Buch lesen: «Traumafolge(störung) DISsoziation»
Über die Autorin
Die Autorin schreibt als Getroffene von chronischer Traumatisierung und deren Folgen. Sie schreibt mit Erfahrungs- und Fachwissen, um eine Transferleistung von klinisch steriler Theorie in alltäglich verständliche Sprache und wenig sterile Praxis zu versuchen. Diese Texte entstanden mit dem Anliegen, ihre Privilegien des Wissens und der zu Teilen (wieder)gefundenen Sprache (mit)teilen zu dürfen.
Zora Kauz
Traumafolge(störung) DISsoziation
Aufschriebe, um teilend Verständnis
zu versuchen
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2021
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Titelbild © Zora Kauz
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Intro
1 Trauma
1.1 Begriffs(er)klärung
1.2 Unser Nervensystem im Trauma
1.3 Okay. – Und jetzt?
2 Differentialdiagnosen
3 Ein Einstieg zu uns
3.1 Wofür Anteile?
3.2 Anteile durch Traumatisierung
Exkurs: Erklärung von Introjektion zum Verständnis der Täterintrojekte
„Bewusste“ Theorie und Praxis
4 (K)eine Diagnose (nur für Titel-Interessierte)
5 Dissoziation
5.1 „Alltags-Dissoziation“
5.2 Dissoziation im Trauma
5.3 Erinnerungen und Trigger
6 Therapie – Bisschen reden und so
6.1 Akkuschrauber, Bits und Schraubenköpfe
6.2 Die Theopraxis der drei Phasen
6.3 Wir in der Therapie
7 Ausdruck
7.1 Worte bis Alles
7.2 Musik
8 C16H13CLN2O
9 Über das Leben reden reicht nicht, um zu überleben
9.1 Die Vita der Suizidalität
9.2 Gibt es Hoffnung(slosigkeit)?
9.3 Wer beim Sterben dabei war, „hilft“ später gefährlich
10 Warum wir nicht gestört sind
Erstens: Grundsätzlich
Zweites Erstens: Lernen
Zweitens: Alte Schmerzen sind keine Einbildung
11 Ent-wicklung einer Wohnkommunikation
12 Wieder wie ein Kind – Oder auch nicht
13 Versteckspiel
13.1 Kontrollverlust
13.2 Soziale Versuche
13.3 Quanten(psychologie), Quarks und Schuld
13.4 Versteckte Einsamkeit
14 Schreiendes Schweigen
14.1 Keine Stimme
14.2 Wir schweigen nicht grundlos
14.3 Tödliche Scham
15 Schamvolle Hochleistung
15.1 (Be-) Schämende Rudeltiere
15.2 Etiketten sind für Dosen
15.3 Zum Leben-Lernen
16 Unser Leben ist mehr als Traumatisierung
17 Atmen
17.1 Kleine Schönheiten
17.2 Sympathische Power
17.3 Hirn- und Körperbewusstsein
17.4 Energy-Yoga
18 Tägliches Chaos
19 Häufig gestellte Fragen oder eher: Häufig getroffene Aussagen
19.1 „Du machst mir Angst.“
19.2 „Wenn du Panik hast, schlägst du dann wild um dich?“
19.3 „Ich mag dein anderes Ich viel lieber.“
19.4 „Richtig interessiert hat es dich wohl nicht, sonst hättest du besser zugehört.“
19.5 „Lüge doch nicht. Natürlich hast du das (nicht) getan.“
19.6 „Was denn, du hast auch körperliche Symptome?“
19.7 „Ach, du, das kenne ich auch. Mach doch einfach dies und das.“
19.8 „Aber du kannst das ja immer noch machen.“
19.9 „Kannst du es nicht einfach hinter dir lassen, damit abschließen und nach vorne blicken?“
19.10 „…?“
19.11 „Nimm doch nicht immer alles so ernst.“
20 Wird schon
20.1 Keine Pause
20.2 Realitäten
20.3 Wut hilft gegen Selbstzerstörung
20.4 Wissen, um zu denken, handeln, um zu sein
Glossar
Literatur
Intro
Es sollte mal „etwas Großes“ werden, ich hatte die Vorstellung, etwas gut Zugängliches zu schreiben, das Wissen, die Erfahrungen, die Aufklärung, Sensibilisierung in etwas Ganzes zu verpacken. Denn es ist so die Annahme, dass es überschaubar und leicht verpackt sein muss. In einer fortlaufenden Geschichte, sodass es einfach und vor allem gut und gerne zu lesen ist. Aber das ist nun mal nicht unsere Realität. Unser Alltag ist meist keine fortlaufende Geschichte. Sehr viele Erinnerungen, (noch) keine sinnstiftenden Erzählungen, und einige werden es nie sein.
