Buch lesen: «Die Tragfähigkeit des Scheins»

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Die Tragfähigkeit des Scheins

Roman

Wolf Döhner

Ein Mann begibt sich auf eine Reise nach Teneriffa. Er selber nennt sie eher eine Flucht oder Suche. Wonach er sucht, weiß er noch nicht. Aber im Verlauf dieser Reise geschehen ihm viele Zufälle und Fügungen. Seine Vergangenheit scheint mit seiner Gegenwart zu einem neuen Jetzt zu verschmelzen.

Die Frau, die er liebte, greift auch Jahre nach ihrem Tod entscheidend in sein Leben ein. Er trifft auf zwei Frauen, die auf erstaunliche Weise mit seiner Vergangenheit verbunden sind. Und er kommt endlich ans Ende seiner Suche.

Doch die Welt ist danach nicht mehr die gleiche.

Eine Geschichte über Zeit, Zufälle, Wirklichkeit sowie Schein und über die Liebe.

Überarbeitetes Reprint

von: Wolf Döhner, Was uns hält, ISBN 3-86703-688-8

Alle Rechte bei Wolf Döhner

www.ver-dichtungen.de

P

iet hatte den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt und sah, wie sich die Gleise draußen neben dem Zug bewegten. Dann verschwanden sie immer schneller aus seinem Blickfeld, so als wären sie nie da gewesen, während die neuen Bilder um so eindringlicher auf ihn einstürmten.

Wie schnell die Zeit doch vergeht dachte er. War nicht kürzlich erst ein neues Jahr gefeiert worden. Aber jetzt war es schon Oktober, ein goldener Oktober.

Er wandte sich von der Scheibe ab und betrachtete seine Umgebung. Der Zug war brechend voll aber er genoss die Menge, die wie ein Bienenschwarm voller Erwartung summte. Was mochte sie beschäftigen? Die junge Familie neben ihm mit den beiden Kindern? Der jüngere Sohn verfolgte mit offenem Mund die vorbeihuschenden Oberleitungsmasten, während die ältere Schwester sich an einem CD-Player versuchte und plötzlich lauthals bemerkte, dass der Vater die Kopfhörer vergessen hatte.

Oder die nicht mehr ganz junge Frau zwei Reihen weiter, die so angestrengt gedankenverloren ins Leere schaute, dass Piet meinte, mit Händen ihre Sorgen greifen zu können. Was bewegte sie alle, dass sie summten, auch wenn sie völlig still schienen. Waren sie nicht alle irgendwie auf der Flucht so wie er, jeder auf der eigenen und doch verbunden durch die gleiche Richtung in der sie fuhren. Als er aus seinen Gedanken wieder erwachte, hatten sie Koblenz gerade passiert.Die Burg Kaub stand golden, von der Sonne beschienen, im Rhein, die endlosen Hänge der Weinberge im Hintergrund. Alles strahlte den stillen Frieden einer Idylle aus und strich an Piet vorbei wie ein Film.

Warum wollte er diesem Frieden entfliehen? Dieser Märchenwelt aus Nostalgie und Sehnsucht

Ihm war mit einem Mal deutlich bewusst, dass er sich auf einer Reise in die Zukunft wie auch der Vergangenheit bewegte. Die nach rückwärts enteilenden Gleisen schienen nur das andere Ende einer endlosen Schleife seines Lebens zu sein

Er war auf dem Weg nach Düsseldorf, um von dort nach Teneriffa zu fliegen und fuhr dabei durch ein Stück seiner Vergangenheit, das Jahrzehnte zurücklag und doch plötzlich fast schmerzhaft in seine Gegenwart drang. Vielleicht, so dachte er, war es der Schmerz des Wiedererkennens einer verlorenen oder doch vergangenen Zeit, der gleichsam notgedrungen immer dann auftaucht, wenn man außer sich ist. Außer sich, um offen für das Neue zu sein, um dann im Neuen wieder zu sich zu kommen. Aber was ist schon neu? Es sind nicht die alltäglichen Vorgänge, die unser Leben strukturieren und überhaupt erst lebenswert machen. Nein es sind wesentlichere Dinge, die einem immer wieder geschehen, ohne dass man oft weiß weiß warum.

