Jahrhundertwende

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29. Juni 1990

Was jetzt auf die DDR zukommt, ist keine Vereinigung, sondern eine Okkupation, schreibt André Brie (»Staatsstreich«, in: Sozialismus 6/90). Der Staatsvertrag ein Staatsstreich, weil er ohne Verfassungsprozeduren die Verfassung außer Kraft setzte. »Die BRD sonnt sich im Schatten des Scheiterns der DDR.« Künftig entfällt die Systemkonkurrenz als Ansporn für sozialintegrative Zugeständnisse. Was die internationalen Kräfteverschiebungen zwischen Ost und West angeht, so fühlt Jochen Willerding, der die Kommission für internationale Politik beim PV der PDS leitet, sich an München 1938 erinnert. Deutsches Vormachtstreben, wie oft schon Kriegsursache, wieder am Ball. Jupp Schleifstein beschwört die sozialistische Linke, organisatorische Initiative zu ergreifen, damit die PDS einen westlichen Partner erhält.

Der Kurs der DM steigt. Die USA erhöhen, allen Wahlversprechen ihres Präsidenten zuwider, die Steuern. Ihr Defizit in den letzten Monaten übertrifft alles Bisherige. Das Kapital kann nun aber woanders hin und »will« das anscheinend auch. Karl Georg Zinn meint, die bundesdeutschen Arbeiter hätten durch zu niedrige Löhne (sinkende Lohnquote) den Konsum des US-Mittelstands und den US-Staatshaushalt subventioniert (ebd.).

Hansgeorg Conert sieht im Machtverlust der KPdSU, der weit mehr als nur ein Autoritätsverlust sei, die »bemerkenswerteste« Veränderung in der gegenwärtigen SU. Er bringt Beispiele von durch Demonstrationen erzwungenen Rücktritten von Parteisekretären. Das könnte natürlich auch Zeichen für eine Demokratisierung sein. Das Politbüro und das ZK hätten bereits ihre gesamtstaatlichen Entscheidungsfunktionen eingebüßt. – Für die sozialdemokratische Tendenz Schatalin in den Präsidialrat berufen. Zerfall der staatstragenden Identifikation in der RSFSR. Die Soziologin Nazimowa, die bei den Bergarbeiterstreiks in Westsibirien war, fand die KPdSU bei den streikenden Arbeitern völlig abgemeldet. In der Wirtschaftspolitik hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass »direkte Erzeuger-Abnehmer-Beziehungen unerlässlich« sind. Rückfall in regionale oder lokale Tauschwirtschaft? Gefragt sind Instrumente der Prozessregulierung.

Conert hält den Niedergang der KPdSU für unaufhaltsam, die Kommunisten werden Minderheiten auf allen möglichen Sowjet-Ebenen. Er rechnet mit Enttäuschung an derzeitigen Publikumshelden wie Jelzin und endlich mit »Unregierbarkeit«. Dies sein letztes Wort.

*

Steffen Lehndorff zu Besuch. Erzählt vom Parteiaustritt Schleifsteins. Ich kann es nicht glauben. Bedenken gegen die umstandslose Bildung einer Linken Liste mit der PDS, weil dann der Wahlkampf sofort wieder alle Energien von der Neubesinnung abzieht.

30. Juni 1990

Heinz Jung am Telefon: Er sei vollkommen abgerückt von der Auffassung, die er in der Besprechung meines Gorbatschow-Buches6 zum Ausdruck gebracht hat. Gorbatschows Politik habe den Test der Praxis nicht bestanden, und er selber stehe ihm nun »sehr kritisch« gegenüber. Er habe »wenig Hoffnung, dass etwas bleibt« – wieviel Unausgesprochenes in diesem »Etwas«! – »außer Türöffnung für die kapitalistische Moderne«, die dem Land nicht viel mehr als den Status der Türkei zugestehen werde. – Jung hat von meinem Perestrojka-Journal gehört. Seit September hat er ebenfalls Buch geführt und »gegen die Realität angeschrieben«. Schließt es morgen ab.