Es mag variieren von eher fachlichem Ausdruck zu erlebensnaher Sprache, doch hoffe ich, so manches verständlich machen zu können, was im Fachlatein doch abschreckend kompliziert aussieht und auch oft wenig mit der Praxis zu tun hat, allein schon, weil unsere Perspektive dort meist nicht vorkommt. Es sind Gedanken, „Raus-schriebe“, Bitten, Wissensteilungen, um Verständnis, oder zumindest etwas in dieser Richtung, zu schaffen. Wichtig an dieser Stelle hinzuzufügen ist mir, dass auch, wenn wir nicht (nur) von uns als System, also einem Menschen, schreiben, sondern andere mit einbeziehen möchten, wir unmöglich „Wahrheiten“ beschreiben können. Jedes Erleben und jede Lebensrealität ist unterschiedlich und wer wirklich auf konkrete Fragen Antworten will, muss immer den Mensch selbst fragen. Ob es dann eine (verständliche) Antwort gibt, ist natürlich nicht garantiert. Andere mit einbeziehen bedeutet nicht, für andere schreiben zu können! Es bedeutet lediglich, dass wissenschaftliche Grundlagen, der Fakt, dass Gewalt kein Einzelfall ist, und dass immer individuell geschaut werden muss, allgemein gelten. Ich will vermeiden, dass sich Menschen von diesen Aufschrieben distanzieren müssen, weil ihnen unterstellt wird, mit dieser oder jener Diagnose so oder so sein zu müssen. (Eine Diagnose sagt nichts über individuelle Fähigkeiten, Interessen, Möglichkeiten, nichts Konkretes über die Geschichte oder Einstellung dazu aus, und etwas, das gerne unbeachtet bleibt – Diagnosen, auch die, die mit komplexer Traumatisierung in Verbindung stehen, erzählen allein nichts über die Intelligenz eines Menschen, ob emotionale, körperliche, soziale oder kognitive) Es sind (Mit-)Teilungen, um teilzuhaben und teilhaben zu lassen.
Wir schreiben manches mehr als Vision, als dass wir es schon verinnerlicht hätten, doch wollen wir diese teilen. Tatsächlich verstehe ich sehr viel nur theoretisch, mit Distanz, und kann oft noch keinen Bezug zu uns herstellen. Dann weiß ich Dinge schon, jedoch begreife ich sie erst Monate oder Jahre später. Auch schreiben wir von scheinbaren Überzeugungen, von denen ich wahrlich für andere Menschen überzeugt bin, nur für uns selbst noch nicht. Ich glaube, Schützendes für andere zu formulieren, ist ein Schritt, um es irgendwann auch für uns selbst zu können. Ich schreibe in den Momenten, in denen ich dazu in der Lage bin, weil sie kostbar und nicht immer verfügbar sind. Vielleicht ist es verschwendete Energie, weil es für andere nicht das sein kann, was ich mir wünschen würde, dann wäre es „nur“ für uns wertvoll. Das Schreiben ist unser „sicherer Ort“, hier darf Ausdruck sein, hier schaffen wir es, Verbote zu umgehen, hier sind Auseinandersetzungen, ohne Einfluss von außen, möglich und dadurch ist es sehr wahrhaftig. Und wenn ein Mensch davon liest und sich in Teilen wiederfinden kann oder es ihm_ihr vielleicht einen Moment der Hoffnung bringt, weil es spürbar macht, nicht ganz alleine zu sein, oder es ein Mensch liest und in einer Begegnung mit einer betroffenen Person daran denkt und vielleicht dadurch weitere Verletzungen vermeiden oder gar Unterstützung bieten kann, dann reicht mir das. Dann weiß ich: Dafür hat es sich gelohnt. Denn wir schreiben auch für all die Male, in denen wir erneut geschwiegen haben, in denen wir wieder schweigen, in denen wir schweigen werden, in denen die Stimme versagt und niemand das schreiende Schweigen hört und noch viel weniger hören will. Nach einer Besprechung der Hilfeplanung, in der wir nur zustimmend genickt haben, weil der Versuch aufzuklären zu kraftintensiv und zu wenig erfolgversprechend gewesen wäre: Ich bin mal wieder halb erstickt am Schreien, im Innen, weil Selbstvertretung nicht geht, wenn du nicht weißt, wer oder was mit „selbst“ gemeint sein könnte. Für uns eine Tortur mit Folgen, für die anderen nur ein Termin im Arbeitskalender. Für die anderen eine Akte, für uns ist es das, was wir Leben nennen. Es ist so viel einfacher hier, alleine Dinge zu formulieren, ohne die Präsenz eines anderen Menschen. Ich weiß, dass wir es dann (noch) nicht können. Aber so kann ich es, und auch das war ein Weg.
