armee gegen die Truppen ­Muhammed Alis stärkte jene Kräfte, die weitere und vor allem weitergehende Reformen gefordert hatten. Die sogenannten Tanzimat (Reorganisation) Reformer standen zwar in der Tradition jener, die auch schon die Neue Ordnung eingeleitet hatten, gingen aber in ihrem Ansinnen weiter. Um einen modernen Territorialstaat mit einer starken Verwaltung und einer Wirtschaft, die dem westlichen Handel standhalten konnte, zu schaffen, bedurfte es einer Ausweitung der Modernisierung von militärischen und administrativen Fragen auf den wirtschaftlichen, sozialen und sogar religiösen Bereich.

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Deshalb kam es in den folgenden Jahren nicht nur zu wichtigen Veränderungen im rechtlichen Bereich, sondern die Reformer förderten auch den Bau von Fabriken zum Aufbau einer osmanischen Textilerzeugung, begünstigten den Bau von Eisenbahnverbindungen sowie eines Post­wesens und erteilten Konzessionen für die Errichtung von Dampfschifffahrtslinien. Sie beendeten zudem staatliche Monopole und versuchten durch die Senkung der Zölle den internationalen Freihandel zu stimulieren. (Vgl. Lapidus, 2002: 493 –505) (Vgl. Göcek, 1996) (Vgl. Zürcher, 2004: 46ff.)

In der Regierungszeit Mahmuts II. hatte der Einfluss europäischer Großmächte auf das Reich erheblich zugenommen. Vor allem Großbritannien, das, um einen weiteren Aufstieg Russlands zu verhindern, am Erhalt des Reichs interessiert war und eine pro-türkische und anti-russische Politik verfolgte, konnte als ein Unterstützer der osmanischen Staatsmacht seinen Einfluss wesentlich ausbauen. Großbritannien und die übrigen Westmächte, die den osmanischen Markt erschließen wollten, forderten nicht nur die Öffnung des Reiches für den internationalen Handel und damit Erleichterungen für die Einfuhr industrieller Produkte, sondern auch Rechts- und Finanzsicherheit für ausländische Investitionen. 1838 kam es zur Unterzeichnung eines Freihandels­abkommens mit Großbritannien, das den osmanischen Markt dem britischen Handel öffnete. Es waren vor allem pro-britische Gruppen bei Hofe, die während der Regierungszeit Mahmuts II. Einfluss hatten, der Sultan spielte aber immer wieder diese gegen pro-französische und pro-­russische Fraktionen aus. (Vgl. Zürcher, 2004: 45) Dadurch dauerte es nicht lange, bis auch Freihandelsabkommen mit den übrigen Großmächten unterzeichnet wurden.

 

Die Freihandelsabkommen sowie Begünstigungen für ausländische Unternehmer führten zu einer Benachteiligung der einheimischen Produzenten. Während das Reich vor allem teure Industriegüter aus Europa importierte, wurde es immer mehr zu einem Lieferanten für Landwirtschaftsprodukte. Eine einheimische Industrie konnte sich angesichts des harten Wettbewerbs kaum etablieren. Von der Öffnung des Handels profitierten vor allem Kaufmänner und Händler, die Angehörige der nicht-muslimischen Minderheiten waren. Diese Gruppe hatte bereits zur Zeit der napoleonischen Kriege vom Ausfall europäischer Händler

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profitiert und sich nachhaltig als Mittler im Handel zwischen Europa und dem Reich etablieren können. Dadurch entstand langsam eine osmanische Handelsbourgeoisie, die sich mehrheitlich aus Griechen, Armeniern und Juden zusammensetzte und die den Außenhandel des Reiches dominierte. In den vergangenen Jahren hatten Angehörige dieser neuen Handelsbourgeoisie durch den Eintritt in den Dienst der einen oder anderen europäischen Macht Schutz und Rechtssicherheit vor der Willkür osmanischer Herrscher gesucht. Dadurch waren Angehörige von Minderheiten oft von der osmanischen Kopfsteuer ausgenommen und erlangten Privilegien, wie niedrige Handelsabgaben, die eigentlich ausländischen Staatsbürgern, die sich im Reich niedergelassen hatten, vorbehalten waren.

Im Gegensatz dazu verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der breiten muslimischen Bevölkerung, die mehrheitlich im Agrarsektor tätig war. Neid und Missgunst, sowie Unzufriedenheit mit der Ordnung sollten im Jahr 1859, sogar zu einem Putschversuch, dem sogenannten Kuleli-Vorfall führen.8

Die Reorganisation (Tanzimat) von Staat und Gesellschaft erfolgte vor diesem Hintergrund. Eingeleitet wurde die Tanzimat-Ära durch das ­Gülhane Hatt-i Scherif, das sogenannte Rosengarten-Edikt, benannt nach dem Garten vor den Toren des Topkapi Palastes, in dem es am 3. November 1839 verlesen wurde. Das Hatt-i Scherif war eine Grundsatzerklärung, die das Recht auf Leben, Privateigentum und Ehre anerkannte, Gerechtigkeit und Regulierung im Bereich des Steuerwesens versprach, den Wehrdienst und die Wehrdienstzeiten genau definierte und für alle Untertanen des Sultans, unabhängig von deren konfessioneller Zugehörigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz versprach.9 Das Edikt wurde in alle

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Provinzen des Reiches verschickt und die Gouverneure (Valis) aufgefordert, die Erlässe umgehend umzusetzen.