Vor ihm auf dem Tisch lag ein Roman, in dem er in den Pausen seiner äußeren Wahrnehmung las. Der Autor meinte, einen Roman müsse man nicht mehr linear, sondern wie ein Puzzle von verschiedenen Subjekten und Zeiten zusammensetzen. Und wie zum Beweis dessen, ließ er einen fiktiven Gegenüber von einem Roman berichten, den dieser gelesen habe. Auf die Frage, ob er ihn kenne, erwiderte der Autor: „Ja sicher ... Ich schreibe ihn gerade.“

Ganz nett, die Pointe fand Piet. Wie aber, so sann er nach, wenn die Figuren eines Romans tatsächlich autonom wären, wenn sie einen eigenen Willen hätten und ihn gegen den des Autors setzen könnten? Wie, wenn sie sich auf eigene Wege begäben und der Autor sich auf die Suche machen müsste, um sie zu finden oder wieder zu finden?

Er erinnerte sich an Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“. Vielleicht wären die sechs heute weder sonderlich scharf darauf, ihren Autor zu finden, noch erpicht sich gar von ihm finden zu lassen. Vielleicht wäre der Autor heute eine Art moderner Schlemihl auf der Suche nach seinen geistigen Schatten.

Welche Schwierigkeiten würde ein Autor bei der Suche nach seinen Personen haben?

Oder wie sähe es gar aus, wenn der Autor seine Personen noch gar nicht kannte?

Vielleicht würde er sie nie kennenlernen. Es wäre eine Frage des Zufalls, ob er ihnen begegnen würde oder nicht. Aber was sind eigentlich Zufälle?

„Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Düsseldorf Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss ...“

Piet schreckte aus seinen Überlegungen auf- und wurde gleich wieder von einer neuen Flut von Gedanken überfallen.

Düsseldorf, hier hatte er zum ersten Mal in seinem damals noch jungen Leben mit seinen Eltern in der eigenen Wohnung zusammen leben dürfen. Vorher war er bei Verwandten und Freunden untergebracht worden und hatte seine Eltern nur selten zu Gesicht bekommen. Endlich konnten sie dann eine der in den Ruinen des Krieges neu errichteten Wohnungen beziehen. Das war Mitte der fünfziger Jahre. Die Tapeten waren noch feucht und schimmelten von den Wänden. Aber es war die erste eigene Wohnung für die junge Familie.

Sie lag verkehrsgünstig in einer kleinen Nebenstraße nicht weit von den Rheinwiesen entfernt. Dorthin gingen sie oft spazieren, gelegentlich kam sogar der ansonsten viel beschäftigte Vater mit. Ziel war fast immer die große bronzene Rheinschlange. Sie war Klettergerüst, Rutsche aber auch Partner der eigenen Fantasien. Ihr großes, geöffnetes Maul konnte nicht zubeißen, wenn man den Kopf hineinlegte. Konnte es wirklich nicht, oder wollte es nicht? Wohin führte der Schlund, wenn man in ihn hineinkriechen könnte? Manchmal meinte er, ein leichtes Beben des riesigen Körpers zu verspüren, wenn er auf den Wellen seines Leibes balancierte. Dann zitterte auch er und meinte zu fühlen, dass die Schlange ihm ein Geheimnis anvertrauen wollte, das aus längst vergangenen Tagen rührte, aus Tagen in denen keine Raddampfer und Frachtkähne unter heftiger Rauchentwicklung den Fluss aufwärts fuhren und keine Güterzüge über die nahe Brücke rasselten. Nein, damals gab es all das noch nicht. Damals gab es Ritter, Prinzessinnen und Drachen aus deren Gewalt die Prinzessinnen befreien werden mussten. Und wenn sie nicht gestorben waren, dann lebten sie noch heute.