Es sind verschiedene Aufschriebe, die Wirkungskraft der Texte kann deutlich umschwingen, denn nicht jedes Ich, das hier schreibt, ist ein und dasselbe Ich, ist nicht das, was von außen als du bezeichnet wird. Alle Fachbegriffe oder sonstigen Bezeichnungen finden entweder direkt oder im Glossar ihre Erklärung, bei ihrer Erstnennung sind sie fett markiert.
Die Scham der Beschämung will auch hier schon gehört werden: „Wer bildest du dir ein zu sein? Du bist es nicht wert, gehört zu werden. Wie kannst du es wagen, das zu schreiben?“ Aber ich weiß, dass ein leiserer Teil der Scham mit ähnlichen, nicht ganz so vehement formulierten Aussagen uns eigentlich nur vor Zurückweisung, erniedrigenden Kommentaren oder harter Kritik schützen will. Sie wird uns begleiten. Immer wieder. Manchmal direkt, oft zwischen den Zeilen. Ich weiß, wir nehmen all das, wovor die Scham warnt, in Kauf für den Fall, dass dies nicht nur auf einem USB-Stick gesichert und dann vergessen wird. Einer der Hauptgründe, weshalb die Verwirklichung von diesem Schreibprojekt sehr oft gefährdet ist, ist nämlich tatsächlich die Scham. Aber in einer anderen Form. In einer Weise, in der sie ihre giftigen Fasern um uns schlingt und uns zu ersticken droht. In ihrer existenziellen Macht, mit welcher sie uns unsere Daseinsberechtigung nimmt. In ihrer Zusammenarbeit mit der Schuld, weil wir eigentlich unter keinen Umständen wollen, dass irgendwer irgendetwas weiß. Wie bescheuert ist es denn, sich tagtäglich zu verstecken, Symptome mit aller Kraft zu vertuschen, Ausreden zu finden und dann über all das, was wir verheimlichen, zu schreiben und es andere lesen zu lassen? So denke ich oft, dass wir es nicht schaffen, dass ich es gar nicht schaffen will, aber dann treffen wir auf Vorurteile, Unverständnis, Ausgrenzung, Entwertung, auf Verletzungen aus Unsicherheit und schaffen es nicht, etwas zu sagen, und wissen, dass wir damit nicht alleine sind, auch wenn es sich so anfühlt. Darum denke ich, dass es, darauf bezogen, total egal ist, was die Scham sagt, weil es nicht um uns, sondern um viele viele geht, weil viel zu viel schreiendes Schweigen nicht gehört wird, weil ich weiß, dass wir Privilegien haben, mit denen wir den Versuch wagen können, kleine Verständnis-Bereiche zu erschaffen.
