Geschichte der Türkei

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Die osmanische Gesellschaft

Die osmanische Gesellschaft unterteilte sich grob in zwei Klassen. Die Staatsklasse, askeri, wörtlich das Militär, sowie die Klasse der Untertanen, reaya.

Die Staatsklasse (askeri) umfasste all jene Personen, die durch den Sultan mit exekutiver oder religiöser Macht betraut wurden. Die askeri unterteilte sich wiederum in drei unterschiedliche Gruppen, die nach ihren staatlichen Funktionen unterschieden wurden: Die Vertreter der hohen Verwaltung (kalimiye), die militärische Spitze (seyfiye) und die hohe Geistlichkeit (ulema). Während die Verwaltung mit administrativen Aufgaben betraut war, sprach die ulema (die hohe Geistlichkeit) Recht und überwachte rechtliche und finanzielle Angelegenheiten. Beide dieser Arme des Staatsapparates unterstanden der Zentralgewalt, waren aber unabhängig voneinander. So konnte ein vom Sultan ernannter Vali (Gouverneur) z. B. dem lokalen Kadi (Richter) keine Anweisungen geben. (Vgl. Inalcik, 1995: 124) Die ulema wiederum wurde in drei Gruppen von Funktionen unterteilt: Die Kadis (die Rechtsverwalter), die muftis (die Gelehrten und Interpreten des Rechts) und die imame (die Prediger). (Vgl. Ubicini, 1853: 82)

Die osmanische Staatselite hob sich von der breiten Masse der Bevölkerung durch Sprache, Kleidung, Speisen sowie eine osmanische höfische Kultur ab. All diese Eigenschaften der Elite konnten durch Bildung erworben werden. Der Umstand, dass es im Reich keine erbliche Aristokratie gab, förderte eine gewisse soziale Mobilität. Der Aufstieg in die Staatsklasse war nicht abhängig von familiärer, regionaler oder ethnischer Herkunft, sondern beruhte vielmehr auf persönlichem Ehrgeiz, Tüchtigkeit, Verdienste um den Staat und die Gunst des Sultans. Dies ermöglichte es auch Angehörigen unterer sozialer Schichten sowie Vertretern nicht-türkischer Volksgruppen, in hohe Staatsämter aufzusteigen. Ein wichtiges Kriterium war dabei die Angehörigkeit zur islamischen Religion. Wenn auch historisch belegt ist, dass es durchaus auch Beispiele von Nicht-Muslimen gab, die in die Staatsklasse aufgestiegen waren, waren es meist Konvertiten, die im Staatsdienst standen. Der Islam fungierte als eine Art Förderband an die Spitze. (Vgl. Rodrigue, 1996)

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In der klassischen Periode setzte sich die osmanische Herrschaftselite sogar zum Großteil aus christlichen Konvertiten, die aus den Balkanländern stammten, zusammen. Die herrschende Klasse verdankte ihren Status, ihre politische Macht und ihren wirtschaftlichen Wohlstand zur Gänze dem Staat. Dies schuf ein besonderes Loyalitätsverhältnis zu diesem. Die zentrale Stellung von Hof und Staat und die Abhängigkeit der Staatsklasse von den Zuwendungen, wie z. B. Landvergabe, durch den Sultan bedingten eine gewisse Distanz zur Bevölkerung. Der Staat als Wahrer des Rechtes, der Ordnung und nicht zuletzt der Religion galt als das wichtigste Gut, das es zu schützen, bewahren und, wenn notwendig, zu verteidigen galt.

Traditionell hegten die türkischen Staatseliten gegenüber individuellen und sozialen Bewegungen Misstrauen, da sie darin eine Gefahr für die Stabilität und Einheit des Staates sahen.

Die Staatselite fühlte sich einer über den regionalen und ethnischen Unterschieden stehenden osmanischen Hochkultur verpflichtet, die sich aus einem bestimmten Verhaltenscode, Werten, Bildung, Geschmack und dem Bewusstsein der Verantwortung gegenüber dem Staat und seinem Wesen zusammensetzte. Die Elite übte demnach nicht nur Macht aus, sondern sie war auch die Bewahrerin einer klassischen Zivilisation, einer großen Tradition, die einerseits auf den schriftlichen Quellen des Islams und andererseits auf adab, einem angemessenen Verhalten basierte. Während ersteres durch die ulema, die Gelehrten des Islams in den religiösen Schulen, den medresse weitergegeben wurde, wurde adab informell durch Ausbildung und Training den osmanischen Eliten weitergegeben. Die Hochkultur der osmanischen Staatseliten bildete ein wichtiges integratives Element in einem Reich, das durch so viele unterschiedliche ethnische Gruppen geprägt war. (Vgl. Zürcher, 2004)