Im Aprilheft der »Marxistischen Blätter« Wütend-Enttäuschtes von Gerd Deumlich, notiert am Abend der DDR-Wahlen vom 18. März: »Das Volk – diese Idealisierung eines Subjekts, das sich immer nur richtig entscheidet, erst recht, wenn es schon die Höhen einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft erklommen hat, wird man sich wohl abgewöhnen müssen.« – Mir scheint, dass die am Gängelband der DDR geführte DKP sich seit langem »das Volk abgewöhnt« hat.

1. Juli 1990, als Pressekorrespondent für die »Volkszeitung« auf dem Flug nach Moskau

An diesem Sonntagmorgen auf der Fahrt nach Schönefeld zum Flug nach Moskau vorbei an den Schlangen der vor Schulhäusern und Polizeiwachen um DM anstehenden DDR-Bürger. Denn heute wird der Übergang zur Westwährung vollzogen. Die Waren drängten sich bereits an die Straßenränder: dicke Bündel gelbleuchtender Mohrrüben, rote Kirschen, Beeren, Blumen. Viele Geschäfte hatten an diesem Sonntagmorgen geöffnet.

In der DDR waltete eine veraltete Gerechtigkeit, die Käthe-Kollwitz-Visionen hungernder Kinder entsprungen zu sein schien. Das Elementare war drastisch verbilligt, das Anspruchsvollere entsprechend verteuert. Im Effekt wurden dadurch gerade die leistungsfähigeren Schichten der Arbeiterklasse beeinträchtigt, was dazu beitrug, den gesamten Gang der Wirtschaft zu verlangsamen.

*

Heinz Jungs Umschwung vom Anhänger zum Gegner Gorbatschows – in weniger als einem Jahr – hilft, die Stimmung auf dem russischen Parteitag zu verstehen. Sein Sinneswandel ist die Antwort auf die zwölf hinter uns liegenden Monate der gesellschaftlichen Desintegration, ja Demoralisierung der bisher autoritär-sozialistischen Länder. Die Zusammenbrüche in Mitteleuropa und der weitergehende Staatszerfall in der Sowjetunion sind für ihn schlimmer als der frühere Zustand. Anscheinend war er nicht durch die Diagnose der unheilbaren Krankheit des alten Regimes gewonnen worden, sondern durch die Hoffnung auf einen relativ kurzfristig erneuerten Sozialismus. Als er diese Hoffnungen aufgeben musste, wandte er sich gegen Gorbatschow. Er rechnet ihm nicht die Neuöffnung zugute. Vermutlich ist es die kapitalistische Expansion, die den Umschwung bewirkt hat.

Der »konservativen« Mehrheit des russischen Parteitags mögen ähnliche Umschwünge vorhergegangen sein. Wie wohl Tatjana Saslawskajas Tableau der sozialen Gruppen nach Graden der Trägerschaft bzw. Gegnerschaft im Verhältnis zur Perestrojka von 1987 heute aussehen würde?

Der APN-Kommentator Dmitri Gaimakow sah im russischen Parteitag die Revanche für »die erzwungene Delegierung der Macht von den Parteikomitees an die Sowjets«. »Delegierung« eine sonderbare Kategorie für den Machtransfer in die Parlamente.

Dass es bislang keine russische Parteiorganisation gab und ihre Schaffung eine Schwächung der KPdSU bedeutet, deutet auf das imaginäre Moment der Sowjetunion. 60 Prozent der Mitglieder der KPdSU leben in Russland, wo es allerdings 120 Nationalitäten bzw. Ethnien gibt. Die russische Hegemonialmacht konnte eben deshalb, weil Hegemonialmacht, keine eigne Organisation brauchen. Die jetzige Bewegung zweideutig, denn der Zerfall geht mit Emanzipation schwanger (falls es sich nicht umgekehrt herausstellt und die Emanzipation den allseitigen Zerfall bringt).