Wir schreiben das hier nicht aus Freude am Thema. Ich würde gerne andere Dinge schreiben. Wir sind nicht stolz darauf, gleichzeitig fühle ich uns sehr privilegiert, das hier überhaupt schreiben zu können. Ich empfinde es als großes Privileg, überhaupt Worte gefunden zu haben und mich über die Theorie soweit von mir entfernen zu können (als Mechanismus, den ich absichtlich wähle und durch den ich bei Bewusstsein bleibe!), damit ich es ertragen kann, das hier zu schreiben. Manchmal ist es entweder Theorie oder eigene Betroffenheit, weil beides gleichzeitig nicht immer auszuhalten ist. Ohne Meta-Distanz wäre es uns nicht möglich, Fachliteratur zu lesen, was durch die dort verwendete Sprache erleichtert wird. Aus Vorausgegangenem erschließen sich auch die Grenzen der Themen, die wir beschreiben. Es sind keine Erlebnisberichte von traumatischem Geschehen und wir beschreiben auch die Prozesse der Anteilsbildung/Entstehung der dissoziativen Struktur nicht konkret persönlich, sondern ihren prinzipiellen und wissenschaftlichen Hintergrund. So auch primär nur das (konditionierte) Lernen im Bereich der Erfahrungskonditionierung. Es ist nichts, was wir zum Friede-Freude-Zeitvertreib tun, aber ich finde jeden Versuch, etwas zu teilen, um Verständnis überhaupt möglich machen zu können, wichtig. Und alle, die es versuchen können/wollen, kann ich nur bestätigen und ihren Mut anerkennen. Es ist unglaublich anstrengend, ständig Dinge erklären oder rechtfertigen zu müssen, und all das, von dem wir glauben, dass es ohnehin nie verstanden werden kann, zu vertuschen. So kann es auch eine Art Selbstbestrafung sein, einfach immer zu nicken, wie gelernt, uns als das zu sehen, was uns von außen gesagt wird, mit allen Konsequenzen, die das, auch im Hilfesystem, haben kann. Nicht mehr versuchen, verstanden zu werden, bedeutet auch erneute oder anhaltende Abkapselung und das ist früher oder später tödlich. Verstehen bedeutet hier eigentlich zunächst mal nur wissen, also unser Erleben, unserer Realität „nur“ geistig aufnehmen. Wenn wir dann tatsächlich damit angenommen werden, es also wahrgenommen und assoziiert werden kann, dann entsteht vielleicht nachvollziehende Erkenntnis. Das impliziert nicht unbedingt Empathie auf emotionaler Ebene. Die Aufklärung im Bereich der Dissoziativen Störungen oder allgemein komplexen Traumafolgen hat glücklicher Weise ja Fortschritte gemacht hat, ist aber wahrlich noch ausbaubar und bislang nur dort vertreten, wo Menschen sich dazu entscheiden aktiv etwas für die eigene Aufklärung oder Weiterbildung zu tun.
Wir möchten schreiben, damit sich vielleicht hier oder da ein Mensch nicht zusätzliche Schuld für die eigene Fehlerhaftigkeit und Schwäche aufbürden muss, sondern lernen darf, für sich zu sorgen, weil sehr viel sehr viel Sinn ergibt. Denn wir sind nicht krass krank und völlig kaputt. Wir haben einfach nur überlebt und müssen mit den Nachfolgen lernen umzugehen. Aufklärung, damit wir uns der eigenen Leistungsfähigkeit bewusst werden können, weil unser Organismus für unser Überleben sorgte in Situationen, in denen dieses ernsthaft bedroht war. Um mit dem Glauben an die eigene Kraft zu stolpern, zu fallen, durchzuhalten, auszuhalten und zu (er)tragen lernen, um leben zu dürfen und zu können. Das ist es, worum es in diesen Texten geht. Wir sind nicht gestört, schwach oder krank, weil wir unter den Folgen von traumatischen Ereignissen leiden. Wir sind nur Menschen, die Traumatisierung erfahren mussten. Das ist etwas, das uns passiert ist, das ist nicht alles, was wir sind, auch wenn es für immer zu uns gehören wird. Eben weil ein Trauma Narben hinterlässt, die nie vergehen werden, ist es so wichtig zu verstehen, was mit uns passiert bzw. passiert ist. Zunächst, um die Unterstützung zu bekommen, die wir brauchen, aber auch, um uns selbst verstehen und annehmen zu können.
