Neues aus Dorpamarsch

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Aus der Reihe: Dorpamarsch #2
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Neues aus Dorpamarsch
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Wulf Köhn

Neues aus Dorpamarsch

Das Testament der Emma Heldenreich

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

2015 - Rückblick

Seniorenschiff „Welt & Mehr“

Dorpamarsch

2016 - Das Attentat

Das merkwürdige Grab

Ein Erbe mit Folgen

Schwarz und ohne Zucker

Die geheimnisvollen Pläne

2017 - Rieke

Schwarzmarkt – Made im Gewölbe

2018 - Duell der Behörden

2019 - Der Prototyp

Wolfs Revier

2021 - Mensch oder Maschine

Rieke und der alte Mann

Schatzsuche

2022 - Das Wunder von Dorpamarsch

Der heilige Friedrich

2023 - Unheimliche Begegnung der gefährlichen Art

Dorpamarsch und die Sahara

Der Herr mit der Aktentasche

Der Taucher

Das Geheimnis der Metallkassette

Die Suche im Zeitungsarchiv

Ein Gruß aus dem Jenseits

2024 - Gasthaus zur Drohne

Es werde Licht

Dobbermann kennt sich mit Keilschrift aus

2025 - Der Wolfspelz

„Männerkram“

Der Blubb

Colossus geht auf’s Ganze

Das Patent

Der Erlkönig

Es raschelt in der Kiste

Raupes Traum

2026 - Colossus wandelt sich

Eine unglaubliche Entdeckung

Auf der Suche nach den Wurzeln

Fritz

2035 - Gedanken auf dem Weg nach Stockholm

Sternenlicht

Selbstversuch

Raupes Entscheidung

Die Planung

2050 - Das Dorf feiert

Das Ende

Epilog

Über den Autor

Impressum neobooks

Vorwort

Das Heute ist das Gestern von morgen.

Doch wer weiß das schon so genau?

Wulf Köhn

Eigentlich müsste es „Zwischenwort“ heißen, denn es steht zwischen dem ersten Band mit dem Titel „Das skurrile Leben der Emma Heldenreich“ und dem hier vorliegenden zweiten Band „Das Testament der Emma Heldenreich“. Es stellt sozusagen eine Verbindung her, denn es empfiehlt sich, den ersten Band gelesen zu haben, um den zweiten verstehen zu können. Genau genommen, bilden beide Bände eine Einheit. Einige Geschehnisse aus Emmas Leben bekommen erst nach ihren Tod einen Sinn, andere in der Zukunft greifen auf ihr Leben zurück, also auf die Vergangenheit.

Natürlich kann man auch nur den zweiten Band lesen. Dann wird man einiges aber nicht verstehen, weil der Wissensvorsprung aus dem ersten Band fehlt. Es hat auch keinen Sinn, den zweiten vor dem ersten Teil zu lesen. Dann geht die Spannung aus dem ersten Teil verloren. Wer will das schon? Man kann es drehen und wenden wie man will, es kommt immer aufs Gleiche heraus: beide Bände oder nur den ersten!

Falls euch jemand den zweiten Band geschenkt hat, fragt bescheiden nach dem ersten. Ich bin sicher, dann wird auch dieser bald dazu geschenkt werden. Wenn nicht, müsst ihr ihn eben selber besorgen.

Noch eine Anmerkung: Alle Personen und Handlungen des Romans sind frei erfunden, auch wenn sie zum Teil an tatsächliche Ereignisse anknüpfen und sich auf reale Personen des Zeitgeschehens beziehen. Beim ersten Band konnte ich da beliebig aus dem Vollen schöpfen, denn das 20. Jahrhundert lag ja schon hinter mir. Ich wusste also, was so alles in der Weltgeschichte passiert war.

Der zweite Band beginnt aber im 21. Jahrhundert, also in der Zukunft. Das ist ungleich schwerer zu bewältigen als die Vergangenheit. Schon beim Schreiben merkte ich, dass die Zukunft manchmal schneller war, als ich schreiben konnte.

Am Ende des Jahrhunderts können wir ja dann mal gemeinsam prüfen, ob meine Zukunftsfantasien eingetroffen sind. Bis dahin wünsche ich einfach nur viel Spaß beim Lesen.

Wulf Köhn

August 2016

2015 - Rückblick

In Bremen kehrte der Schiffsarzt Dr. Rasputin auf das Seniorenschiff „Welt & Mehr“ zurück. Er hatte eine wichtige Mission zu erfüllen ge­habt, von der jedoch niemand etwas wissen durfte. Das war sein Ge­heimnis und sollte es auch bleiben.

