Hightech-Kapitalismus in der großen Krise

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2. Naturgrundlage und Epochenspezifik

Unter denen, die dieses Feld kritisch bearbeiten und dabei dem kapitalismusgeschichtlich Neuen den Epochennamen abzugewinnen versuchen, zeichnen sich zwei entgegengesetzte Denkrichtungen ab: eine historisch vergleichende, die regelmäßig wiederkehrende Ablaufmuster herausarbeitet, und eine, die in solchen Ablaufmustern das epochal Neue zu fassen sucht. Auch wenn der kritische Hauptstrom nicht auf ihrer Seite ist, hat die historisch vergleichende Richtung die besseren Karten. Zu der Frage aber, die uns bewegt, schweigen beide.

Das wirklich Neue spielt auf einer Ebene, wo die Entwicklung ebenso unwiderruflich wie wiederholungslos fortschreitet. Es ist die Ebene des produktiv-konsumtiven Stoffwechsels der gesellschaftlichen Menschheit mit der Natur, der sie umgebenden und der eigenen. Auf ihr kann der Mensch, wie Marx sieht, »nur verfahren wie die Natur selbst« (23/57). Um wie die Natur verfahren zu können, muss er die Natur erforschen und die Verfahren und ihr jeweiliges Instrumentarium entwickeln, in denen das Naturwissen sich produktiv für letztlich konsumtive Zwecke anwenden lässt. Nach beiden Seiten verändert er dadurch Natur, die ihn umgebende und die eigene, Gegenständlichkeit und Subjektivität. Für die naturverändernde Subjektseite hat Marx den Satz aufgestellt: »Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen.« (23/194f) Dieses Wie hat wiederum zwei komplementäre Seiten, deren widersprüchliche Einheit die Produktionsweise bestimmt: »Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird.« (195) Mit der Natur aber verhält es sich wie in der Geschichte vom Wettlauf des Hasen mit dem Igel. Sie ist immer »schon da«. Die uns umgebende und unser Dasein tragende Natur nennen wir »Erde« in einem Sinn, der das, was auf, unter und über ihr ist, Wasser, Luft und alles Lebendige umfasst. Sie ist unser »natürliches Laboratorium«, wie Marx in den Grundrissen sagt (42/383), »das große Laboratorium, das Arsenal, das sowohl das Arbeitsmittel wie das Arbeitsmaterial liefert wie den Sitz, die Basis des Gemeinwesens« (384). Jede Entnahme und jede Entsorgung der Abfälle sorgt für ihre Veränderung. Vieles am Erdverbrauch einer bestimmten gesellschaftlichen Lebensweise, abbildbar als das, was man den »ökologischen Fußabdruck« genannt hat (vgl. Wackernagel/Beyers 2010), ist unwiderruflich. Das gilt zumal für die Folgen der systemischen Akkumulation um der Akkumulation willen, die den Kapitalismus von allen bisherigen Gesellschaftsformationen unterscheidet.

Vom komplementär-gegensätzlichen Verhältnis der Produktion zur Konsumtion sowie zur Distribution als »Gliedern einer Totalität, Unterschieden innerhalb einer Einheit«, sagt Marx: »Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung […] als über die andren Momente.« (42/34) Die gleiche Dialektik waltet im Mensch-Natur-Verhältnis. Natur ist nicht nur zu uns gegensätzliche Natur in Gestalt der ausgebeuteten Erde. Natur greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung als über die anderen Momente. Wir Menschen sind in ihr und sie in uns. Wir vermögen diesen Sachverhalt zu begreifen, doch werden wir dadurch nicht zum »übergreifenden Moment« (vgl. Grundrisse, 42/29). Marx leitete aus diesem Sachverhalt den kategorischen Imperativ ab, nur den Besitz, nicht jedoch das Eigentum an unserer Naturwelt,45 dem allgemeinen Arbeitsgegenstand und Sitz des Gemeinwesens, der »Erde« zuzulassen, auch nicht das »aller gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen«. Für sie soll gelten: »Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie […] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« (25/784)

45 »Die Unterscheidung von Besitz und Eigentum, dem gesunden Menschenverstand nicht ohne weiteres zugänglich, ist in historischer und perspektivischer Hinsicht zentral. Sie erlaubt, vorrechtliche Gemeineigentumsformen, rechtlich kodifizierte Formen unterschiedlicher Verfügung und Aneignung von Besitz und Eigentum, sowie revolutionär zu rekonstruierende Formen von Gemeineigentum und Besitz zu thematisieren.« (Krader 1995, 172)