„Wissen Sie, Wissen ist Macht“, sagte eine Ärztin in einer Klinik damals und überreichte uns mit diesen Worten ein Buch zu Sozialen Phobien, mit dem Zusatz, dass sie keine klassische Soziale Phobie diagnostizieren möchte, aber dass ich etwas zur Scham lesen könnte. Soziale Phobien standen zu Beginn unserer Klinik-Diagnosen-Karriere auf den Diagnoseachsen, später hat man sich aber wieder dagegen entschieden, dass extra zu diagnostizieren. Tatsächlich las ich nicht viel in diesem Buch, da ich zu dem Zeitpunkt eine Konzentrationsspanne von etwa 12 Sekunden hatte. Aber bis dahin hätte ich nie gedacht, dass ich mich schäme. Auch wenn alles andere zusammengestürzt war, diesbezüglich war alles, wie es immer gewesen war. Das gehörte zu mir, dieses Gefühl, etwas zu sein, das es selbst nicht gibt, das nur mit einem Du existieren kann, die Überzeugung, bei Aufmerksamkeit verschwinden zu müssen und falsch zu sein. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich mich schäme, geschweige denn, dass das dann ja etwas mit anderen zu tun haben muss, weil es ein soziales Gefühl ist, somit also mindestens einen anderen Menschen braucht, um dieses Gefühl entstehen zu lassen. Am allerwenigsten wäre ich auf die Idee gekommen, dass diese Scham nicht nur natürlich, sondern auch aus aktiver Beschämung entstand, also mit Gewalt auferlegt wurde und nur sehr wenig mit eigener Fehlerhaftigkeit zu tun hat.
Aber es stimmt. Wissen ist bekanntlich Macht. Wissen löst keine Angst, kann aber die Angst vor der Angst lindern. Wissen widerlegt das Argument, völlig gestört zu sein, Wissen macht Hoffnung, weil unser Gehirn so unfassbar flexibel ist und verdammt viel überstehen kann. Ganz oft nimmt uns Wissen Erfahrungen, weil Menschen sich gerne einbilden, etwas schon zu kennen, darüber Bescheid zu wissen, dann ist der Super-effiziente-Denk-Kopf an, aber die Sinneserfahrung aus. Jetzt ist es aber genau andersrum, wenn wir ein daueralarmiertes Alarmsystem haben, das uns alle Gefahr anzeigt, wir in keinster Weise wissen, woher all diese Emotionen, Wahrnehmungen, Stimmen, Zeitverluste kommen, und uns ständig in eine Überforderung und dadurch Dissoziation treiben. Dann läuft das andersherum. Jedenfalls gab mir Wissen zunächst Halt. Dinge ergaben Sinn. Erstaunlich viel sogar. Zunächst nur die Symptomatik, Erlebnisse, die traumatisch genannt wurden, noch lange nicht. Das dauert noch ein paar Ewigkeiten. Aber als ich so ganz Grundlegendes verstand, konnten wir uns auf vieles Hilfreiche einlassen. Ich lernte den gravierenden Unterschied zwischen erdender Achtsamkeit und überreizter Wachsamkeit. Wissen gab uns den Startschubser, um glauben zu können, dass Traumatherapie vielleicht etwas bewirken kann, Wissen ist sympathischer als Vertrauen. Irgendwann hilft uns auch Wissen nicht mehr weiter, weil wir durch Erfahrung lernen müssen. Doch war es ein Grund, auf dem wir bauen konnten. Irgendwann konnten wir dann beginnen, das mit dem Zutrauen zu versuchen. Manchmal gibt es Momente, da glaube ich, dass es sogar vertrauensvoll ist, bei uns, in der Therapie. Denn wir genießen das Privileg von einer Therapeutin begleitet zu werden, die ihre eigenen Ängste kennt, die sich nicht scheut, ihre Wut oder Ohnmacht kennenzulernen, die weiß, wie es sich anfühlt in ihr selbst. Empathie kann Scham übertragen. Und genauso auch Mitgefühl. Im Idealfall haben wir in der Therapie ein Vorbild, das uns zeigt, was Mitgefühl ist, um uns, die Empathie als Überträgerin nutzend, anstecken zu lassen. Damit wir im Prozess, immer wieder ein Stückchen mehr, diese Nachsicht und Akzeptanz, für uns selbst entwickeln können.
„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ F. Nietzsche
Chaos haben wir genug. Diese (Mit-)Teilungen hier sind kein wunderschönes Himmelsbild, keine Besonderheit und auch kein erleuchtender Sternzeichenführer. Aber vielleicht können sie ein kleiner, unscheinbar tanzender Stern in einem Himmel voller Sterne sein, deren innenliegende Erfahrungsweisheit gemeinsam scheinend tatsächlich Wege erleuchten und Möglichkeiten aufzeigen kann. Denn Wissen und Erfahrungswerte, also wirklich Gelerntes, können erst für kollektive Entwicklungschancen wirksam werden, wenn sie geteilt werden.