Ja, Märchen hatten ihn immer fasziniert auch lange nach der Kinder- und Jugendzeit bis heute. Das Wunderbare an ihnen ist, dass sie zunächst voller Geheimnisse und Rätsel zu stecken scheinen. Aber zum Schluss löst sich alles auf, wird gut. Man kann in die Geschichte eintauchen, mitleiden und mitfiebern und sich zum Schluss selber als erlöst fühlen.

Nirgendwo konnte man so leidenschaftlich und letztlich gefahrlos auf die Suche nach Geheimnissen gehen und sicher sein, dass man ihnen auf die Spur kommen wird. Und nirgends war es letztlich so selbstverständlich erlöst zu werden, wie in Märchen.

Er war den Geheimnissen, die ihn damals umgaben auf der Spur. Und es gab deren viele, große und kleine, täglich aufs Neue. Als er beim Doktorspiel mit der kleinen Nachbarstochter auf der Suche nach deren Geheimnis von einem Halbwüchsigen erwischt wurde, war es weniger die Peinlichkeit, bei einer Schatzsuche gestört worden zu sein, die ihn störte, als vielmehr das Ärgernis, dass auf dem Gesicht des Burschen ein eigentümlich wissendes, ironisches Grinsen lag. Er wusste also schon, was Piet nicht wusste. Aber nun war er bei der Lüftung des Geheimnisses gestört worden.

Erst viel später begriff er, dass das Leben im Wesentlichen aus Geheimnissen besteht, die man zwar ständig zu lösen versucht, die aber wenn es einem gelungen zu sein scheint, meist ein merkwürdiges Loch dort hinterlassen, wo man eben noch dieses seltsame, verstörende und doch auch gleichzeitig belebende Verlangen nach Erlösung gespürt hatte.

Sie näherten sich nun Düsseldorf Flughafen. Piet spürte seinen Gedanken noch etwas nach, stand auf, um sich zum Aussteigen bereit zu machen – und blickte in zwei stahlblaue Augen. Sie steckten wie Achtungsschilder in einem Gesicht, dessen Mund etwas unwillig die halblangen, dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht pustete. Ihre Gesichter verharrten für einen Moment nur handbreit voneinander entfernt. Sie mochte Mitte vierzig sein und legte offensichtlich keinen Wert auf Make-up. Und das hatte sie auch nicht nötig, denn außer einigen kleinen Lachfältchen um die Augen war das Gesicht ebenmäßig und frisch, fast jugendlich. Jetzt allerdings hatte sich eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen gebildet, die sich wie ein Fragezeichen zusammenzog.

„Erlauben Sie!“, sagte sie in einer sehr hochdeutschen Art und wuchtete einen kleinen Handkoffer an seiner Nase vorbei aus der Gepäckablage. Dann drehte sie sich um und eilte, da der Zug inzwischen in den Bahnhof einfuhr, dem Ausstieg entgegen.

Piet stand noch einen Moment fast wie betäubt da und schaute ihr nach. Da geht auch wieder so ein Geheimnis dachte er. Er hatte ja nicht viel mehr als die Augen gesehen. Aber das hatte ausgereicht. Augen waren für ihn fast ein Synonym für Geheimnisse. Sie faszinierten ihn, zogen ihn an und stießen ihn ab. Denn er hatte inzwischen oft genug erfahren, welche Distanz Augen zwischen Menschen errichten, ja welche Waffen sie gar sein konnten. Waffen, die einen, wenn man nicht ein Schutzschild aus Selbstbewusstsein oder Ignoranz aufgebaut hatte, vernichten konnten.

Er schaute ihr nach. Sie trug eine blaue Lederjacke, die zwar zu ihren Augen passte, aber ihre Haare nicht genug zur Geltung brachten, wie Piet befand. Er wusste selber nicht genau, warum er sie auf Mitte vierzig geschätzt hatte. Es mochte wieder mit den Augen zu tun haben. Junge, jugendliche Augen blicken meist mit einer Unbedingtheit in die Welt, die nur von purer Neugierde oder Erwartung geprägt ist. Ältere Augen blicken anders, vielleicht erfahrener. Mit vierzig wird der Schwabe gescheit, wusste er.