Wir Heutigen, mit unserem katastrophisch geschärften Bewusstsein, müssen uns eingestehen, dass dieses Postulat in seiner positiven Fassung, wenn es sich nicht auf bestimmte Hinsichten beschränkt, streng genommen als utopisch zu bezeichnen ist. Denn auch wenn Ressourcen »von der Natur gratis geschenkt« zu sein scheinen (23/630), so ist doch in der Natur nichts umsonst. Jedenfalls können wir uns nicht vorstellen, vielleicht noch nicht, wie sich ein entsprechendes gesellschaftliches Naturverhältnis mit Nachhaltigkeitsüberschuss (›verbessert‹) im Ganzen herstellen lassen könnte. Wohl aber können wir zwischen nachhaltigeren und zerstörerisch zurückschlagenden Praxen unterscheiden, und an dieser ökologischen Unterscheidung hat sich unser Handeln auszurichten.

Vom traditionellen Sprachgebrauch abweichend, mag man die Geschehensebene der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in diesem Sinn, den Natur ›übergreift‹, als die der menschlichen Naturgeschichte bezeichnen. Ebenso unwiderruflich wie wiederholungslos schreitet auf dieser Ebene die Entwicklung fort. Die Natur an sich ändert sich nur, indem sie sich gleich bleibt, bzw. bleibt sich darin gleich, dass sie sich fortwährend ändert. Die Natur für uns, die wir die »Erde« nennen, ist mit uns auf einer Reise ohne Wiederkehr. Der ungeheure Produktionsapparat, den die gesellschaftliche Menschheit für ihren »Stoffwechsel mit der Natur« errichtet hat und betreibt, wirkt mit seinen Abfällen und Ausscheidungen in der uns umgebenden Natur, verfahrend wie sie selbst. Wenn die Erdgeschichte Jahrmillionen dazu gebraucht hat, die sauerstoffbestimmte Atmosphäre herzustellen und die Reste der Organismen, die den Kohlenstoff gebunden und den Sauerstoff ausgeschieden haben, im Untergrund zusammenzupressen, so führt die industrielle Verbrennung solcher Reste den darin mineralisierten Kohlenstoff in einem Bruchteil jener Zeit als »Treibhausgas« wieder in die Erdatmosphäre zurück. Insofern macht die von den Ausscheidungen der Industriegesellschaft bewirkte Klimaveränderung Epoche nicht nur in der menschlichen, sondern auch in der Erdgeschichte.

Dass nach dem Satz von Marx auch das Wie, mit welchen Arbeitsmitteln der Naturstoff verändert wird, die ökonomischen Epochen unterscheidet, ist im Hauptstrom der kapitalismuskritischen und speziell der marxistischen Literatur unterbelichtet, wenn nicht schlicht abwesend. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil damit angestammtes marxsches Terrain preisgegeben wird. Auf den zweiten Blick treten besonders drei Gründe hervor. Der erste Grund für jene Abwesenheit ist der den Stalinismus als Begleitideologie der gewaltgegründeten Industrialisierung prägende Technikdeterminismus, der alles Gesellschaftlich-Politische und Kulturelle diesem Primat unterwarf. Der notwendige Bruch mit dieser Ideologie und Praxis hatte bei vielen die entgegengesetzte Einseitigkeit zur Folge, die den objektiven Möglichkeitsraum bestimmende Determinante der technischen Arbeitsmittel zu vernachlässigen. Ein zweiter Grund dürfte in der Abwehr der Ideologie der »Wissens­gesellschaft« liegen, sofern diese vom Kapitalverhältnis schweigt. Im Eifer des Gefechts gegen die Kapitalbestimmtheit vergisst man, das vom Kapital Bestimmte, die Produktivkräfte, zu berücksichtigen. Auch in dieser Hinsicht hätten wir es mit einer reaktiven Einseitigkeit zu tun. Als dritter Grund kommt der Einfluss der nicht genuin marxistischen Regulationsschule in Betracht. Mit Recht betont sie die Notwendigkeit, durch die komplexe institutionelle46 und politisch-kulturelle Einbettung des kapitalistischen Verwertungsprozesses ein konkretes Akkumulationsregime herauszubilden, das die gesellschaftlichen Konflikte zu absorbieren und Produktion und Konsumtion aufeinander abzustimmen vermag. Mit dem theo­retischen Defizit fast aller Vertreter dieser Schule, darüber die formative Bedeutung der Produktivkräfte und ihrer Entwicklung zu vernachlässigen, haben wir uns im ersten Buch auseinandergesetzt (vgl. HTK I, 29-34).