1 Trauma
1.1 Begriffs(er)klärung
Das Wort „Trauma“ wird oft sehr ungenau und sowohl umgangssprachlich als auch in den Medien seiner Definition entfremdet und leider ziemlich inflationär benutzt. Ich habe ewig gebraucht, bis ich akzeptieren konnte, traumatisiert zu sein, was auch nur der Verleugnung diente, aber die großzügige Verwendung dieses Wortes macht es nicht leichter. Denn wenn jemand von der wiederholten Tatsache, im Regen draußen ohne Regenschirm zu sein, „traumatisiert“ ist, warum leide ich dann so sehr, wenn es das ist, was mir zugeschrieben wird? (Es gibt ernsthaftere Beispiele, dieses kommt aus einem Sachbeitrag, in dem sich drei Fachleute zum Thema posttraumatische Belastungsstörung äußern und über psychische Krankheiten aufklären … Ja, genau. Wir können den Kopf darüber schütteln, dass diese Menschen wohl etwas nicht verstanden haben – schade. Aber es ist nicht einfach „nur“ schade. Es ist viel schlimmer, weil ein riesiger Schaden angerichtet wird, den Traumatisierte, mit wesentlich eingeschränkterer oder gar keiner Stimm-Reichweite aushalten müssen. Wir müssen aushalten, wenn Menschen mit geradlinigerem Lebenslauf und bester Bildung darüber bestimmen, wie uns begegnet wird, wie wir behandelt werden, welche Vorurteile über uns verbreitet werden. Ebenso schlimm, dass sie es vielleicht gar nicht böse meinen und mit ihrem verfälschten Bericht darum sehr seriös und glaubhaft wirken/auftreten. Es wäre zwar immer noch wenig aufgeklärt, aber wohl menschlich, wenn sie im Dienstzimmer so reden oder privat sich unbedacht äußern, und mir dann auch egal, weil es dann keine so direkte Auswirkung hätte. Aber wenn Menschen mit angeblicher Fachkenntnis öffentlich behaupten, dissoziative Amnesien seien „praktisch, um sich vor Gericht zu ent-schuldigen“, dann ist das ein gewaltiger Schlag ins Gesicht, und ich weiß, wovon ich spreche. Mit dieser Aussage klingt die Dissoziative Identitätsstörung wie eine vorteilhafte Einbildung/Erfindung. Damit wird die Traumatisierung geleugnet, all das Leid, welches weiterhin durch die Folgen entsteht, so klingt es nach bewussten, manipulativen Entscheidungen. Dabei geht es um chronische Kontrolllosigkeit und Ohnmacht jeglicher Entscheidung gegenüber. Es lähmt, so etwas hören zu müssen. Und wenn ich neben dieser verletzenden emotionalen Falschheit die Fakten mit einbeziehe, ist es eben nicht so, dass eine Diagnose vor Gericht schützt und Freiheit sicherstellen würde. Denn wenn ein Mensch eine Straftat begeht, der bspw. unter schweren akuten psychotischen Symptomen leidet und/oder eine Intoxikation vorliegt, er somit vermindert oder gar nicht schuldfähig ist, geht er_sie statt ins Gefängnis, in die Forensik – den Maßregelvollzug zur Besserung und Sicherung – was ja bei tatsächlicher Gefährdung auch richtig so ist.)
Aber auch in ernsthaften Beispielen finde ich es schade, dass alles krankhaft gemacht werden muss, damit es eine Berechtigung hat, schwer zu sein. Trauer wird als Störung diagnostiziert, wenn sie einen bestimmten Zeitraum anhält bzw. diese Zeit den Grenzwert für die Diagnose überschreitet. Es ist aber so, dass Trauer keine Zeitangaben kennt. Trauer wird immer da sein, auch wenn sie sich verändern kann und vielleicht weniger überflutend wird. Es ist schlimm, dass gesunde Menschen Krankheitsmodelle auf das Leben, mit seinen Krisen, Schicksalsschlägen, Triumphen und Höhen, überschreiben und mehr Leid entstehen lassen als eigentlich da ist. Denn wie der Tod, gehören auch Schmerz, Leid und Trauer zum Leben dazu. Auch für traumatische Ereignisse sind wir evolutionsbedingt ausgelegt, um sie zu überstehen. Wenn wir diese Mechanismen chronisch nutzen müssen, um zu überleben, dann wird es destruktiv oder „krankhaft“. Zudem, dass sich Zustände verschlimmern können, weil sie ja als krankhaft bezeichnet sind und dadurch die Kompetenz abgesprochen wird, sie zu überstehen, werden tatsächliche psychische Erkrankungen weniger ernst genommen. Wenn jede Verstimmung eine Depression ist, eine schützende Angstreaktion, nach einem Unfall beispielsweise, eine Angststörung, die Trauer um ein verlorenes Kind eine Trauerstörung, dann bedeutet das, dass es ein gesundes Leben gar nicht gibt, dass jede Art der Bewältigung irgendwie krankhaft ist. Gleichzeitig sind psychische Erkrankungen gar nicht ernst zu nehmen, weil ja jede Krise eine solche ist.