Die älteste Frau Deutschlands war zu Grabe getragen worden, und Ras­putin hatte sie in ihren letzten 24 Lebensjahren begleitet. Daraus war eine tiefe Freundschaft entstanden.

Wenn er jetzt zurückblickte, wusste er allerdings nicht mehr so genau, wann diese Freundschaft begonnen hatte – und vor allem, mit wem. Drei Schwestern, Emma, Berta und Dora, hatten als Kinder einen Bund geschlossen: „Eine für alle – alle für Eine“, frei nach dem Schwur der „Drei Musketiere“ in dem Roman von Alexandre Dumas.

Nach diesem Schwur hatten sie gelebt und waren immer füreinander eingetreten – hatten alle Widrigkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts gemeinsam gemeistert.

Emma Heldenreich war am 1. Januar 1900 in Dorpamarsch zur Welt gekommen, Berta folgte 1906 und Dora 1914. Als Emma am 1. August 2014 starb, galt sie als die älteste Frau Deutschlands, doch nur Rasputin wusste, dass sie in Wirklichkeit schon seit 1990 in einem Schweizer Kloster begraben war.

Damals war ihre Schwester Berta in die Rolle der Verstorbenen ge­schlüpft, um sich die Rentenzahlungen aus einer Lotterie weiterhin zu sichern. Auch sie starb im Jahre 2000 im Alter von fast 94 Jahren. Da nutzte Dora, die Jüngste und letzte Überlebende der Schwestern die Gunst der Stunde und übernahm ihrerseits die Identität der jetzt angeb­lich 100-jährigen Emma, um sich die Rentenzahlungen zu erhalten. Sie starb unter dem Namen „Emma Heldenreich“ und war somit vermeint­lich die älteste Frau Deutschlands. In Wirklichkeit wurde sie aber „nur“ 100 Jahre alt. Auf diese Weise hatten die beiden Schwestern fast 24 Jah­re lang die Rente von Emma kassiert, immerhin fast zehntausend Euro monatlich. Da war ein recht hübsches Vermögen zusammengekommen und Rasputin der Einzige, der den Schwindel durchschaut hatte. Nun war er der Vermögensverwalter.

Emma Heldenreich hatte notariell verfügt, dass die Hälfte ihres Ge­samtvermögens an ihren Lebensretter Friedrich Rupp, auf dem Schiff nur „Raupe“ genannt, zur Gründung eines „Tante-Emma-Ladens“, ging. Der Betrieb eines solchen Ladens, wie ihn Emma mit ihren Schwestern jahrzehntelang betrieben hatte, war eine ausdrückliche Be­dingung des Testaments. Die andere Hälfte sollte einer noch zu grün­denden Stiftung, die sich um in Not geratene Mannschaftsmitglieder des Seniorenschiffes kümmerte, zufließen.

 

Nun stand Rasputin vor der nicht gerade einfachen Pflicht, den Letzten Willen Emmas zu erfüllen.

Etwas Sorge bereitete ihm, dass die Tatumstände des missglückten Mordanschlags an Emma zwar aufgeklärt waren, doch der Täter wei­gerte sich nach wie vor, seinen Auftragsgeber zu nennen. Wer steckte dahinter, und welche Gefahr ging weiterhin von ihm aus?

Rasputin nahm seine Pflichten als Testamentsvollstrecker sehr ernst. Da er aber auch nicht auf die Tätigkeit als Schiffsarzt verzichten wollte, richtete er für die Stiftung ein Büro auf der „Welt & Mehr“ ein. Das war auch im Sinne der Reederei, deren Mannschaft ja davon profitieren soll­te. Die Stiftung wurde „Emma Heldenreich Stiftung“ genannt und von dem dreiköpfigen Vorstand Rasputin als Vorsitzenden und den Beisit­zern Reeder Hansen und Kapitän Harmsen geführt.

Allein konnte der Arzt aber die Mehrfachbelastungen nicht tragen und suchte nach einem geeigneten Geschäftsführer.

