Buch lesen: «Corona erleben»

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Wolfgang Schmidbauer Corona erleben Ein notwendiger Zwischenruf

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Wolfgang Schmidbauer

Corona erleben

Ein notwendiger Zwischenruf

1969 saß ich an meiner Promotion über die psychologische Deutung von Mythen und verdiente meinen Lebensunterhalt als Medizinjournalist. In diesem und im folgenden Jahr forderte eine Influenza-Pandemie, deren Ursprung in Hongkong lag, weltweit mindestens zwei Millionen Todesopfer. In der Bundesrepublik Deutschland starben etwa 40 000 Menschen mehr als sonst. Auf dem Gebiet der DDR schätzte man ebenfalls viele Tausend Opfer. Statistiken darüber lieferte das sozialistische System ebenso wenig, wie es Aussagen über die Suizidrate seiner Bürger traf.

Kopfschmerzen, Schnupfen, Husten, Schluckbeschwerden und Brustschmerzen waren die ersten Symptome. Das Fieber stieg rasch auf bis zu 40 Grad. Spezifische Medikamente oder einen Impfstoff gab es nicht. Die Krankenhäuser waren überfüllt, die Patienten lagen auf den Gängen, die Weihnachtsferien 1969 wurden verlängert, weil wegen der hohen Krankenzahlen kein geregelter Unterricht möglich war.

Die Meldungen zur Pandemie blieben im Kleingedruckten. »Katastrophale Lage durch Grippe in den USA«, »Zwölf Millionen Italiener grippekrank« oder »Legt Grippe Trambahn lahm? 490 Fahrer und Schaffner erkrankt« waren damals Randnotizen in der Süddeutschen Zeitung. Sie alarmierten niemanden. Ich nahm an den Redaktionskonferenzen des Ärztemagazins Selecta teil, dessen Mitarbeiter ich war. Für die Grippewelle interessierte sich niemand. Die Themen am Tisch waren die Transplantationschirurgie und die Contergan-Affäre; Grippeviren und die von ihnen verursachte Übersterblichkeit konnten das Interesse der Chefredaktion nicht wecken.

Ebenso wie die Asiatische Grippe rund zehn Jahre zuvor galt die Hongkong-Grippe nicht als Gefahr, vor der man sich schützen muss, eher als Schicksal, das die Bevölkerung schon irgendwie bewältigen würde. Dass die echte Grippe eine schwere Erkrankung ist, war allgemeines medizinisches Wissen. Es führte aber zu keinerlei Maßnahmen zur Vorbeugung. Die Wirtschaft litt, viele Mitarbeiter waren im Krankenstand, Todesfälle häuften sich. Das wurde hingenommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der Fachliteratur, die ich zwischen 1960 und 1970 gut kannte, auch nur ein Autor davon gesprochen hätte, dass es sinnvoll sein könnte, in der Öffentlichkeit eine »chirurgische« Maske zu tragen. Ihr Ort war der Operationssaal, draußen hatte sie nichts zu suchen.

Angesichts der Corona-Pandemie knapp 50 Jahre später ist alles anders. Während die früheren Epidemien als »Wellen« angesprochen wurden (und damit ein Naturphänomen imaginiert wird), beherrscht jetzt eine (Corona-)»Krise« über Monate hin alle Medien – führende Politiker bemühen gar Kriegsrhetorik. Ansteckungen und Todesfälle wurden 1969/70 geschätzt und nachträglich aus dem Vergleich mit dem Durchschnitt der Todesfälle objektiviert. Jetzt werden Infektionen und Todesfälle von Anfang an gezählt; alle Länder, die Statistiken liefern, werden verglichen. Die internationale Aufmerksamkeit für diese Vergleiche lässt sich durchaus mit der für den Medaillenspiegel der Olympischen Spiele vergleichen – die wegen der Pandemie aber abgesagt wurden. Auch das wäre in den 60ern undenkbar gewesen.

Nicht weniger dramatisch als die wirtschaftlichen Folgen, die aus dem Umgang mit dem neuartigen Virus resultieren, ist heute die hohe und ganz anders gelagerte Betroffenheit der Menschen. Sie führt zu einer emotionalen Verunsicherung, die wohl noch über die Folgen des Selbstmord-Terrorismus zur Jahrtausendwende oder der Bankenkrise ein knappes Jahrzehnt später hinausgehen. Bereits nach SARS-Infektion (schweres akutes respiratorisches Syndrom), dessen Erreger dem Corona-Virus ähnlich ist, wurden die psychischen Folgeschäden als gravierender eingeschätzt als die organischen, nachzulesen etwa in Steven Taylors Die Pandemie als psychologische Herausforderung.1

Während die früheren Grippewellen in ihrer durchaus gravierenden Bedrohung erfolgreich verdrängt werden konnten, ist 2020 die Verdrängungsdecke gerissen. Jetzt diskutieren wir, ob wir in die Welt »vor Corona« zurückkehren können – und ob wir das überhaupt wollen.

Die wissenschaftlichen – und zum Teil umstrittenen – Kritiker und Kritikerinnen des Lockdowns wie Wolfgang Wodarg, Karin Mölling und Sucharit Bhakdi hatten die Zeit der epidemischen »Wellen« noch miterlebt. Die jüngeren Forscher, die im Verlauf der »Krise« sehr populär wurden, waren zur Zeit der Hongkong-Grippe noch nicht geboren (Christian Drosten etwa ist Jahrgang 1972). Die Vertreter des »neuen« Umgangs stehen im Zenit ihrer Karriere, Mölling und Bhakdi sind emeritiert.

Vom Fatalismus zur Erregung

Die Haltung der Ärzte wie der Bürger blieb 1970 fatalistisch. Sie lässt sich so zusammenfassen: Gegen Viren kann man wenig machen. Die körpereigene Abwehr der Gesunden reicht aus, um die Infektion zu überleben. Die Opfer unter den bereits Erkrankten nehmen wir in Kauf.

Nachdem Christiaan Barnard 1967 das erste menschliche Herz erfolgreich transplantiert hatte, wurde die Aufmerksamkeit der medizinisch Interessierten allein von der Chirurgie beherrscht. Um die durch immer gewagtere Eingriffe über Tage hin in einen Zustand zwischen Leben und Tod versetzten Transplantationspatienten am Leben zu erhalten, wurde die Intensivmedizin gefördert und weiterentwickelt. Diese Disziplin spielt im Umgang mit Covid-19 eine wichtige Rolle. Staatliche Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger werden jetzt damit gerechtfertigt, dass ohne eine Kontrolle der Epidemie die intensivmedizinische Versorgung zusammenbricht. Auf die Paradoxie, dass Menschen plötzlich Opfer für ein Gesundheitssystem bringen sollen, das doch eigentlich für die Menschen da ist, hat jüngst der Züricher Philosoph Olivier Del Fabbro hingewiesen.2

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