Im ursprünglichen Sinne bedeutet Trauma (griechisch traũma) Wunde, Verletzung und wird erst seit Ende des 19. Jahrhunderts auch in der Psychologie für Schock oder seelische Erschütterung verwendet. In verschiedenen medizinischen Bereichen beschreibt das Wort den Schweregrad einer Verletzung oder genauer deren Folgen. Wir hatten ein Frontzahntrauma infolge eines der psychologischen Traumata, was einfach nur heißt, dass ein Schneidezahn zerbrochen und die Wurzel verletzt war. So ist auch ein Geschehen an sich kein Trauma. Vielleicht gibt es Menschen mit stabileren Zähnen, die vorher noch nie angebrochen waren, oder die ohnehin eine Zahnlücke haben, diese hätten in derselben Situation kein Frontzahntrauma erlitten. Genauso kann es auch mit den seelischen Verwundungen sein.
Verschiedene Ereignisse können potentiell traumatisch sein. Die Intensität und Unberechenbarkeit des Geschehens spielen eine Rolle sowie die Unkontrollierbarkeit durch unmittelbare Gewalt eines anderen Menschen, einer Naturkatastrophe oder eines Verkehrsunfalls. Für mich die Quelle des Leides ist, von den Flutwellen immer wieder eingeholt und erneut von den tödlichen Wassermassen verspult zu werden, was definitionsgemäß einem Trauma zugrunde liegt, das Ausgeliefertsein in Momenten der Todesangst.
Traumata können vor und mit der Geburt entstehen, und je jünger wir sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass uns für bestimmte Situationen die Fähigkeiten fehlen, um auf schlaue Säugetier-Art damit umgehen und somit das Erleben integrieren zu können. Die Auswirkungen von vorgeburtlichen Traumata und frühkindlichen Belastungen, die auch durch problematische oder kontroverse Bindungserfahrungen entstehen, sind schon länger bekannt, allerdings nur selten offensichtlich, da zu solch frühen Erlebnissen schließlich auch ohne dissoziative Amnesie oft die bewussten Erinnerungen fehlen. Solche Erfahrungen manifestieren sich im Erwachsenenalter aber nicht unbedingt in Traumafolgestörungen, sondern sind oft auch Ursache von anderen psychischen oder körperlichen Krankheiten wie allgemeine Immunschwächen. Somit können auch Vernachlässigung oder Beziehungsabbrüche, besonders von wichtigen Bindungspersonen im Kindesalter, welche nicht direkt lebensbedrohlich sind, durch die entstehende Todesangst traumatisch werden. Als deutliches Beispiel das Bild eines Säuglings, welcher vor Angst/Unruhe oder Hunger schreit und nicht erhört wird, wodurch eine lebensgefährliche Situation für das Wesen entsteht, denn ein Säugling hat keine andere Möglichkeit, sich Hilfe zu holen, Nahrung zu erlangen, und auch keine Fähigkeiten, um sich selbst zu beruhigen, Zustände allein zu regulieren. Wenn in dieser Stresssituation keine Beruhigung oder Befriedigung des Bedürfnisses erfolgt, ist der Säugling der Situation ausgeliefert und kann sie lediglich überstehen (oder auch nicht, s. unten), denn er hat keine andere Chance, um den Stress zu bewältigen. Genauso kann Vernachlässigung durch Menschen, die eigentlich die Verantwortung für ein Kind tragen und in anderen Momenten doch Zuneigung zeigen, das Verständnis und die Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten.
