Jahrhundertwende

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Jahrhundertwende
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Wolfgang Fritz Haug

Jahrhundertwende

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Deutsche Originalausgabe

© Argument Verlag 2016

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Lektorat: Ilse Schütte-Kronauer

Umschlag und Satz: Martin Grundmann, Hamburg,

unter Verwendung des Angelus Novus (1920) von Paul Klee

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-862-5

Wolfgang Fritz Haug

Jahrhundertwende

Werkstatt-Journal

1990 – 2000

Argument

»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte

»Manchmal wünschte ich, Sie hielten ein Journal mit vielen Eintragungen in der Baconischen Form über alle die Gegenstände, die Sie gerade interessieren, unmethodisch im ganzen, ich meine antisystemisch. Solche wissenschaftlichen Aphorismen könnte man einzeln, in der oder jener Zusammenstellung […] verwerten […]; anstatt einen davon umzubauen, könnten Sie einen neuen bauen usw. – Es wäre sozusagen epische Wissenschaft!«

Bertolt Brecht an Karl Korsch, April 1948

Vorweg: Im Rückblick

I.

Der weltgeschichtliche Umbruch, dem die Öffnung der Berliner Mauer im November 1989 das Gesicht gegeben hat, begann früher und dauerte länger als dieses emblematische Ereignis. Manche Beobachter lassen das »kurze 20. Jahrhundert« mit dem Ersten Weltkrieg beginnen und mit dem Zusammenbruch des – der russischen Oktoberrevolution und dem Zweiten Weltkrieg entsprungenen – europäischen Staatssozialismus enden. Meine Aufzeichnungen aus den 1990er Jahren wirken, als wäre ich dieser Idee gefolgt. Die kalendarische Jahrhundertwende, von der als »Jahrtausendwende« so viel Aufhebens gemacht worden ist, wird hier mit keiner Silbe erwähnt. Es ist die Folge der Ereignisse sowie die Art, wie diese mit der Gegenwart 25 bis 15 Jahre später zusammentreten, die mir im Nachhinein vor Augen führt, dass sich der Zusammenbruch der Sowjetunion als eine Zäsur begreifen lässt, in der die noch unabsehbar weiterwirkende krisenhafte Konfiguration des 21. Jahrhunderts auftaucht.

Vom als passive Revolution einsetzenden Projekt einer sozialistischen Demokratisierung der SU hatte ich mich hinreißen lassen zu einer Studie über die von Michail Gorbatschow, dem Generalsekretär der KPdSU, vorgelegten Zustandsanalysen und Umgestaltungskonzepte dessen, was als »Perestrojka« in die Sprachen der Welt und damit in die Geschichte eingegangen ist.1 Meine 1989 erschienene und im Grundtenor optimistische Studie wurde alsbald von der Krisendynamik dieses Umgestaltungsversuchs eingeholt, was mich in deren atemlosen Chronisten verwandelte, der in dieser immer zugleich selbstkritischen Arbeit seine Ideengläubigkeit abbüßte. Ich warf mich in die »Sisyphos-Arbeit, aus dem Strom der Ereignisse und dem Gewirr der Diskurse, wovon Einzelnen nur winzige Ausschnitte wahrnehmbar werden, Material an Land zu ziehen; wissend, dass man vieles verpasst, von Tag zu Tag Reflexionen an Einzelnes zu knüpfen und immer wieder neu dazu anzusetzen, dem Schwarm von Einzelheiten ein Gesicht abzugewinnen«. So kündigte ich mein Perestrojka-Journal2 an, und so ähnlich lässt sich auch das hier vorgelegte Werkstatt-Journal beschreiben.