Der Staatsklasse stand die Gruppe der Untertanen (reaya) gegenüber. Diese Klasse umfasste alle Subjekte des Sultans, die auf osmanischem Terri­torium lebten, Steuern zahlten und nicht Teil der herrschenden Klasse (askeri) waren. In der großen Gruppe der Untertanen (reaya) wurde zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, Stadtbewohnern, Bauern, sowie Sesshaften und Nomaden unterschieden. Je nach Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Kategorie unterschieden sich Status und die daraus resultierenden Steuerpflichten. (Inalcik, 1995: 124ff.)

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Das Osmanische Reich war wie weiter oben erwähnt agrarisch geprägt. Der Großteil der Bevölkerung lebte in ländlichen Gebieten. Die einzelnen konfessionellen und ethnischen Gruppen lebten meist isoliert voneinander in getrennten Dörfern. Die relativ wenigen Städte des Reiches hingegen, vor allem jene, die in den levantinischen Küstengebieten lagen, waren meist kosmopolitisch geprägt. Allerdings waren auch hier die Wohnorte von Griechen, Armeniern, Juden und Muslimen getrennt. Vor allem zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen herrschte nur eingeschränkt Austausch. Während Nicht-Muslime über eine gewisse Autonomie verfügten, hierzu weiter unten, galten Muslime allein aufgrund des islamischen Charakters des Reiches als den Nicht-Muslimen übergeordnet.

Der Historiker Aron Rodrigue meint in diesem Zusammenhang, dass es völlig falsch ist, in der vormodernen Periode des Osmanischen Reiches in diesem Zusammenhang Begriffe wie Mehrheit und Minderheit anzuwenden. Diese Kategorien hatten in der damaligen Epoche nicht dasselbe Gewicht in politischen Beziehungen wie heute. Zwar bildeten bestimmte Gruppen oder Bevölkerungsgruppen in manchen Regionen des Reiches eine Mehrheit, und auch die Osmanen waren sich laut ­Rodrigue durchaus der Bevölkerungsverteilung in den einzelnen Regionen des Reiches bewusst. Zu diesem Zweck benutzten sie auch das Mittel der Verbannung, bei dem einzelne Gruppen von einem Ort im Reich an einen anderen ins Exil gehen mussten; allerdings spielte Mehrheit dahingehend keine Rolle, als die Osmanen ihre Herrschaft nicht durch eine demographische Mehrheit legitimierten. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Rodrigue weist zudem darauf hin, dass fälschlicherweise Historiker immer wieder über das Osmanische Reich so schreiben, als ob es sich um einen Nationalstaat, in dem eine Mehrheit von Türken über Minderheiten herrschte, handelte. Stattdessen umfasste das System eine Vielfalt unterschiedlicher Gruppen, die alle als „unterschiedlich“ anerkannt wurden. Unterschiede wurden nicht horizontal aufgehoben, sondern vertikal in das politische System integriert. Zwar hatten dadurch manche Gruppen leichteren Zugang zur Macht als andere, aber auch die übrigen Gruppen waren nicht zur Gänze aus dem System ausgeschlossen. Auf diese oder jene Weise verfügten die unterschiedlichen Gruppen im Reich über Verbindungen zur politischen Hierarchie des Systems, entweder

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indirekt über Vermittler bei Hofe oder aufgrund ihrer wirtschaftlichen Position direkt, wie z. B. die griechischen Phanarioten. Dabei handelte es sich nicht um Gleichheit, ein Konzept, das laut Rodrigue in dieser Organisationsform irrelevant war, vielmehr war der Unterschied etwas Vorbestimmtes und Normatives. Dies war allerdings auch kein Pluralismus, so Rodrigue, da Unterschiede nämlich nicht auf der Basis von Rechten artikuliert wurden. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Während dieses sozio-politische System in der vormodernen Epoche Gültigkeit hatte, sollte mit der Modernisierungsbewegung zusehends das Konzept eines von der westlichen Aufklärung inspirierten wertneutralen universalistischen öffentlichen Raumes Anwendung finden, das in Opposition zur „Unterschiedlichkeit“ stand und darauf abzielte, die bestehenden Unterschiede weitgehend auszulöschen. (ebda)