„Ein Trauma ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, welches mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer und Riedesser)
Das ist nun ein bisschen verrückt von unserer Alltagssprache, beschreibt aber den grundlegenden Faktor des schutzlosen Ausgeliefertseins und die Todesangst, um die es beim Trauma geht, da unser Verstand und Rationalität einfach nichts mehr zu melden haben. Das „Diskrepanzerlebnis“ besagt, dass wir keine Möglichkeiten mehr haben, die Gefahr im Säugetier-Modus bewältigen zu können.
Was mich immer wieder verunsichert hat, ist diese „Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“. Fast überall, wo Traumata besprochen oder beschrieben werden, wird diese „Erschütterung“ genannt. Das verunsicherte mich, weil ich nicht erschüttert war. Ich kann mich an kein Ereignis erinnern, dass zu einer Erschütterung von meinem Selbst- oder Weltbild geführt hat, und ich glaube, dass das nicht nur an den Amnesien liegt. Es ist vielmehr so, dass, wenn wir chronisch (und früh) traumatische Erfahrungen machen müssen, sich unser Selbst- und Weltverständnis an diese Erschütterungen anpasst, damit wir die wiederkehrende Gefahr überstehen können und nicht jedes Mal wieder erschüttert werden. Das bedeutet, dass das, was andere erschüttert, unsere Richtigkeit, unsere Realität wird, die in sich dann wieder logisch ist. Auch die Frage von therapeutischer Seite, ob „ich“ noch wüsste, wie es vorher war (damals wusste noch niemand, dass sehr viel mehr Lücken in unserer Biografie sind), konnte ich nicht beantworten. Es gibt kein Vorher und kein Nachher, wenn da für manche nichts war und dieses Selbst- und Weltverständnis schon immer so besteht, denn da, wo ich angefangen habe, haben wir schon so funktioniert. Das, was mein Selbst- und Weltbild erschüttert, ist die Therapie. Denn sie greift genau dieses Schema an, in dem all die Gewalt richtig ist.
Ähnlich verunsichernd wie die „Erschütterung“ war es mit der Fachbeschreibung von Flashbacks. Dies sei „ein filmhaftes Wiedererleben traumatischer Situationen“ oder ähnliches. Hatte ich aber nie. Das war für mich auch der Beweis, nicht traumatisiert sein zu können, weil Flashbacks anfangs für mich lediglich körperlich auftraten; es waren nur Schmerzen und Übelkeit, später auch Gerüche und Geräusche, aber das war ja alles echt für mich. Ich konnte all das nicht als Flashback einordnen (noch heute sind bestimmte Empfindungen eine große Herausforderung oder es ist mir in manchen Situationen auch gar nicht möglich zu differenzieren, ob etwas tatsächlich Hier-und-Jetzt einen Reizauslöser hat oder „alt“ ist), weil ich dachte, „echte“ Flashbacks sind so hundertprozentig mit Allem zurück, und Bildern und Szenen und all so was. Ist halt nicht unbedingt so. Und es ist auch kein Wieder, wenn es doch für uns neu ist. Inzwischen gibt es Bilder, aber das sind mehr Schnipsel, keine Szenen. Mal sind bestimmte Schmerzen da, ein anderes Mal ein Geruch, ob oder was und wie das zusammengehört, müssen wir noch herausfinden. Aber das scheinbare Fehlen von so „richtig echten“ Flaschbacks war eine von mehreren Theorien, die ich ordentlich ausarbeitete, um zu „beweisen“, dass das mit dem Trauma eigentlich nicht sein kann. Unsere Therapeutin hat meist einige Belege widerlegt. Aber ja, Vermeidung und Verleugnung können sehr zeit- und energieaufwändige Beschäftigungen sein. In der Therapie wird unsere Schuld, ebenso wie die Selbstzerstörung, infrage gestellt, jedoch nicht, ohne ihre Wichtigkeit zu Zeiten der Gewalt anzuerkennen. Die Scham wird eingeladen, ausgehalten und ihre Überzeugungen hinterfragt, unsere Daseinsberechtigung und unser Wert als Mensch wird einfach so als Fakt dargestellt. Das ist Erschütterung! Immer wieder. Denn was über lange Zeit und Wiederholung ausgebildet, gelernt oder auch antrainiert wurde, braucht auch Zeit und Wiederholung, um umgelernt zu werden.