Er war kein Schwabe aber er war Mitte fünfzig, hatte nun die Hälfte seines Lebens unter den Schwaben zugebracht und wusste um die Sinnsprüche seiner Wahlheimat und auch um deren Treffsicherheit.

Mit vierzig hat man in der Regel auch schon die Schattenseiten des Lebens in irgendeiner Form, meist mehr als genug erfahren. Das prägt. Die Augen sehen nicht mehr so unvoreingenommen in die Gegend. Und für einen aufmerksamen Betrachter sind die Spuren des Trauerflors der Niederlagen und Enttäuschungen des Lebens in den Augen und deren Umgebung zu erkennen. Aber die Geheimnisse bleiben, ja sie wachsen sogar noch. Denn die eigenen Erfahrungen häufen sich an und verstecken sich hinter eben diesen Augen.

Piet machte sich auf und folgte den anderen Reisenden hinaus um sich in deren Strom einzureihen.

Am Ende des Bahnsteigs sah er eine blaue Lederjacke. Sie bewegte sich durch die Menge wie ein Segelschiff in hoher See. Elegant, aufrecht und mühelos, so schien es, fand sie ihren Weg.

Da also ging wieder ein Geheimnis, dem er doch eigentlich gerade zu entfliehen trachtete. Er schüttelte fast etwas unwillig den Kopf, weil er bemerkte, dass er ihm sozusagen hinterherlief.

Nein, sein Bedarf an Frauen war fürs Erste gedeckt. Mit Mühe hatte er sich aus einer mehrjährigen Beziehung lösen können. Ruth und er waren sich in einer leidenschaftlichen aber fast selbstzerstörerischen Affäre nahe gekommen. Zu nahe, wie er im Nachhinein bemerkte. Ihre Versuche, körperliche, intellektuelle und seelische Ansprüche offen zu legen und gemeinsam auch zu leben, waren immer dramatischer gescheitert. Es war ihnen nie oder fast nie gelungen alle ihre Ansprüche auf einer Ebene zu leben und schon gar nicht gleichzeitig. Immer gab es Grenzen, die verletzt und die von beiden mit heftigen Gefechten verteidigt wurden.

Nach einem dieser Gefechte, einem besonders heftigen, war er endgültig geflohen. Seine Reise nach Teneriffa war letztlich eine verspätete Folge dieser Flucht. Es hatte Monate gedauert, bis er sich wirklich abgenabelt hatte.

Und nun? Waren schon jetzt alle guten Vorsätze vergessen? Es stimmte, die kurze Begegnung hatte ihn aufgewühlt. Aber das stellte er eher unwillig fest. Es waren die Augen, die ihn fasziniert hatten. Er meinte darin ein verborgenes Bekanntes entdeckt zu haben. Etwas, das ihm schon einmal begegnet war.

Er fügte sich in die lange Schlange am Check-in ein. Die blaue Jacke hatte sich in die gleiche Reihe etwas vor ihm eingereiht.Und plötzlich wusste er, woher er diese Augen zu kennen meinte.

Es war an einem solchen Altweibersommertag vor fünfunddreißig Jahren gewesen. Da hatte er auch in solche Augen geschaut. Und es war der Tag gewesen, an dem er Lu zum ersten Mal geküsst hatte.

Sie lagen irgendwo in den Dünen an der Nordsee. Von Ferne konnten sie den Deich sehen. Und gleich dahinter lag das Internat, in das sie beide gingen.

„Du hast eine Fliege auf der Nase“, sagte Piet.

Er lag neben ihr, hatte sich auf einen Arm aufgestützt und hielt in der anderen Hand den Halm eines Strandhafers, mit dem er versuchte in ihre Nasenlöcher zu fahren. Lu hatte die Augen geschlossen und ließ sich von der warmen Herbstsonne wärmen. Jetzt blinzelte sie ihn an, richtete sich auf die Ellenbogen auf und schmunzelte.