46 Institutionen »regulate our economy by coordinating its decentralized decisions and integrating its separate activities into a unified structure« (Gutmann 1994, 56).

3. Produktivkräfte und Möglichkeitsräume von Herrschaft

Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen darf die Entsprechungen nicht vergessen lassen. Wie jede Herrschaft stützt auch die des Kapitals sich auf Herrschaftsinstrumente. Herrschaftstechnik ist ein geläufiger Begriff. Doch er ist besetzt vom Interesse an politischer Strategie und Taktik. Dass Herrschaft und Hegemonie ihre eigene Technobasis haben, tritt für gewöhnlich dahinter zurück. Der Einsatz der Produktionsmittel des materiellen Reichtums sowie derjenigen der Gewalt- und Hegemonieapparate bestimmt das Bild. Nicht weniger wichtig sind indes die Produktivkräfte organisatorischer Rationalität und Wirkungsmächtigkeit, die zu allen Zeiten staatlich reproduzierter Klassenherrschaft eine entscheidende Rolle in der Ökonomie der Macht gespielt haben. Sie muss als Ökonomie begriffen werden, denn auch Herrschaftsmächte ›wirtschaften mit knappen Mitteln‹, was sich zumal dann bemerkbar macht, wenn sie militärisch zusammenstoßen.

Die Dispositive der Digitalisierung haben nun deutlicher als frühere Technologien hervortreten lassen, dass auch die in den Produktionsverhältnissen verankerten Herrschaftstätigkeiten der Planung, Verwaltung, Kommunikation und Kontrolle darauf angewiesen sind, sich auf eigene Produktivkräfte zu stützen, die vom allgemeinen Stand der Produktivkraftentwicklung zehren und den Möglichkeitsraum kapitalistischen Handelns epochenspezifisch determinieren.47 Auf US-amerikanischer Seite realisierte sich die erste Phase des Irakkrieges auf Basis der informationstechnischen Dispositive; nach dem Einsatz der mannlosen »Marschflugkörper« dominierte das an militärischen Massen ausgedünnte »elektronische Schlachtfeld« des Hightech-Krieges (vgl. HTK I, 227). Auch wenn es wie seit alters am Ende die Sprengstoffe waren, die das Zerstörungswerk vor Ort bewirkten, so war die satellitengestützte informatische Koordination das epochal Neue. In der zweiten Phase des Krieges, die den USA nach dem schnellen Sieg die ebenso langsam wie verlustreich sich abzeichnende Niederlage eintrug, schlug die Situation um. Auf die Fernlenkwaffen antworteten die ferngezündeten Sprengfallen, auf den hochtechnologischen Distanzkrieg der Nähekrieg der »Selbstmordattentäter«.

 

47 Folgt man diesem Gedanken, verweist bereits die Kategorie »Kapital« als das alte Wort für »Hauptsumme« auf die frühkapitalistische Buchführung als versach­lichende Produktivkraft kapitalistischer Rationalität zurück.