Gegenwärtig fährt Russland in Gegensätze auseinander: Die Partei, vor allem das Funktionärskorps, zieht sich in diffuser Besitzstandswahrung nach der einen Seite zusammen, das Parlament, näher am Elektorat, in die entgegengesetzte Seite. Bisher hatte Gorbatschow diesem Gegensatz die Macht seines Zentrismus abgewonnen. Nun fahren ihm die Gegensätze davon, und sein Zentrismus hängt in der Luft. Zentrifugalität wird zum Generalnenner. Das kostet zugleich den Generalsekretär und den Präsidenten ein Gutteil der jeweiligen Amtsmacht. Lew Woronin, 1. Stellvertreter des sowjetischen Ministerpräsidenten, erwartet ausgerechnet vom Markt, dieser werde »die zentrifugalen Bestrebungen verhüten«.

Wjatscheslaw Schostakowski, der Rektor der Parteihochschule, einer der führenden Vertreter der demokratischen Plattform, schätzt, dass 65 Prozent der Delegierten des 28. Parteikongresses zur Nomenklatura gehören (Hauptamtliche, Leiter, Offiziere). Seiner Richtung schwebt die Gründung einer »Partei des sozialen Fortschritts und der Demokratie« vor, die eine »linkszentristische Orientierung« haben soll (linke Mitte?). Die Konsolidierung der Konservativen bestimme die Situation, während die Linken wie üblich träge verharrten, bzw. vor lauter Selbstentzweiung die rechte Gefahr übersähen.

2. Juli 1990, Moskau

Beginn des 28. Parteikongresses der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. – »Schicksalsparteitag« (K. J. Herrmann im ND, 28.6.). – Engelbrecht, den ich abends am Telefon erreiche, begeistert von Jakowlews Furioso, das ihm Ovationen eintrug, nachdem er den Konservativen seinen Zorn und seine Verachtung hingeworfen hatte. War wohl seine Abtrittsrede. Er wirkt künftig im Präsidialrat. – Engelbrecht erklärt mir die beiden Rituale, um einen Redner fertig zu machen bzw. einen Hohen zum Abtreten aufzufordern: höhnischer Beifall oder Schwenken der Delegiertenkarten; »der ganze provinzielle Pöbel von Betonköpfen« im Saal, der dies praktiziert, sei die paradoxe Folge einer halben Demokratisierung der Delegiertenwahl. Unter der Herrschaft des mechanischen Auswahlschemas von früher hatte es eine Quotenregelung gegeben, die Arbeiter, Bauern, Frauen und Jugendliche begünstigte. Ca. 2000 Stimmen des ›rechten‹ Blocks. Die Demokratisierung des Wahlverfahrens begünstige diesen, da die anderen Richtungen ihre Stimmen auf mehrere Rivalen verteilten. Am Freitag vor dem Parteitag hat Gorbatschow auf einer ZK-Sitzung Bedingungen formuliert und sich ultimativ Anpöbelungen verbeten. In einer Hinsicht zeichnet sich eine Teilniederlage ab: den Entwurf zu einem neuen Statut musste er im Wesentlichen zurücknehmen; er wollte eine neue Struktur, bestehend aus einem Vorsitzenden mit Stellvertretern und einem Parteipräsidium (der PDS vergleichbar). G wollte mehr Zeit für Staatsgeschäfte. Engelbrecht meint, es sehe nach künftiger rechtszentristischer Führung aus.

*

G. Melikjan (Staatliche Kommission für Wirtschaftsreform): Aktiengesellschaften seien die beste »Entstaatlichungsform«, weil nicht Privatisierung, da die operative Verfügung übers Kapital nicht weggegeben werde. Mir schwant, dass das eine Milchmädchenrechnung ist, weil es ohne Spekulation keine Aktie geben kann. Die Alternative wären festverzinsliche Papiere. Über die Triebkraft möglicher Anleger schweigt sich der APN-Bericht aus. Ich glaube, es gibt einfach noch keinen ökonomischen Common Sense. – Der Wert der Produktionsgrundfonds betrage ca. 2 Billionen Rubel. In 1,5 bis 2 Jahren könnten davon allenfalls für 100 bis maximal 200 Mrd Rubel in Form von Aktien verkauft werden.