Hartmut Kömmel, inzwischen stellv. Direktor der Nordelbischen Lotte­riegesellschaft, ärgerte sich immer noch darüber, dass er bezüglich der Rentenzahlungen von Emma Heldenreich ausgetrickst worden war. Er vermutete weiterhin, dass er einem großen Betrug aufgesessen war, was ja zweifellos stimmte, doch es war ihm nicht möglich, das zu beweisen. Jetzt, wo Emma nicht mehr lebte, brauchte die „Nordelbische“ auch nicht weiterzuzahlen, aber Kömmel hoffte, eines Tages beweisen zu können, dass die Renten zu Unrecht gezahlt worden waren. Da Emma tot war, konnte er natürlich die Zahlungen nicht zurückfordern, doch vielleicht das angesammelte Vermögen beanspruchen. Das wäre eine Katastrophe für die Stiftung und ganz besonders für Raupe und seine Frau Rieke. Der Traum vom eigenen Tante-Emma-Laden wäre damit geplatzt.

Nun las Kömmel die Ausschreibung der Stiftung für einen Geschäfts­führer. Wenn es ihm gelänge, den Posten zu bekommen, hätte er vollen Einblick in alle Unterlagen und könnte sicherlich auch beliebig an Ras­putin vorbei manipulieren.

Seniorenschiff „Welt & Mehr“

Er hatte sich auf die Ausschreibung bei der EHS beworben und von Rasputin einen Vorstellungstermin erhalten. Das klappte erst, als das Schiff gerade wieder in Bremen war.

Drei Bewerber gab es bisher, doch die ersten beiden hatten auf Rasputin keinen sehr zuverlässigen Eindruck gemacht. Pünktlich um 10.00 Uhr betrat Kömmel über die Gangway die „Welt & Mehr“ und fragte bei der Rezeption nach Dr. Rasputin. Die freundliche Rezeptionistin bat ihn, in der Lounge Platz zu nehmen. Kurz darauf erschien Dr. Rasputin persön­lich und stellte sich vor. Er wolle den Weg zu seinem Büro ausnutzen, ihm einen kleinen Überblick über das Schiff zu geben. Unterwegs sah der Arzt ihn mehrmals prüfend von der Seite an. „Sie kommen mir be­kannt vor. Haben wir uns schon mal kennengelernt?“, fragte er schließ­lich.

Kömmel zögerte. Sollte er sich gleich als Vertreter der Lotteriegesell­schaft zu erkennen zu geben? Warum nicht? Spätestens beim Vorstel­lungsgespräch würde er ohnehin damit herausrücken müssen. „Wir haben uns bereits bei der Nordelbischen Lotteriegesellschaft kennenge­lernt, als Frau Emma Heldenreich ihr Los verlegt hatte. Das ist aber schon 25 Jahre her.“

Rasputin erinnerte sich, doch er kannte natürlich die Beweggründe nicht, die damals zu dem Versuch geführt hatten, Emma ihren Gewinn vorzuenthalten. Der Schuss war ja leider auch nach hinten losgegangen, dachte Kömmel. Nich zuletzt deshalb war er jetzt hier, aber davon durf­te Rasputin nichts merken. Dieser schwieg nachdenklich und versuchte, sich die damaligen Ereignisse in Erinnerung zu bringen. Aber eigentlich war alles für Emma gut ausgegangen. Es gab also keinen Grund, Köm­mel gegenüber misstrauisch zu sein.

Die Geschäftsstelle der Stiftung an Bord des Schiffes bestand aus zwei nebeneinanderliegenden Büros: eines für den Vorsitzenden Dr. Raspu­tin, das andere für den zukünftigen Geschäftsführer.

„Das würde Ihr Büro werden“, stellte Rasputin es vor, „vorausgesetzt, wir können uns einigen. Was haben Sie denn für Vorstellungen?“

Ein Steward brachte eine Kanne Kaffee, zwei Gedecke und etwas Ge­bäck und zog sich dezent wieder zurück. „Das gehört zu den Annehm­lichkeiten hier an Bord“, bemerkte Rasputin, „ich genieße es durchaus.“

„Was haben Sie denn für diesen Posten vorgesehen?“, fragte Kömmel zurück. Erst mal hören.

„Nun“, überlegte der Arzt, „das ist eine Stiftung für gemeinnützige Zwecke. Wir müssen die Kosten natürlich niedrig halten. Ich habe sogar an eine ehrenamtliche Tätigkeit gedacht – natürlich mit einer angemes­senen Aufwandsentschädigung. Mir liegt vornehmlich an einem Mitar­beiter, dem ich vertrauen kann, … der sich voll und ganz mit der Stiftung identifiziert.“

Kömmel wurde ungeduldig. Er musste den Posten haben, ganz gleich, wie er honoriert wurde. Es würde ohnehin nicht lange dauern, außerdem bekam er ja noch sein Gehalt von der Nordelbischen. „Ich schlage vor, dass ich zunächst mal rein ehrenamtlich arbeite, damit Sie mich besser kennenlernen können. Man soll ja nie die Katze im Sack kaufen. Wenn Sie meinen, ich bin der Richtige, werden wir uns schon über die weite­ren Modalitäten einigen.