»Die Produktionsweise denken« – mit dieser Überschrift, die Aufforderung und Programm in einem zum Ausdruck bringt, beginnt das erste Buch. Vereinfacht gesagt, geht es dabei noch immer um die Frage, was für eine Gesellschaft der Computer auf kapitalistischer Grundlage ergibt. Dieses Wissenwollen stößt in der kapitalismuskritischen Literatur noch immer auf die fast durchgängige Abwesenheit der Produktivkräfte und der durch ihren kapitalistischen Einsatz bestimmten Arbeit. Das Zentrum des Erkenntnisinteresses besetzt zumeist das Finanzwesen. Gewiss ist die finanzkapitalistische Dimension von großer Bedeutung, zumal in einer Phase, in der die Finanzspekulation die Staaten des Euro-Raumes vor sich hertreibt. Nicht umsonst hat die Weltwirtschaftskrise als Finanz- bzw. genauer als Kreditkrise begonnen und macht sich bei jedem Schub der »Zweiten großen Kontraktion« (Rogoff 2011) fiktiven Kapitals als solche geltend. Allerdings ist diese Ablaufform als solche kein Alleinstellungsmerkmal der aktuellen Krise. Bleibt man bei der Analyse der Finanzverhältnisse stehen, wird Vernunft zu Unsinn. Eines der Geheimnisse dieser Verhältnisse scheint in den Worten des ehemaligen »Research«-Leiters der DZ-Bank auf: »Die jüngste Wirtschaftskrise ist keineswegs mit dem Begriff Finanzkrise hinreichend erklärt. […] Die amerikanische Immobilienblase, übrigens die fünfte in den letzten sechs Rezessionen, war eine der realwirtschaftlichen Ursachen, die Subprime-Krise die finanzwirtschaftliche Übertreibung dazu. […] Für eine konsumgetriebene Volkswirtschaft sind Wohnungsbau und Autos die wichtigsten zyklischen Faktoren. Wenn der Bau 2007 in die Krise gerät und die Autobranche ölpreisbedingt im Frühsommer 2008, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die amerikanische Wirtschaft in eine Rezession fällt.« (Holzschuh 2010)48 Ungeachtet des »astronomischen Umfangs« von Konsumkrediten49 werden wir dennoch nicht von konsumgetriebener Volkswirtschaft statt von finanzgetriebener Akkumulation reden (vgl. Kap. 5). Was fürs mächtige Finanzkapital gilt, dürfte für die Konsumenten, die am schwächeren Hebel sitzen, allemal gelten. Wohl aber werden wir dem Wink folgen, dass der finanzielle Treiber selbst getrieben ist. Es sollte uns nicht wundern, wenn wir im politisch-ökonomischen Getriebe auf eine systemische Verkettung getriebener Treiber stoßen würden. Mit dem Bauplan dieses Getriebes werden wir uns zu befassen haben.

48 Thomas Sablowski hebt hervor, dass es im »globalen Akkumulationsregime«, wie wir es unter dem Titel des transnationalen Hightech-Kapitalismus beschreiben, noch »keinen adäquaten Ersatz für die fordistischen Konsumnormen gibt, die um das standardisierte Wohnen und das Automobil zentriert waren. Darüber kann auch die Ausbreitung von Computern, Handys und anderen elektronischen Konsumgütern nicht hinwegtäuschen. Anders wäre schwerlich zu erklären, dass die gegenwärtige Krise vom Immobiliensektor und vom Automobilsektor ausging.« (2009, 122)

49 »Only the astronomical volume of these liabilities has maintained the buying cycle in a context of decreased savings.« (Katz 2011)

Hier könnte eingewandt werden, dass wir uns damit auf einer ganz allgemeinen Ebene der Kapitaltheorie bewegen, die nichts hightech-kapitalistisch Spezifisches hat. Das ist insoweit richtig, als die Mechanismen des Kapitalprozesses in gewisser Hinsicht Jahrhunderte lang den gleichen Grundmustern folgen. Die hochtechnologischen Produktivkräfte im Fahrwasser der elektronischen Datenverarbeitung ändern zwar alles, doch solange Kapitalismus herrscht, ändert sich auf dessen herrschender Seite auch wieder nichts, ohne noch mehr sich selbst zu gleichen. Innerkapitalistische Veränderungen sind Übersetzungen. Jedes neu unterworfene Gebiet verändert auch die Unterwerfung, aber ändert nichts daran, dass sie Unterwerfung ist. Was sich ändert, sind die Konkretisierungs­weisen.50

50 Individuelle Erfahrung und sozioökonomischer Sachverhalt treten hier ausein­ander. Für die Einzelnen hat sich je nach Lage tatsächlich etwas verändert. Ihnen haben sich neue Möglichkeitsfelder geöffnet. Man sollte jedoch Möglichkeit nicht arglos verstehen. Möglichkeit hat die Verwirklichung erst noch vor sich. Es hängt von der Klassenlage der Einzelnen ab, welche Hindernisse sie auf dem Weg zur Selbstverwirklichung überwinden müssen. Entgrenzte Konkurrenz ­macht es ständig ebenso möglich, dass man vom Zugang zu den neuen Möglichkeitsfeldern mangels bestimmter Ressourcen abgeschnitten wird.

Dass jene abstrakten Grundmuster aber in ihrer konkreten Ausprägung, ihrer Dynamik und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung sich ändern mit den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, also mit den beiden ungleichen, aber interdependenten Determinanten der Produktionsweise, lässt sich gerade auch an der Finanzsphäre ablesen. Auch die »Finanzindustrie« bzw. Finanzbranche – anders als die Industrie produziert sie ja nichts –, diese auf das »imperiale Dollarsystem« gestützte und neben der Informations- und Kommunikationstechnologie zweite neue Wachstumsbranche (Gowan 2007, 156), auf welche die Vereinigten Staaten noch einmal ihre ökonomische Hegemonie gründeten, beruht ja auf dem Einsatz neuartiger Produktivkräfte, und ihre Praxisformen und Akteure ändern sich mit diesen. Wir vergewissern uns dessen am Beispiel der Börse mit Blick auf Phänomene, die sich erst nach dem Erscheinen des ersten Bandes herausgebildet haben. Man stößt dabei sogleich aufs Verhältnis des kapitalismusgeschichtlichen Allgemeinen und seiner hightech-kapitalistischen Besonderung.