Der Großteil der muslimischen Bevölkerung der Städte setzte sich entweder aus Angehörigen des Haushalts des Sultans zusammen oder gehörte dem Haushalt eines seiner Beauftragten, wie z. B. Valis an, oder es handelte sich um Gewerbetreibende wie Handwerker oder Kleinproduzenten. Traditionell gewährten die Osmanen Vertretern des Gewerbes einen besonderen Status. Handwerker und Gewerbetreibende waren meist in Handwerksgilden (ahi) organisiert, die nicht nur den Zugang zu bestimmten Berufsgruppen regelten, sondern ihren Mitgliedern auch einen gewissen Schutz boten. Die Gilden vertraten die Anliegen ihrer Vertreter gegenüber den Behörden. Diese Netzwerke stellten angesichts eines mächtigen Staates, der den Einwohnern gegenüberstand, eine frühe Form einer Interessensvertretung bzw. Zivilgesellschaft dar.

Nicht-muslimische Einwohner wie Griechen, Juden oder Armenier betätigten sich vornehmlich als Händler. Diese Gruppe der nicht-muslimischen Kaufleute sollte im Laufe des 19. Jahrhunderts die einzige soziale Schicht darstellen, die in Ansätzen einem städtischen Bürgertum nahe kam. Allerdings waren die armenischen, jüdischen und griechischen Kaufmannsfamilien aufgrund ihrer konfessionellen Zugehörigkeit Muslimen in Rechten und Pflichten nicht gleichgestellt und kulturell weitgehend von diesen isoliert.

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Staat und Religion

Das Osmanische Reich galt als dar-ül Islam, das Haus des Islam. Damit galt das Reich als islamisches Reich, in dem der Islam den kulturellen, formellen und legalen Rahmen bildete und islamisches Recht galt. Damit waren sämtliche Bereiche des politischen und sozialen Lebens den Regeln des Islams unterworfen. Die Idee des dar-ül Islam verlieh dem Herrscher und seinen Untertanen die Aufgabe, die islamische Gemeinschaft nach außen hin zu verteidigen und innerhalb der Gemeinschaft für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Übernahme der Funktion des Kalifats durch die Osmanen im Jahr 1517 hatte eine weitere Aufwertung des islamischen Charakters des Reiches bedeutet. Der Sultan bekleidete in Personalunion das Amt des Kalifats. Er war damit nicht nur Herrscher über das Reich, sondern auch Führer der umma, der islamischen Gemeinschaft.1 Damit stand er an der Spitze der weltlichen sowie der geistlichen Hierarchie. Während für weltliche Belange ihm der Großwesir unterstand, folgte in der geistlichen Hierarchie des Staates dem Kalifen der Seyh ül-islam. Der Seyh ül-islam war damit der oberste Würdenträger der religiösen Verwaltung und war verantwortlich für das Religions-, Rechts- und Erziehungswesen.

 

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Die Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit und Ordnung waren zentrale Elemente des osmanischen Staatsverständnisses. Die ulema, die Geistlichkeit, spielte dabei eine wichtige Rolle. Sie war ein integrierter Teil des Systems. Die ulema interpretierte die Scharia – das islamische Recht. Trotz der theoretischen Vorherrschaft der Religion verfügte die Geistlichkeit aber über keinen eigenständigen organisatorischen Körper, vielmehr war sie in Bezug auf Ernennungen, Beförderungen und Bezahlungen vom Staat abhängig. Man kann sogar feststellen, dass die ulema als Diener des islamischen Staates galt. Obwohl die ulema theoretisch damit befasst war, das islamische Recht zu interpretieren und anzuwenden, war sie damit in ihrem Handeln weitgehend den weltlichen Interessen des Staates unterworfen. Die enge Verknüpfung der religiösen Autoritäten mit der weltlichen Macht hatte sich unweigerlich zu Ungunsten religiöser und spiritueller Anliegen und zu Gunsten der Vorherrschaft weltlicher, politischer Interessen ausgewirkt. Die Integration der Geistlichkeit in den Staatsapparat bewirkte langfristig, dass die ulema religiöse und juristische Entscheidungen oft den politischen Bedürfnissen der staatlichen Autorität unterordnete.