 

3. Juli 1990

Zu den Paradoxien des politischen Spiels der Kräfte in der KPdSU gehört die Forderung der »Arbeiter-Plattform«, einer linken Minderheit, nach »strenger Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit«. Sie sieht die »Schattenkapitalisten« sich in der Partei »ausbreiten« und das Land hinübergleiten in eine »bürgerliche Diktatur«. Der unheimliche Witz ist, dass diese ihre Warnung Teil der Gefahr ist.

Gorbatschows Agieren beobachtend, fällt mir auf, wie er einmal gefällte Beschlüsse an und für sich untergeordneter Gremien wie festgefügte Tatsachen behandelt, von denen auszugehen ist. So jetzt die Beschlüsse des Märzplenums zur Landwirtschaftspolitik. Die Delegierten folgen ihm darin, obgleich sie eigentlich das souveräne Gremium schlechthin bilden, das sein ZK ohne weiteres desavouieren könnte. Die jetzt einzusetzende Kommission soll also die Verwirklichung jener Beschlüsse kontrollieren, nicht etwas Neues auskochen. Listig lässt er mit den Händen abstimmen, dass er diese Kommission nicht leiten muss. Denn er kandidiert für den Vorsitz der Kommission zum Parteistatut, und alle andern Kandidaten ziehen sich zurück, sodass er mit 3.166 gegen 1.046 Stimmen gewählt wird. Das Dispositiv dieses Kongresses erinnert mich an einen Laser-Generator; was dort das gebündelte Licht, sind hier die gebündelten Stimm(ung)en.

Alexander Degtjarew, stellvertr. Vorsitzender der Ideologiekommission des ZK, gibt Ergebnisse der Meinungsumfragen unter den Delegierten bekannt. Bezeichnend diese Rolle der Demoskopie; als seien die Delegierten selber noch einmal ein Demos, der erst gesichtet und repräsentiert werden muss. Aber das ist wohl auch so. Nur die wenigsten kommen zu Wort, und dies als Resultat hart ausgetragener Kräfteverhältnisse; schon dieses Wort zählt in der Regel nicht viel; nichts aber scheint die einzelne Stimme zu zählen, die als Knopfdruck in die Zählmaschine eingegeben wird.

Befragt nach dem Hauptgrund der Krise, heißt es am häufigsten, »die ideologischen Markierungen für die Ziele der Umgestaltung fehlen«; am zweithäufigsten, die Umgestaltung werde halbherzig betrieben; am dritthäufigsten, die Apathie.

3. Juli 1990 (2)

Gorbatschows gestriger Rechenschaftsbericht enthält wenig Vorwärtsweisendes. Er bräuchte diese Partei als »zementierende Kraft unseres multinationalen Staates«, d.h. als multinationale Kraft einer universalistischen politischen Kultur, hängt aber zugleich den kommunistischen Horizont aus, der längst zur sturen Mauer geworden ist, an der die Plakate abblättern, verfügt also über keine Losung, die zumindest im Glauben die Menschen in eine bessere Zukunft risse. Da Gorbatschow zugleich die »Umwandlung des superzentralisierten Staates in einen wirklichen Bundesstaat« betreibt und die unmittelbare Aufgabe darin sieht, »die Souveränität der Republiken und der örtlichen Selbstverwaltung mit realen wirtschaftlichen Inhalten zu füllen«, hängt er in den Widersprüchen einer fast magischen Problemstellung: die »Unteilbarkeit der KPdSU mit der maximalen Selbständigkeit der kommunistischen Bewegungen der Unionsrepubliken und Autonomien« zu vereinbaren. Die baltischen Republiken bieten ein Lehrstück: die dortige Spaltung der KP hatte zur Folge, »dass die kommunistische Bewegung in den Republiken weitgehend geschwächt wurde und dort andere politische Kräfte an die Macht kamen«. So schärft er als wichtigste Lehre ein: »Zusammen stellen die Kommunisten eine starke politische Kraft dar, doch diese Kraft wird zerbröckeln, wenn sie sich auf ihre nationalen Quartiere zurückziehen.« Aber was sollen sie der nationalen Agitation entgegensetzen? Der Klassenkampf ließe eine internationalistische Position aufbauen, aber von ihm ist nicht die Rede. Statt von einer im genauen Sinn sozialen Basis der Partei zu sprechen, bestimmt Gorbatschow die KPdSU als »politische Organisation des ganzen Volkes«. Gegensatzlos? Das erinnert an Stalins »Staat des ganzen Volkes«? Nicht die Pluralität von Bedürfnissen und Interessen ist das Problem, sondern die Antagonismen sind es. Hier redet Gorbatschow drum herum, als wäre das sozialistische Projekt gegensatzlos. Die KPdSU soll diejenigen Interessen vertreten, »die Millionen von Individuen zu einem Volk verbinden.« Der Markt, auf den er orientiert, spaltet indes die Gesellschaft bereits, und diese Spaltung führt dem Nationalismus paradoxe Energie zu (paradox, weil der Markt jede Nation unbarmherzig in Gewinner und Verlierer zerlegt). Nur als unerbittlich funktionierende Sanktionsmaschinerie in einer sich im Selbstlauf beschleunigenden Wirtschaft würde der Markt zugleich Kohäsionseffekte zeitigen. Jetzt bedingt die ökonomische Misere ein allgemeines Rette-sich-wer-kann.