Rasputin war erfreut. So stellte er sich einen Geschäftsführer vor. Von Anfang an die Initiative übernehmen. Die beiden wurden sich schnell einig. Kömmel würde zunächst für sechs Wochen ohne Bezüge die Ge­schäftsführung übernehmen und beweisen, was in ihm steckt. Rasputin hatte auch schon den ersten Auftrag für ihn.

„Mein lieber Herr Kömmel“, sagte er, „ich habe noch eine Pflicht zu er­füllen, die zwar nicht mit der Stiftung, dafür aber mit der Erbschaft zu­sammenhängt.“

Kömmel hörte aufmerksam zu. Jetzt erfuhr er die Einzelheiten des Tes­taments von Emma Heldenreich. Die Hälfte ihres Vermögens sollten ihr Lebensretter Friedrich Rupp und seine Ehefrau Rieke für den Erwerb und Betrieb eines Tante-Emma-Ladens erhalten. Das war ausdrücklich so festgelegt. Nur für diesen Zweck durfte das Geld angelegt werden, und Rasputin war für die einwandfreie Erfüllung verantwortlich. Selbst­verständlich hätte sich Raupe auch allein um den Erwerb eines solchen Ladens kümmern können, doch bisher waren alle seine Bemühungen erfolglos geblieben. Es gab einfach keinen Laden, der auf Dauer den Lebensunterhalt der beiden sichern konnte.

Rasputin bat deshalb Kömmel darum, eine geeignete Immobilie zu fin­den. Da konnte sich dieser schon mal beweisen.

Kömmel stimmte erfreut zu. Das war seine Chance.

Mit einem ganz besonderen Tante-Emma-Laden wollte er sich sozusa­gen in die Stiftung „einkaufen“. Ihm schwebte da etwas vor.

Dorpamarsch

Auf den ersten Blick hatte sich Dorpamarsch seit Emmas Geburt vor 115 Jahren kaum verändert. Die Kirche stand immer noch inmitten des Dorfes, doch sie war inzwischen ein Beispiel ökumenischer Zweisam­keit geworden. In ihr waren sowohl die evangelische als auch die katho­lische Gemeinde untergebracht. Der evangelisch-lutherische Pastor Grummel und der katholische Pfarrer Sixtus verstanden sich prächtig, was besonders am Stammtisch deutlich wurde. Die Gottesdienste waren allerdings immer noch getrennt, außer zu Weihnachten. Da es nur die eine Kirche gab, hatten beide Gemeinden auch nur einen Küster. Er musste aber nicht mehr wöchentlich in den Turm klettern, um die Uhr aufzuziehen. Das geschah jetzt mittels eines Elektromotors, der den schweren Stein wieder nach oben zog, wenn er weit genug unten ange­kommen war. Zusätzlich kam eine Wartungsfirma, die einmal jährlich den Zustand überprüfte.

Das Gasthaus hieß immer noch „Zum Roten Hahn“ und war Treffpunkt der Freiwilligen Feuerwehr, allerdings wurden bei Ausbruch eines Feu­ers nicht mehr die Turmglocken geläutet, sondern die Signalempfänger der Feuerwehrmitglieder ausgelöst.

Eine Dorfschule gab es nicht mehr – die Grundschulklassen hatte man in die Kreisstadt Pamphusen verlegt. Die Kinder wurden mit dem Schulbus in die Stadt und zurückgekarrt, obwohl das genau genommen der normale Linienbus war, den man dafür eingesetzt hatte. So profitier­ten die Erwachsenen auch davon. Ohne diese Schultransporte wäre der Bus auch nicht gefahren, was zum Beispiel in den Schulferien geschah. Dann wurde der Betrieb „mangels Fahrgastaufkommen“ eingestellt.

Den Unterschied zwischen 1900 und heute sah man am besten an den Menschen. Während man sich vor hundert Jahren bei einer Begegnung auf der Straße noch begrüßte und zu einem kleinen Schwätzchen stehen blieb, rannte man heute mit einem Handy am Ohr und leerem Blick an­einander vorbei.