Nach den »zwölf Monaten, die die Welt veränderten«, die im Perestrojka-Journal von Juni 1989 bis Mai 1990 Revue passieren, geht es im Folgenden um die zehneinhalb Jahre von Juni 1990 bis Ende 2000. Beim Wiederlesen war ich betroffen vom Zeitlupentempo und der unheimlichen Gründlichkeit, mit der die Lawine der Veränderungen zu Tale ging, nationale Entwicklungsregime und soziale Einrichtungen in vielen Teilen der Welt vernichtete und einen Rattenschwanz bestialischer Bürgerkriege und imperialistischer Interventionen nach sich zog. Wie von Sonja Margolina im Dezember 1991 vorausgesagt, erwies sich der Zusammenbruch der Sowjetunion als »historischer Supergau«, ein schlimmeres politisches Tschernobyl, denn hier gab es »kein Mittel, die verschiedenen Kettenreaktionen, die die Völker der SU erschüttern, zu unterbinden«.

Im Spiegel der Ereignisse türmen sich Trümmer auf Trümmer, entbrennen Kriege und setzt sich die politisch-ökonomische und ideologische Vernichtung verbleibender sozialistischer Elemente weit über den Untergang des europäischen Staatssozialismus hinaus fort. Dennoch kann unser Blick nicht der des mythischen Engels der Geschichte sein. Der Wind, der uns ins Gesicht bläst, kommt nicht vom Paradiese, sondern vom Urknall des Universums her, und wir haben auch keine Flügel, in der dieser sich und damit uns fangen kann. Nichts hindert uns daran, den Bann des Rückblicks zu brechen und uns mittels der dem Geschichtsmaterialismus von Benjamin empfohlenen Stützen »der Erfahrung, des gesunden Menschenverstands, der Geistesgegenwart und der Dialektik« in die geschichtliche Prozessrichtung umzuwenden. Wo jener Engel »eine einzige Katastrophe« sieht, »erscheint vor uns eine Kette von Begebenheiten«. Kriege und Verfolgungen verschwinden zwar nicht aus unserem Blick, aber von Mal zu Mal treten die tektonischen Verschiebungen, die das große Erdbeben ausgelöst und die vielen Nachbeben verursacht haben und weiter verursachen, deutlicher hervor: die Entwicklung der informatisch potenzierten Produktiv- und Destruktivkräfte, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts rasant erfolgende Auskristallisierung des Internet und die dadurch angebahnten Veränderungen der Vergesellschaftungsweise. Die vermeintlichen Sieger der Geschichte erfahren sich ihrerseits in den krisengetriebenen Strudel der Veränderungen hineingerissen. Die schöpferische Seite der großen Zerstörung meldet sich im vielförmigen Auftauchen, an allen Ecken und Enden, von Elementen des transnationalen Hightech-Kapitalismus, dies nun aber im Horizont der planetarischen Umweltkrise, die der auf fossiler Energie basierenden Produktionsweise ihre Grenze zeigt.

II.

Im Rückblick war ich erstaunt, wie wenig Erzählung, etwa von der Gründung des Instituts für kritische Theorie, das Journal enthält, ja wie es kaum die »Werk-Tage« im Sinne der Erarbeitung meiner in diese Jahre fallenden Schriften schildert, sondern sich im interstitiellen Gewebe der Lebens- und Arbeitszeit, einem nebenherlaufenden Kontinuum aktiver Geistesgegenwart aufhält, gelegentlich unterbrochen von Selbstreflexionen. Das Hauptamtliche ist weitgehend abwesend, zum Beispiel meine akademische Lehre. Als Sparringspartner dienen mir die bürgerlichen Medienintellektuellen, von denen, wie man sehen wird, nicht wenige beharrlich die intellektuelle Kompetenz verabschieden, als wollten sie ihren eigenen Partialverzicht in dieser Form projektiv abarbeiten.