Gorbatschow erwähnt den Vorwurf, er habe »das Land in ein ›globales Experiment‹ verwickelt, ohne einen theoretischen Vorlauf oder ein Reformkonzept zu besitzen.« Und da hat sich ja in der Tat ein Abgrund des Nicht-Vorhergewussten oder -Gewollten aufgetan, eine Verkettung von Zwangslagen, die seinem Handeln immer neue Impulse aufzwingen. Am wenigsten hatte man (einschließlich meiner) wohl erwartet, die Idee des Sozialismus könnte vom Versuch ihrer Neubelebung doppelt verletzt werden. Gorbatschow kann nur allgemein sagen, was nötig wäre, diesen Begriff mit neuem Leben zu erfüllen: »freie Arbeit, Selbstverwaltung und Wohlstand des Volkes« wäre ein »humaner und demokratischer Sozialismus«, der »das stalinsche Sozialismus-Modell durch die zivile Gesellschaft freier Männer und Frauen« ablösen würde. Diese Perspektive bleibt vorerst gleichsam ins Körperlose gebannt, hat keine materielle Basis mehr, vor allem im nächsten ›materialistischen‹ Sinn der Versorgung jener freien Männer und Frauen mit Lebensmitteln. Die »Befreiung vom Monopolismus« bleibt vorerst eine rein negative.

Neu, wie er die Frauenfrage aufnimmt; und endlich gewahrt er die neue Arbeiterbewegung. Klar, dass die KPdSU eine Partei im Wortsinn werden muss: Teil eines weiten politischen Spektrums. Klar auch, dass sie parlamentarische Partei zu sein hat und dass die Transposition vom Monopol der Staatspartei dorthin ein Salto mortale sein wird.

4. Juli 1990

Ajas Mutalibor (1. Sekr. Aserbaidschan): »Die Geschichte wird den politischen Mut des Mannes gebührend einschätzen, der sich für eine revolutionierende Perestrojka entschieden hat. Doch seine Zeitgenossen können sich nicht mit Unentschlossenheit und Inkonsequenz abfinden, wegen derer die große Initiative untergehen kann.«