Auch im Roten Hahn machte sich das bemerkbar. Anfang des 20. Jahr­hunderts gab es noch die Polizeistunde um Mitternacht. Heute verzogen sich die Gäste freiwillig vor Beginn des Abendprogramms, um zu Hau­se auf den großformatigen Flachbildfernsehschirmen die von Werbung unterbrochenen Wiederholungen alter Sendungen zu sehen.

Die vielen Werbeunterbrechungen boten allerdings die Möglichkeit, den Getränkenachschub zu organisieren. Es bestand durchaus ein Nach­holbedarf nach dem Gasthofbesuch, weil dort der Alkoholkonsum aus Sorge um den Führerschein erheblich eingeschränkt war.

Eine Oase der Ruhe, in der die Zeit stehen geblieben schien, gab es aber doch. Das war der ehemalige Tante-Emma-Laden gegenüber dem Ro­ten Hahn, der seit den siebziger Jahren zum Weltkulturerbe gehörte. Seitdem war der jeweilige Besitzer verpflichtet, den Charakter eines „Tante-Emma-Ladens“ zu erhalten. Das hatten zunächst die drei Schwestern getan, danach – mehr oder weniger halbherzig – der neue Besitzer Arno Pototzki, der den Laden mit seinen Verpflichtungen ger­ne wieder losgeworden wäre. Inzwischen war das Geschäft in die Posu­ma-Märkte eingegliedert worden, allerdings weiterhin als Tante-Emma-Laden. Wie es die drei Heldenreich-Schwestern schon gehalten hatten, diente der Laden auch heute noch als gemütlicher Treffpunkt zum Klönen, oder „Tratschen“, wie die Männer gerne sagten, denn er wurde hauptsächlich von den Damen besucht. Die Männer gingen lie­ber in den Roten Hahn. Das Warensortiment war nicht zu vergleichen mit dem eines Supermarktes, aber man bekam alles, was man so an Kleinigkeiten benötigte. Das Wichtigste aber war die Kaffee-Ecke, wo es noch ganz normalen Kaffee gab, aufgebrüht in der Kanne aus selbst gemahlenen Kaffeebohnen, mit Kaffeesatz oder „Sumpf“, wie die Dörf­ler sagten. Auf Wunsch gab es auch noch einen Schuss „Pamphusener Goldperle“ hinein, doch das war eigentlich verboten. Dafür hatte der Laden keine Ausschankerlaubnis. Aber wen kümmerte es schon?

Zurzeit wurde der Tante-Emma-Laden von der Witwe Helma Schatten­bein mit ihrer noch unverheirateten Tochter Luise geführt. Das geschah im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit zum Erhalt des Weltkultur­erbes. Als Aufwandsentschädigung gestatteten ihnen die Eigentümer, die Wohnung hinter dem Laden kostenlos zu nutzen.

Für Pototzkis Nachkommen war das Haus nur noch ein Klotz am ge­schäftlichen Bein. Es brachte keinen Gewinn. Aber darauf baute der Vi­zedirektor der Nordelbischen Lotteriegesellschaft und designierter Geschäftsführer der Emma Heldenreich Stiftung auf.

Bevor Josef Pototzkis Sekretärin das Telefongespräch durchstellte, teil­te sie ihm mit, dass ein gewisser Herr Kömmel von der Nordelbischen Lotteriegesellschaft am Apparat sei.

„Würgen Sie ihn ab!“, antwortete Pototzki und legte wieder auf, weil er das für einen lästigen Werbeversuch der zahlreichen Lotterievermitt­lungen hielt. Aber gleich darauf stand seine Sekretärin in der Tür und meinte, der Herr ließe sich nicht abwimmeln, er hätte ein sehr persönli­ches interessantes Angebot.

„Dann werde ich Ihnen mal zeigen, wie man das macht!“, knurrte Po­totzki und nahm den Hörer wieder ab. „Das Gespräch ist hiermit been­det, und wagen Sie es nicht, mich noch einmal zu belästigen!“, schrie er in den Hörer. Doch bevor er wieder auflegte, hörte er gerade noch den Einwand des Anrufers: „Es geht nicht um die Lotterie! Ich möchte den Laden kaufen!“

Pototzki wurde hellhörig. „Was für einen Laden?“, fragte er verblüfft.

Endlich kam Kömmel zu Wort. „Ich bin an dem Tante-Emma-Laden in Dorpamarsch interessiert und habe gehört, er steht zum Verkauf.“

 

Das stimmte zwar nicht, dachte Pototzki, wollte jetzt aber mehr wissen. „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte er.