Vermutlich ist es genau jener zum Habitus gewordene Dauerversuch, ›auf dem Tag‹ zu bleiben, in dem sich niederschlägt, wie mich nicht nur das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus, sondern auch die kritische Ausgabe von Antonio Gramscis Gefängnisheften in Atem hielten. Auf Stil und Materialverständnis dieses Werkstatt-Journals scheint nicht zuletzt von Gramscis Arbeitsweise ein Ansteckungseffekt ausgegangen zu sein. Sie ist zugleich eine Lebensweise und hält dazu an, sich in die Diskurse der Zeit hineinzubegeben, ihnen ihr Moment der Wirklichkeitserkenntnis abzugewinnen und es der Ideologie zu entwinden. Sie scheint mir unentbehrlich für die ständige Weiterentwicklung theoretischer Denk- und praktisch-politischer Handlungsfähigkeit im Augenblick des geschichtlichen Prozesses.

Die Diskurse, in die ich mich dabei ständig einmische, stammen aus unterschiedlichsten Richtungen. Doch die mit Abstand häufigste Quelle für die ›herrschende Meinung als Meinung der Herrschenden‹ ist die Frankfurter Allgemeine. Hier ist Kritik gefragt. Von vielen wird sie als einfache Zurückweisung verstanden. Nicht so von Marx. Dieser Kritiker par excellence grenzt sie ab »von einer Verneinung, die mit der kapitalistischen Produktionsweise deren Früchte wegwirft«.3 Diesem Verständnis steht die vulgärmarxistische These vom »notwendig falschen Bewusstsein […], wenn man zu den Herrschenden zählt«, im Wege.4 Die Klasseninteressen blockieren die Rationalität, indem sie diese kanalisieren; aber sie löschen sie nicht aus. Man darf sich also nicht seitenverkehrt antagonistisch kanalisieren lassen. Der Karl Marx, der die Holzbank im British Museum drückte, tat dies im Dom der unter bürgerlicher Hegemonie gesammelten Rationalität aller Zeiten. Selbst noch für seine Kritik der politischen Ökonomie fand er unentbehrliche Vorarbeiten seitens bürgerlicher Ökonomen, namentlich bei Ricardo, den er dafür rühmt, geradezu eine »Kritik der bisherigen politischen Ökonomie« geleistet zu haben (MEW 26.2, 166). Eine entsprechende Erfahrung lässt sich im Spiegel meiner Werkstattnotizen machen. Auf den Höhepunkten des Korruptionsskandals der CDU, der fast zu einer Staatskrise führte, oder des irreführend so genannten »Kosovo-Krieges«, der ein Krieg gegen Jugoslawien war, wird man sehen, dass bestimmte Redakteure der FAZ in kaum überbietbarer Schärfe als Kritiker hervortraten. Sie ihrerseits gleichzeitig zu beerben und zu kritisieren, bezeugt auch eine Form von Respekt. Ihnen etwas abzugewinnen, macht diese Kritik zur immanenten und charakterisiert sie als bestimmte Negation. Als solche enthält sie ein Moment der Zustimmung, aber eines, über dessen Status, ob rechtens Zwischenakt oder Haupthandlung, gestritten wird.

 

Es kommt mir nicht vor allem darauf an, Recht zu behalten. Erkannte Fehler wiegen mehr als sedimentierte Überzeugungen. Richtig scheint es mir auf jeden Fall, wenn ich von Tag zu Tag daran arbeite, die chaotische Mannigfaltigkeit der Geschehnisse zu entwirren, zu entziffern und ihre inneren Zusammenhänge aufzuspüren, und dabei versuche, »im Untergegangenen auch das Uneingelöste zu sehen, im Defekten und Defizienten auch den Funken eines Unaufgebbaren«5 am Glühen zu halten.

III.

Von sich selbst als Wesen aus Fleisch und Blut, den eigenen Träumen, Verletzlichkeiten, Schwächen und Zweifeln zu schweigen, empfiehlt die Vorsicht. In der Werkstatt aber regiert das experimentelle Denken. Ohne Risiko ist es nicht zu haben. Nicht nur das Material, auch sein Bearbeiter wird bearbeitet. Das Experimentieren, was das Material hergibt und mit sich machen lässt, ist Sache eines Subjekts, freilich eines, das eingetaucht ist in den geschichtlichen Prozess, dem es auf die Schliche zu kommen versucht. Die Unschärferelation, die dadurch hereinkommt, gehört ins Bild, muss sichtbar gemacht werden. Sie auszublenden, würde sie unbearbeitbar machen. Sie im Bild zu belassen, mag erfahrungsoffenen und experimentierfreudigen Geistern den Zugang erleichtern. Und dies ist bitter nötig angesichts des »Zerberstens der Bindeglieder zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart«, das Eric Hobsbawm im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts registrierte.