Leonid Abalkin hat dem Parteitag auf seine Weise das historische Surfprinzip erklärt: Jede gesellschaftliche Bewegung muss »die Tendenz fortschrittlicher Veränderungen des gesellschaftlichen Prozesses aufspüren und möglichst zu deren Realisierung beitragen«. Eine Partei, die dem zuwiderhandelt, »wird unweigerlich […] abtreten«. – Was daran verzweifelte Rhetorik ist, um das Neue in die Köpfe des Apparats zu hämmern, was er selber davon so denkt, vermag ich nicht abzuschätzen. Aber da ist es wieder, das ›eiserne Gesetz des Fortschritts‹. Diesmal will es die Absage an die »Idee der sozialistischen Wahl«. Von der Gegenseite wendet sich Generaloberst Nikolai Schljaga, 1. Stellv. d. Chefs der politischen Hauptabteilung der Sowjetarmee und der Seekriegsflotte, scharf »gegen Entideologisierung und Entpolitisierung der Streitkräfte […]. Die Partei als die politische Avantgarde der Gesellschaft darf die Armee nicht verlassen.«

APN verteilt ein Interview mit Wladimir Lysenko (Kandidat in Philosophie) von der Demokratischen Plattform. Sein Credo: »Die Gesellschaft sollte sich auf natürliche Weise entwickeln und ihren eignen Gesetzen folgen.« Da sind sie wieder, Natur und Gesetz, diese scheinschweren Kaliber, mit denen auch der ML in die Gegend schoss. Immerhin findet L. es »notwendig, sich auf marxsches Denken als Ganzes zu stützen, einschließlich von Werken Plechanows, Bernsteins und Gramscis«. Vor allem müsse man weg von Lenins Lehre von der Partei neuen Typs.

Abel Aganbegjan: »Die UdSSR auf dem Wege zur Integration in das Weltwirtschaftssystem«, ein kleiner Artikel von vier Manuskriptseiten, verteilt von APN, preist den Weg von der Selbstisolierung zum offenen Wirtschaftssystem, das sich in den Weltmarkt einklinkt. Völlig theorie- und bedenkenlos.

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Hans Ulrich Kempski (»Der Magier probiert einen neuen Trick«, SZ v. heute) nennt Gorbatschows Bericht »eine seltsame Rede, die erst hinterher bewusst werden lässt, wie sehr sich Gorbatschow bedeckt hält: keine Versprechungen und keine Prognosen, auch keine Schuldzuweisungen.« Auf dem XXVII. Parteikongress hatte er noch rasche Besserung versprochen und Kampfansagen gegen negative Erscheinungen und Personengruppen ausposaunt.« Diesmal räume er bloß ein, »bisher vergeblich nach einem grandiosen Gedanken […], nach einem rettenden Geistesblitz zugunsten der Perestrojka« gefahndet zu haben. Das Wort »radikal« durchziehe nun als »trotzig-theatralische« Beschwörungsformel den Diskurs. – Die ausländischen Beobachter rätselten, warum es ihm nicht gelingt, »seine geradezu magische Strahlkraft, die ihn im Ausland gleichsam zum Supermann macht, zu Hause in der Sowjetunion in Erfolge umzumünzen«. Die »kaum strittige« Antwort laute: »weil die Perestrojka nicht nach einem durchdachten Plan in Gang gesetzt worden sei«. Nur 4,8 Prozent der KPdSU-Mitglieder sollen sich noch als »gläubig« bekennen. Den schütteren Applaus für Gorbatschow im Vergleich zum »rauschhaften Beifall« für Jakowlew erklärt Kempski aus Sätzen wie diesem, dass es »nicht nur leere Regale, sondern auch leere Seelen« gegeben habe. Dieser Satz habe die Seelen der Delegierten erreicht.

Der Verteidigungsminister, Dmitri Jasow, gegen »Entpolitisierung« der Armee. Wegen einer Welle von Wehrdienstverweigerung fehlten 400 000 Soldaten. Erlitt danach einen Schwächeanfall und musste vom Podium geführt werden. – Ligatschow lobte die Armee: sie habe »endlich angefangen, sich selber zu verteidigen«. Klingt nach gefährlichem Spiel. Gekontert wird es von Schewardnadse: die Konfrontation mit dem Westen habe in 20 Jahren 700 Mrd Rubel gekostet. Sagt damit indirekt, dass das alte Regime zugrundegerüstet wurde. Die Politik müsse dafür sorgen, »dass man keine Gegner und Feinde hat«. Träumt er? Oder schläfert er ein?