Damit sollten die Reformen, indem sie die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten definierten, nicht nur die staatliche Autorität wieder herstellen, sondern sie kamen auch den Forderungen des internationalen Freihandels nach Rechtssicherheit und dem Schutz von Privateigentum entgegen. Ohne Zweifel waren die Reformen damit auch eine Antwort auf den Druck durch die Großmächte. Durch die Reformen wollte man den Forderungen der Europäer nach moderner Rechtsstaatlichkeit entgegenkommen und dadurch den Druck, den sie auf das Reich ausübten, abschwächen. Vor allem im Bereich der Stellung der nicht-muslimischen Minderheiten forderten die europäischen Großmächte Verbesserungen.

1843 wurde ein neues Strafgesetz eingeführt, das Muslime und Nicht-Muslime vor dem Gesetz gleichstellte. 1844 wurde die Todesstrafe für den Abfall vom Islam abgeschafft. 1850 wurde ein neues Handelsgesetz eingeführt und 1867 Ausländern das Recht eingeräumt, im Reich Landbesitz zu erwerben. (Vgl. Zürcher, 2004: 56ff) Auch wenn weiterhin die ­Scharia Gültigkeit hatte, wurde ihr Geltungsbereich beinahe ausschließlich auf den Bereich des Familienrechts reduziert. Weitere wichtige Schritte stellten die Abschaffung des Timar-Systems, sowie eine umfassende Verwaltungsreform dar.

Mit dem am 18. Februar 1856 erlassenen Islahat Hatt-i Hümayun, (dem kaiserlichen Edikt) wurden die Rechte der Nicht-Muslime weiter ausgebaut. Das Edikt war eine Antwort auf den zunehmenden Druck durch die europäischen Mächte. Das Islahat Hatt-i Hümayun gilt als Fortsetzung und Vertiefung des mit dem 1839 durch das Gülhane Hatt-i Scherif eingeleiteten Tanzimat-Reformprozesses. Es eröffnete Nicht-Mus­limen den Weg in den Staatsdienst. Nicht-Muslimen wurde dadurch die Möglichkeit eingeräumt, in der zentralen sowie lokalen Verwaltung zu arbeiten bzw. Mitglieder der Verwaltungsversammlungen zu werden. (Vgl. Inalcik, 2006: 281)

Die gesetzliche Gleichstellung von Muslimen und Nicht-­Muslimen kam einem Paradigmenwechsel gleich. Während bislang Nicht-­Muslime als Millets toleriert wurden, aber keinesfalls Muslimen gleichgestellte Bürger waren, führten die Tanzimat-Reformen das Konzept einer

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über-konfessionellen osmanischen Staatsbürgerschaft ein. Dieser Umstand führte in weiterer Folge zu einer Säkularisierung der Millets. Die einzelnen Millets erließen ihre eigenen Verfassungen und säkulare Vertreter übernahmen von den religiösen Würdenträgern die Ämter innerhalb der Millet-Organisation. Dadurch kam es zu einer Institutionalisierung der Millets wie es sie in der klassischen Periode des Osmanischen Reiches zuvor nie gegeben hatte. Der Umstand, dass Laien immer mehr Ämter innerhalb der religiösen Gemeinschaften gewannen, stimulierte indirekt separatistische, nationalistische Bewegungen, die unter den jeweiligen Eliten innerhalb der Millets Unterstützung fanden.

Die rechtlichen Reformen im Laufe der Tanzimat-Ära führten zu einer weiteren Abweichung von der islamisch geprägten Staatstradition. Die Einführung von weltlichen Gerichten, die Entfernung vom Prinzip der millet-i hakime, der herrschenden Nation, zu Gunsten der Gleichberechtigung von Muslimen und Nicht-Muslimen, sowie die Reform des Bildungswesens, das zu Lasten der religiös geprägten Schuleinrichtungen wie mektebs und medresses ging 10, bedeuteten wichtige Schritte in Richtung Säkularisierung. Der Islam bildete zwar weiterhin den Rahmen für das Reich und sein Rechtswesen, institutionell und kulturell kam es aber zu einer wachsenden Anpassung an nicht-islamische Normen und Konzepte der europäischen Moderne.

Dadurch sollte der Übergang von einem lose organisierten mittelalterlichen Reich, in dem Souveränität, Rechte und Pflichten mit der religiösen Zugehörigkeit verbunden waren und das sich primär auf die

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Gemeinschaft der Muslime als politische Gemeinschaft bezog, zu einem modernen Konzept des westfälischen Staates mit Territorialitätsprinzip, starken zentralstaatlichen Institutionen, einem absoluten Machtmonopol, Steuerhoheit und voller Souveränität nach innen und nach außen erreicht werden.

Die Tanzimat-Reformen waren stark von den in Europa in Folge der Aufklärung etablierten Gedanken des Bürgerrechts und der damit einhergehenden Stärkung des Eigentumsrechts, der Beseitigung des Feudalismus und dem Drang des Bürgertums nach mehr Mitsprache beeinflusst. Die osmanischen Reformer hofften, durch die Übernahme des rechtlichen Rahmens und der dazugehörigen Institutionen Bedingungen zu konstruieren, die einen Modernisierungsprozess auslösen würden. Damit kehrten sie den Entwicklungsprozess um. Während die modernen staatlichen Institutionen in den als Vorbild betrachteten westeuropäischen Ländern als Ergebnis des Kampfes gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere des aufstrebenden Bürgertums nach mehr Freiheit, Gleichheit und politischer und wirtschaftlicher Mitsprache entstanden waren, hofften die osmanischen Reformer, einen umgekehrten Prozess von oben her durch die Übernahme jener bürgerlichen rechtlichen Freiheiten, Errungenschaften und Institutionen auszulösen. Die Modernisierung des Reiches sollte durch ein modernes rechtliches Rahmenwerk und eine moderne Verwaltung begünstigt werden.