Vom transnationalen Hightech-Kapitalismus zu sprechen fordert dazu auf, an der epochal dominanten, auf dem kapitalistischen Einsatz von Informationstechnologie gründenden Produktionsweise Maß zu nehmen. Wenn Marx von den bestimmenden Akteuren und Produktionsverhältnissen einer Epoche sagt, dass sie »allen übrigen Rang und Einfluss« anweisen (42/40), so bedingt in der Gegenwart die Dominanz der Weltmarktakteure Rang und Einfluss der lokal oder national, ja sogar regional begrenzt aktiven Kapitale. Wir beschreiben die Weltmarktakteure als transnationale Konzerne,51 auch wenn sie weiterhin nationalstaatlich verortet und bis zu einem gewissen Grad gesichert sind,52 weil sie »eine neue Phase des Monopolkapitalismus« prägen, »gekennzeichnet durch die Unterwerfung des Ensembles der betroffenen nationalen Produktionssysteme unter die Herrschaft dieser Monopole, die dadurch einen Gutteil des in den beherrschten Sektoren produzierten Mehrwerts absaugen« (Amin 2011, 73). Vor allem richtet »Produktionsweise […] als Begriff für die widersprüchliche Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, die [von Marx] als ›ökonomische Struktur‹ begriffen wird« (HTK I, 31), die Aufmerksamkeit auf die Widersprüche zwischen den von der Arbeit bewegten Produktivkräften und den durch diese bedingten transnationalen Produktionsverhältnissen. Die Schicksale des Wissens, die der Name der »Wissensgesellschaft« illusionär anspricht, und die bis zu einem gewissen Grad verselbständigte Bewegungsform und Macht des Geldkapitals und seiner Kreditverhältnisse, die ein Name wie »Finanzmarktkapitalismus« hervorhebt, entscheiden sich in jenen widersprüchlichen Grundverhältnissen der »ökonomischen Struktur«, wenn auch nicht unmittelbar und in jedem einzelnen Moment.

51 »Tatsache ist, dass von den hundert größten Wirtschaftseinheiten der Gegenwart 51 Konzerne und 49 Staaten sind. Walmart produziert in mehr als 161 der 191 Nationalstaaten der Welt, und Mitsubishi produziert mehr als Indonesien, das Land mit der viertgrößten Bevölkerung der Welt.« (Escudero 2011) – In Deutschland ist seit unserem ersten Band die Transnationalisierung des Eigentums am Industriekapital rasant fortgeschritten. Um 2000 gehörten noch zwei Drittel der Dax-Konzerne deutschen Anlegern. 2011 waren 17 der 30 Dax-Unternehmen mehrheitlich in ausländischer Hand. Bei Siemens, Daimler, Bayer und Allianz hielten deutsche Anleger nicht einmal mehr ein Drittel der Aktien. Auch die Eigentümer von BASF, Eon und Deutsche Bank waren mehrheitlich Ausländer. (»Ausverkauf der Deutschland AG«, FAZ, 11.5.2011, 19) Ein Geflecht von Überkreuzbeteiligungen zwischen Großunternehmen hatte zuvor die »Deutschland AG« zusammengehalten. Das entsprach der fordistischen Bindung an den Nationalstaat. Die rot-grüne Bundesregierung stellte dann Beteiligungsverkäufe von der Steuer frei und setzte damit den Entflechtungsprozess in Gang. Die Unternehmensbeteiligungen kamen auf den Markt. Der aber war dank der Liberalisierung des Kapitalverkehrs bereits Weltmarkt.

52 In Teil II wenden wir uns den Widersprüchen und Bewegungsformen der transnationalen Hegemonieverhältnisse und imperialen Strukturen zu, die für Weltmarktakteure notwendig sind.

Viertes Kapitel
Die Zeit der Spekulation

Bet’ und arbeit’!, ruft die Welt.

Bete kurz, denn Zeit ist Geld!

Georg Herwegh, Bundeslied