Vielleicht tragen die folgenden Aufzeichnungen in ihrer an Einzelheiten sich festmachenden Streuung dazu bei, eine Brücke zwischen den Zeiten und Generationen zu schlagen, auch wenn manches den später Geborenen wie böhmische Dörfer vorkommen mag. Die Möglichkeit, im Internet zu suchen, macht Anmerkungen in solchen Fällen zumeist entbehrlich. Auf ein Namensregister verzichte ich, weil es zur personalisierenden Neugier einlädt. Was nicht interessiert, mag bedenkenlos überblättert werden. Wer Lesen als Herauslesen praktiziert, wird entdecken, dass unter sich wandelnden Bedingungen immer wieder Anderes zu einem spricht.

Danksagung

Wer wären wir ohne Weggefährten! Else Laudans spontane Reaktion auf einen ersten Einblick ins Manuskript half mir über die Schwelle der Bedenken, das Material zu veröffentlichen. Bei der Bearbeitung, Kürzung und Korrektur der Notizen standen mir Klaus Bochmann, Jan Rehmann, Jörg Tuguntke, Thomas Weber und immer wieder Frigga Haug zur Seite, ganz besonders aber Ilse Schütte und Jan Loheit. Martin Grundmann gestaltete den Umschlag und gab trotz einer Erkrankung dem Buch mit bewährter Sorgfalt seine typographische Gestalt, zuletzt unterstützt von Iris Konopik. Ihnen allen gilt mein herzlichster Dank.

Erster Teil

1990
5. Juni 1990

Nach einer Volksuni-Veranstaltung fand ich einen Spiegel-Artikel von Rolf Schneider, den jemand ausgerissen, sorgfältig zusammengeheftet, dann zusammengefaltet und auf irgendeiner Bank des Hörsaals vergessen hatte. Dort geht es um den DDR-Prozess gegen Walter Janka, Wolfgang Harich und andere von 1957. Irgendetwas an diesem Sozialismus war nicht weniger als völlig verkehrt. Angesichts dessen segelt Rolf Schneider hart am Rande einer totalen Absage an jeden Sozialismus. Ein einziges Wörtchen, »dieser«, hält sie, schwach genug, in der Schwebe: »Der Sozialismus, dieser, braucht zu seiner Existenz die Autokratie und den Terror. Anders bricht er zusammen. Substanzielle Reformen sind sein Untergang. Die Stalinisten wussten das. Alle Reformer, einschließlich des Michail Gorbatschow, wussten es wohl nicht.« – Ich »wusste« es auch nicht, glaube aber auch nicht, dass es in Bezug auf die SU etwas so Eindeutig-Alternativloses zu wissen gibt.

24. Juni 1990

Peter Brandt vermutet, dass – ähnlich wie 1949 in der Bundesrepublik – »das große Kapital und die liberal-konservativen Kräfte eine historische Schlacht gewonnen« haben. Dass die Linke nicht gut vorbereitet war auf die neue Virulenz der nationalen Frage, ist ein Faktor, aber nicht der Hauptgrund. Diesen sieht B »in dem für alle unerwartet raschen und radikalen Zusammenbruch des Systems sowjetischen Typs mit der Bürokratie als einer herrschenden und privilegierten Schicht, mit der politischen Diktatur und weitestgehend verstaatlichter Zentralverwaltungswirtschaft und, damit verbunden, in dem dramatischen Niedergang der sowjetischen Weltmachtposition.« (»Die deutsche Linke und die Nation«, Gewerkschaftliche Monatshefte, Mai/Juni, 274).