Auch wenn in der Theorie ausschließlich die Scharia galt, so hatte sich doch früh gezeigt, dass die Scharia keinesfalls sämtliche Aspekte des politischen und sozialen Lebens abdecken konnte. Das öffentliche Recht und vor allem aber die Fragen des Kriminalrechts wurden durch säkulare Verordnungen, die auf der weltlichen Macht des Sultans beruhten, die sogenannten Örf und Kanun, geregelt. Um die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen näher festzulegen, sowie um Kleidungsvorschriften, Pflichten und Verpflichtungen festzuschreiben, konnte der Sultan sogenannte Fermans (Verordnungen) erlassen. Diese wurden dann in Rechtskodizes, den sogenannten Kanun, gesammelt. Die Kanun stellten eine Art säkularer und administrativer Gesetze dar, zu deren Erlass der Herrscher aufgrund seiner Berechtigung, im Namen der Gemeinschaft Recht zu sprechen, befähigt war. (Vgl. Lapidus, 1999: 260ff.) Das muslimische Rechtssystem des Reiches war damit ein kompliziertes Netzwerk, bestehend aus der Scharia, ihrer Interpretation und einer Reihe säkularer Gesetze, die in das islamische Rahmenwerk integriert wurden. (Vgl. Rodrigue, 1996) Die Gesetze, die durch die weltliche Macht erlassen

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wurden, mussten durch den Seyh ül-islam auf ihre Übereinstimmung mit der Scharia überprüft werden.

Sami Zubaida stellt fest, dass, auch wenn die Religion im osmanischen Staat eine besondere Rolle spielte, das Reich aufgrund der Einschränkungen der geistlichen Vormacht durch Verordnungen des Sultans und die Unterordnung des Islams unter die Interessen des Staates dennoch so islamisch war, wie die europäischen Pendants des Osmanischen Reiches zu jener Zeit christlich waren. (Vgl. Zubaida, 1989: 42) Der Fortbestand des Staates und die Aufrechterhaltung von Ordnung und Recht waren Güter, denen es die Religion unterzuordnen galt bzw. denen die Religion diente. Es herrschte die Überzeugung, dass ohne den Staat auch der Islam nicht leben könne.

Während die ulema vornehmlich mit Fragen der Rechtsprechung, der Interpretation der heiligen Schrift, der Überprüfung von Gesetzen auf deren Übereinstimmung mit der Scharia und ähnlichen Fragestellungen des staatlichen und rechtlichen islamischen Systems beschäftigt war, sozusagen den staatlichen Islam vertrat, wurden Riten, Zeremonien, individuelle Zugänge zu Gott sowie Regeln und Gebote im Bereich der Ernährung, Reinlichkeit und der Lebensweise wesentlich durch reli­giöse Scheichs, Orden und Bruderschaften des mystischen Islams – des Sufismus – geprägt.

Schon zu Zeiten des Propheten versuchten Mystiker eine direkte und persönliche Erfahrung von Gottes Existenz zu machen. Der Sufismus spielte in Anatolien seit Beginn der Islamisierung eine Rolle. Sufis hatten türkische Stämme auf deren Wanderung oft angeführt und auch eine wesentliche Rolle in der Sesshaftwerdung gespielt. Sie bauten Hospize und Mühlen, unterhielten Schulen und vermittelten zwischen verschiedenen Stämmen. Sufis im ländlichen Bereich entwickelten oft eine tolerante Haltung gegenüber Christen und erleichterten so deren Übertritt zum Islam. (Vgl. Lapidus, 2002: 249) Viele Praktiken des mystischen Islams spiegeln teilweise lokale vor-islamische Riten wider, enthalten aber oft auch Rituale, Ansätze und Muster, die dem Schamanismus oder Buddhis­mus entlehnt sind. Der Sufismus als eine Bewegung im Islam bietet dem Einzelnen verschiedene Möglichkeiten, in direkte Verbindung mit Gott zu treten. Dabei stehen manche dieser Praktiken in Gegensatz

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zu einer orthodoxen Auslegung des von der höheren ulema vertretenen sunnitischen Islams.