„Gerüchte, Gerüchte“, antwortete Kömmel ausweichend. „Ich wollte einfach mal hören, ob das stimmt“.

„Nein, das ist Unsinn“, erwiderte Pototzki, überlegte aber gleichzeitig, ob das eine Gelegenheit wäre, das ganze unter Denkmalschutz stehende Haus mit dem Weltkulturerbe-Laden wieder loszuwerden. Notfalls hät­te er ihn sogar verschenkt, wenn er jemanden gefunden hätte, der in alle Auflagen und Verpflichtungen eingetreten wäre.

„Wozu wollen Sie denn den Laden haben?“, fragte er vorsichtig.

„Das kann ich Ihnen noch nicht sagen“, teilte Kömmel mit. „Ich bin nur befugt, für einen Kaufinteressenten erste Gespräche zu führen. Wenn der Laden aber nicht zum Verkauf steht, können wir das Gespräch jetzt wirklich wieder abbrechen“.

„Nein, nein, nicht so schnell!“, warf Pototzki schnell ein. „Die Frage kommt nur etwas überraschend. Wissen Sie, der Laden ist sozusagen ein Erbstück, das unserer Familie sehr viel bedeutet …“, jetzt nur nichts falsch machen, dachte er.

„Wie wäre es denn, wenn ich Sie mal aufsuche“, schlug Kömmel vor. Dann können wir uns in Ruhe besprechen, und Sie haben Zeit, sich das grundsätzlich einmal zu überlegen“.

Damit war Pototzki einverstanden, und man verabredete sich für den nächsten Donnerstag.

Bei diesem Treffen redete Kömmel erst gar nicht um den heißen Brei herum. Er fühlte sich ohnehin in der stärkeren Position, denn es war kein Geheimnis, dass Pototzkis Erben, die Geschwister Josef und Anka, die lästige Immobilie loswerden wollten. Kömmel teilte sein Interesse mit, den Laden samt Haus und allen Verpflichtungen für eine Stiftung zum Erhalt des Tante-Emma-Ladens zu erwerben. Das stimmte in der Form natürlich nicht, denn die Emma Heldenreich Stiftung hatte einen ganz anderen Zweck. Aber das war ohne Belang, da es sich zunächst nur um ein Vorgespräch handelte und die Nordelbische Lotteriegesellschaft die volle Bürgschaft übernehmen würde.

„Das klingt interessant“, überlegte Josef Pototzki.

„Vorausgesetzt, der Preis stimmt“, bremste Kömmel übertriebene Er­wartungen. „Was haben Sie sich denn vorgestellt?“

Als Josef einen Preis nannte, klappte Kömmel demonstrativ seinen Ak­tenkoffer zu und erhob sich zum Gehen. „Das ist doch nicht Ihr Ernst!?“

„Warten Sie doch ab!“, beschwichtigte Pototzki. „Wir können uns doch sicherlich einigen!“

Die „Einigung“ dauerte fast eine ganze Stunde und trieb Pototzki fast Tränen in die Augen, aber dann hatte man sich auf einen Preis geeinigt, der weit unter dem Verkehrswert lag. Und doch hatten beide anschlie­ßend das Gefühl, den anderen über den Tisch gezogen zu haben. Man legte die Eckpunkte in einem Vorvertrag nieder und verabschiedete sich in bestem Einvernehmen.

„Ich habe den idealen Tante-Emma-Laden“, meldete sich Kömmel an Bord zurück. Rasputin staunte, vor allem, nachdem er den Preis erfuhr. Das war ja weit weniger als gedacht.

Der Rest war nur noch Formsache. Kömmel war in seinem Element. Das Grundstück mit beiden Gebäuden, das ehemalige Heldenreich-Haus mit Laden und das Hibbel-Haus, wurden mit allen Verpflichtun­gen des Denkmalschutzes und als Weltkulturerbe übertragen. Witwe Schattenbein und Tochter durften in das Hibbel-Haus umziehen und weiterhin ehrenamtlich im Tante-Emma-Laden tätig sein. Für sie änder­te sich wenig, doch Friedrich Rupp und seine Frau Rieke bekamen end­lich ihren Tante-Emma-Laden, wie es sich Raupe einmal gewünscht hatte.

Beide ahnten nicht, dass Kömmel, dem sie unendlich dankbar waren, bereits die ersten Vorbereitungen traf, ihnen die Beine wegzuhauen.