In derselben Nummer wendet sich Detlef Hensche gegen den »Abschied von antikapitalistischen Zielen« unterm Eindruck der Tatsache, »dass der reale Sozialismus niedergeht bzw. sich radikal verändert« (403). Ohne »weitergesteckte politische Perspektiven« bleibt es bei »Handwerkelei« (»›Der Sozialismus geht‹ – was kommt? Lehren aus dem Niedergang«, 404). Das Reden von Marktwirtschaft »in wichtigen Sektoren pure Ideologie« (wo die Konkurrenz ausgeschaltet ist). Oder gesamtgesellschaftliche Irrationalität als Preis für profitgetriebene innerbetriebliche Rationalisierung. BRD: »Verlagerung sozialer Probleme ins Ausland«. Dritte Welt: »Abhängigkeit, Not und Elend dieser Völker haben sich in den letzten Jahren verschärft. Unter diesem Gesichtspunkt wirken konservativer Siegestaumel über den Erfolg des Kapitalismus zynisch und partnerschaftlicher Burgfrieden einäugig.« (404f) Frauengleichstellung und Ökologie weitere Politikfelder. Ebenso: »Die Durchsetzung und Sicherung individueller Freiheitsräume und die Fortentwicklung der Demokratie«. All das »erfordert Antworten, die den Verwertungsinteressen des Kapitals zuwiderlaufen und durch partnerschaftliche Mitverantwortung nicht zu erreichen sind« (405). »Auch in kapitalistisch geprägten Verhältnissen sind Freiräume, begrenzter Fortschritt, Zonen demokratischer Beteiligung möglich. Sie gilt es auszubauen; einzelne Zugeständnisse sind zu verallgemeinern; Bruchstellen und immanente Widersprüche müssen immer wieder genutzt werden.« Kampf notwendig. Aber »Alternativ-Denken nach dem Prinzip: Konflikt oder Kooperation ist Unfug.« Doch keine Partnerschaft möglich, wegen ungleicher Macht.

Allgemeinere Gründe für die Fehlentwicklung: »Die Arbeiterbewegung war mit Vorrang auf die Macht im Staat und in der Wirtschaft fixiert.« Zitiert Rosa Luxemburg, sehr schön (406), benennt »bürokratische und zentralistische Wurzeln« und die »Dominanz des Repräsentations- und Stellvertreter-Systems« (407): »Die Versuchung ist immer wieder groß, sein Amt für die Kollegen einzusetzen, für sie zu handeln und zu verhandeln – in bester Absicht, versteht sich –, nicht jedoch mit ihnen zu handeln und zu kämpfen.« (Ebd.) Er denkt die Kritik an der Neuen Heimat parallel zur Kritik am »Realsozialismus«. – Dann plötzlich Gramsci! »Proletkult und Intellektuellenvorbehalte haben eine lange Tradition, auch bei uns. Dabei wissen wir spätestens seit Gramsci, dass nicht allein der starke Arm des Arbeiters, sondern ebenso die öffentliche Meinung, die kulturelle Hegemonie über die eigene Durchsetzungskraft entscheiden.« (410)

25. Juni 1990

Gründungskongress der KP Russlands. – Ihr neuer 1. Sekretär, Iwan Kusmitsch Poloskow (Jg. 1935), ein Agrarexperte, bekräftigte den ML, unklar, ob nur formelhaft oder trotzig restaurativ. Ähnlich wie Ligatschow sagt er von sich, er habe die Perestrojka von Anfang an unterstützt. Ruft nun zur Einheit der Partei und bietet Jelzin Zusammenarbeit an. Ausdifferenzierung. Neues Spiel der Kräfte. Hauptsache, sie machen sich nicht verrückt.