Die Entstehung von Orden fiel in dieselbe Zeit mit der Entstehung verschiedener islamischer Rechtsschulen. Die mystischen Praktiken und die metaphysischen Ansätze sufistischer Orden wurden zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert entwickelt. Die meisten sufistischen Orden in der heutigen Türkei fanden Eingang über den Iran. Mystische Orden und Bruderschaften bildeten sich meist um die Lehre eines religiösen Führers, eines Scheichs. Einzelne Orden und Bruderschaften wie z. B. die Naksibendi blieben nicht nur lokal auf eine Region oder Stadt begrenzt, sondern konnten sich über das gesamte Territorium des Reiches ausbreiten. Es bildeten sich in einzelnen Städten und Regionen Logen, die oft auch mit den dort vorhandenen Handwerksgilden verschmolzen. Während die Naksibendi vor allem unter städtischen Kaufläuten und Handwerkern Zulauf fanden, waren die alevitischen Orden vielmehr im ländlichen Bereich verbreitet.

Die Bektasis hingegen, die ihren Namen von Haci Bektas (verstorben 1297) (Lapidus, 2002: 249) ableiteten und sich auf seine Lehren bezogen, konnten enge Beziehungen zu dem unter Sultan Murat II. ins Leben gerufenen Janitscharenkorps, den Elitetruppen des Reiches, die sich mehrheitlich aus Söhnen christlicher Familien zusammensetzte, aufbauen. Oft setzen sich diese meist undurchsichtigen religiösen Netzwerke, die durchaus auch in Rivalität zueinander standen, über soziale Klassen, ethnische und regionale Unterschiede hinweg. Aufgrund der relativen sozialen Durchlässigkeit des osmanischen Systems gibt es auch Beispiele von Bruderschaften, die ihren Einfluss bis in die höchsten Kreise innerhalb des Hofes ausweiten konnten.

Die große nicht-muslimische Bevölkerung des Reiches hatte den Status der sogenannten dhimmi (Schutzbefohlenen). Demnach galten die Angehörigen der Religionen des Buches, also Christen und Juden, als Schutzbefohlene des islamischen Staates. Im Allgemeinen wurden Christen und Juden nicht zum Konvertieren zum Islam gezwungen, stattdessen erhielten sie, im Gegenzug für die Entrichtung einer Kopfsteuer, das Recht, innerhalb der Grenzen des osmanischen Staates zu leben. Sie waren damit auch vom Militärdienst ausgeschlossen. Die Nicht-Muslime

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waren demnach in der vormodernen Epoche nicht gleichberechtigte Bürger des Staates, sondern geduldete Einwohner in einem Staat, der sich explizit als islamisch definierte. Dies sollte sich allerdings mit den Reformen im 19. Jahrhundert ändern.

Christen und Juden waren nach Konfessionen in sogenannten Millets organisiert. Innerhalb dieser Millets genossen sie eine gewisse Autonomie, die es ihnen erlaubte, ihre rechtlichen Angelegenheiten selbst zu lösen. So waren die religiösen Würdenträger auch für die Gerichtsbarkeit innerhalb der religiösen Gemeinschaft verantwortlich. Ehe- und Erbrechte wurden z. B. von Priestern oder Rabbis abgehandelt. Ebenso repräsentierten die Geistlichen auch die Gemeinschaft nach außen hin gegenüber dem osmanischen Staat.

Erik Zürcher stellt fest, dass lange Zeit die Funktionen des Millet-­Systems fehlinterpretiert wurden. Während man in Anlehnung an offizielle osmanische Dokumente gedacht hatte, dass sich das Millet-­System aus autonomen Körperschaften nach konfessioneller Angehörigkeit zusammensetzte, die für das gesamte staatliche Territorium galten und an deren Spitze das religiöse Oberhaupt der jeweiligen Kirche in Istanbul stand, legten Forschungen im lokalen Bereich dar, dass diese Autonomie vielmehr als eine der lokalen christlichen oder jüdischen Gemeinschaften gegenüber den lokalen staatlichen Autoritäten zu verstehen ist. (Vgl. Zürcher, 2004: 10)

Aron Rodrigue weist darauf hin, dass all diese beschriebenen Bestandteile des vormodernen osmanischen Systems fließend waren, das heißt, dass es einerseits eine Vielzahl von Übergängen zwischen den einzelnen Institutionen gab und zum anderen sich auch das System selbst stetig veränderte. So konnte es durchaus passieren, dass Christen und Juden sich, falls sie es für ihren Vorteil hielten, an muslimische Gerichte wandten. Der muslimische Kadi urteilte dann entweder nach allgemein anerkanntem islamischem Recht oder interpretierte das christliche oder jüdische Recht. Dass umgekehrt ein Muslim sich an ein christliches oder jüdisches Gericht wandte, war allerdings nicht möglich, schließlich bildete der Islam das hegemoniale System. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Dadurch, dass sich der rechtliche Status eines Individuums von der Religionszugehörigkeit ableitete und auch als primäre Quelle der Identität

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diente, kam es kaum zu Vermischungen unter den unterschiedlichen konfessionellen Gruppen. Dhimmis wurden durch das islamische Recht nicht gezwungen, in Ghettos zu leben, ebenso wenig gab es explizite Berufsverbote für Nicht-Muslime. Dennoch kam es zu einer weitgehenden räumlichen Trennung. Nicht-Muslime tendierten dazu, sich in bestimmten Stadteilen anzusiedeln und betätigten sich in Berufen, die von Muslimen kaum ausgeübt wurden und nach denen großer Bedarf bestand; dazu zählte unter anderem der Handel mit „Ungläubigen“. (Vgl. Lewis, 1981: 28)

In Bezug auf dhimmis galten allerdings lange Zeit Kleidungs- und Verhaltensregeln, die dazu dienen sollten, sie von den Muslimen zu unterscheiden. So durften Nicht-Muslime Kleidungen, Stoffe und Farben, die Muslimen vorbehalten waren, nicht tragen. Juden und Christen sowie ihr gesamter Haushalt waren dazu angehalten, bestimmte Kopfbedeckungen zu tragen und Stoffe in bestimmten Farben an ihren Oberröcken anzubringen. Diese Praxis, die eine früh-islamische war, war von den Osmanen aus Sicherheitsüberlegungen übernommen worden und sollte dazu dienen, dass sich Muslime, die sich seit der rasanten territorialen Expansion des Reiches zahlenmäßig in der Minderheit befanden, gegenseitig erkennen konnten. Bestimmungen, die dhimmis vorschrieben, auf Eseln zu reiten, das Verbot in Städten zu reiten bzw. seitlich, im Frauensitz, im Sattel zu sitzen, das Verbot Waffen zu tragen und ähnliches dienten dazu, sichtbar zu machen, dass dhimmis nicht der Klasse der Waffenträger angehörten. (Vgl. Lewis, 1981: 36) Die spezifischen Verhaltens- und Kleidungsregeln wurden in verschiedenen Epochen unterschiedlich strikt geahndet. Durch wachsenden westlichen kulturellen Einfluss und das Eindringen der westlichen Moderne hatten sie sich bis ins 19. Jahrhundert fast vollständig aufgelöst.

Dennoch hatte die dhimmi-Tradition bzw. die politische Organisation in millets dazu geführt, dass Nicht-Muslime zwar ihre Traditionen, Sprachen und vor allem religiösen Praktiken trotz jahrhundertelanger isla­mischer Oberherrschaft erhalten konnten, aber im Gegenzug dazu isoliert von der muslimischen Bevölkerung blieben. Daraus ist auch zu erklären, dass sogar mehr als 500 Jahre nach der Eroberung Konstan­tinopels durch die Osmanen, viele Nicht-Muslime in der Stadt der türkischen Sprache kaum oder nur bescheiden mächtig waren, bzw. das Türkische mit einem starken Akzent sprachen.

 

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1 Das Kalifat als Funktion des Nachfolgers des Propheten und Führers und Herrschers der Gemeinschaft der Muslime verband von Beginn an religiöse und weltliche Funktionen im selben Amt. Der Herrscher über die Gemeinschaft der Muslime und über das islamische Reich bekleidete damit auch eine religiöse Funktion als Führer der Glaubensgemeinschaft. Schon bald war allerdings die spirituelle Bedeutung des Amtes zugunsten der weltlichen Herrschaft in den Hintergrund getreten. Der Titel wurde vermehrt als ein Herrschaftstitel betrachtet und geriet mit dem Niedergang des Abbasidischen Großreiches beinahe zur Gänze in Vergessenheit.

Die Osmanen begannen nach der Übernahme des Kalifats ihre Abstammung zwar auf den Propheten zurückzuführen, aber auch sie machten kaum Gebrauch vom Titel des Kalifen. Vielmehr wurden die osmanischen Sultane als Padischah, als König der Könige, bzw. Kaiser verehrt. Im 19. Jahrhundert sollte Sultan Abdülhamit das Kalifatals ein Mittel zur Mobilisierung der muslimischen Massen für den Kampf gegen den westlichen Imperialismussehen. Hierzu weiter unten.