Gorbatschow, der nach der russischen Eigengründung einer zunehmend entkernten Kommunistischen Partei der Sowjetunion vorsitzt, beantwortete zum Abschluss des Gründungsparteitags schriftlich eingereichte Fragen. »Die sozialistische Idee und die kommunistische Perspektive« hätten noch ein »langes Leben« vor sich, sagte er. In der gegenwärtigen »Umschichtung der politischen Kräfte« müsse er das Amt des Generalsekretärs und das des Staatspräsidenten noch zusammenhalten. Poloskow unterstützte ihn darin, da die Macht des Staatspräsidenten noch nicht voll zum Tragen komme und die Macht der Partei nicht einfach abgebaut werden könne. Indem er zugleich eine stärkere Einbeziehung der Partei in den Entscheidungsprozess forderte, schien er aber eine bereits vollzogene Machtverschiebung zum Präsidentenamt wieder zurücknehmen zu wollen.

Eine blinde Dialektik waltet hier: Der Hegemon Russland meldet sich zur Überraschung aller Randvölker, die sich durch ihn unterdrückt wähnen, aus der Vorherrschaftsrolle ab, und nun schlägt die Ablösung der Randrepubliken um in die des »Zentrums«. Während der eine Pol des politischen Kräftebogens die russische Regierungsmacht erobert, gewinnt der Gegenpol die Parteiführung.

Die Verwandlung der Union in eine Konföderation verlangte einen Starken Mann; dessen Stärke müsste, um Erfolg im Sinne der Perestrojka zu haben, seine eigne Schwächung bewirken.

26. Juni 1990

Gorbatschow auf der russischen Parteikonferenz am 19.6.: »In diesen etwas mehr als 1500 Tagen haben wir eine weitreichende Wende in einem Riesenland vollzogen, die mit den größten und schärfsten revolutionären Wenden in der Weltgeschichte vergleichbar ist«. Die einen sehen darin »Möglichkeiten zur Humanisierung«, die anderen »einen Zusammenbruch, einen totalen Zerfall, eine wahre Apokalypse«. Jetzt gelte es, eine Art »Risikoraum« zu durchqueren, »da neue Mechanismen der Perestrojka noch nicht in Gang kamen, während die alten schon beinahe abgeschaltet sind«. Höchste »sozio-ökonomische Labilität« und Versagen der Perestrojka »in einigen Richtungen« bestimmen die Lage. Gegen die »populistische Taktik«, aus der Krise politisches Kapital zu schlagen, beschwört Gorbatschow die Einheit »aller vernünftig denkenden patriotischen Kräfte des Volkes«.

Der Übergang zur Marktwirtschaft müsse »ohne Beeinträchtigung des Lebensniveaus der Bevölkerung« bewerkstelligt werden. Doch das ist lange vorher schon zur Illusion geworden, der schöne Schatten, den er auf sein eignes Projekt wirft. Auch wehrt er sich dagegen, den Übergang als Rückkehr zum Kapitalismus aufzufassen. Zur Staatsaufgaben in einer sozialistischen Marktwirtschaft erklärt er u.a. den Schutz des Rechts auf Arbeit, des Lebensniveaus und der Ökologie, sowie Aufrechterhaltung und Entwicklung der Infrastruktur.

Der auf dem Märzplenum des ZK beschlossenen (zugestandenen?) Konferenz waren heftige Auseinandersetzungen zur Frage »Muss die KP Russlands sein oder nicht« vorausgegangen. Nun versucht Gorbatschow zu vermeiden, dass Russland und die Sowjetunion gegeneinander ausgespielt werden – auf Staats- wie Parteiebene. »Russland, auf dessen Territorium sich die ganze Struktur der zentralisierten staatlichen Landesleitung herausgebildet hat, verschmolz gleichsam mit der Unionsstruktur in Wirtschaft und Leitung.« Jetzt sei »die Frage nach einer neuen Rolle der KPdSU und ihrer radikalen Erneuerung in aller Schärfe aufgeworfen«. – Jedenfalls nur mehr eine Rolle neben anderen und in einem viel größeren Stück.