„Ich habe dich beobachtet.“

„Unsinn, du hast geschlafen“

„Nein wirklich, ich habe dich beobachtet.“ Sie blies eine Strähne ihres dichten braunen Haares zur Seite. Dann sah sie ihn mit stahlblauen Augen an.

„Du hast eine Nase, zwei Augen und einen Mund“

„Was du nicht sagst. Und was hast du noch beobachtet?“

„Braune Augen und einen schönen Mund“, antwortete sie, schlug die Augen nieder und legte sich wieder hin. Wie vertraut sie waren, dachte er. Er legte sich neben sie und schwieg. Der Wind bewegte den Strandhafer über ihnen. Aber sie selber waren geschützt. Bis auf das leise Rauschen des Windes war nichts zu hören. Ab und zu hörte er von fern eine Möwe schreien.

Er dachte daran, dass sie gestern in der großen Pause auch so nebeneinander gelegen hatten. Ganz hinten am Ende des Schulhofes gab es einen kleinen Zaun, der das Areal von den beginnenden Dünen abtrennte. Hierher kam die Aufsicht praktisch nie. Es war wahrscheinlich verboten, über den Zaun zu steigen. Aber sie kümmerten sich nicht darum. Schließlich waren sie beide in der Unterprima, wurden von den Lehrern gesiezt und waren praktisch erwachsen. Das heißt Lu, die eigentlich Luise hieß aber von allen nur Lu genannt wurde, war erst achtzehn, während er schon zwanzig war. Er war ein begabter aber etwas fauler Schüler gewesen, der schon einige Ehrenrunden gedreht hatte und auch dieses Schuljahr stand für ihn auf der Kippe. Sie hingegen gehörte in ihrer Klasse zu den Besten.

Im Winter hatten sie sich näher kennen gelernt. Lu hatte vom Hausmeister die Erlaubnis erhalten in den Pausen den Plattenspieler in dem Nebenraum seines Büros benutzen zu dürfen. Dort saß sie oft und hörte ihre Platten. Lu war anders als die Anderen. Ja sie wurde sogar gelegentlich gehänselt, weil sie nur selten mit der Klasse ging, auf die Anmache der Jungs nicht reagierte und sich auch nicht so zu Recht machte, wie die Anderen.

Piet hatte sie schon öfters in den Pausen beobachtet. Er ging in eine der Parallelklassen und auch er war anders als die Anderen. Allerdings zeigte er es nicht so deutlich wie Lu. Piet war sich wohl bewusst, dass er von den Mädchen mit Wohlwollen betrachtet wurde und war einem Scherz oder einem kleinen Flirt nicht abgeneigt.

Aber innerlich war er eher ein Einzelgänger, der sich mit tiefschürfenden Fragen über Gott und die Welt beschäftigte. Dafür hatte er bisher noch keinen Gesprächspartner gefunden.

An diesem Wintertag ging er zufällig an der Hausmeisterloge vorbei und hörte die Musik.

Die Türe war nur angelehnt, deshalb trat er ohne weiteres ein und sah Lu auf einem Stuhl sitzen, die Augen geschlossen und andächtig der Musik lauschend. Dies irae. Piet war wie immer ergriffen von der Gewalt dieser Musik. Das Requiem von Mozart gehörte zu seinen Lieblingsstücken an klassischer Musik. Wortlos hatte er sich dazugesetzt und gelauscht, bis die Pause vorüber war.

So hatte ihre Freundschaft angefangen.

Danach hatten sie häufig in dem kleinen Raum gesessen und sich gegenseitig ihre Platten vorgespielt. Brahms, Violinkonzert, den letzten Satz der 9. von Beethoven und immer wieder auch Mozart.

Es stellte sich heraus, dass sie recht ordentlich Klavier spielte und öfters in der Aula das Klavier benutzen durfte. Und da er leidenschaftlicher Klassikfan war, hörte er ihr gelegentlich zu, wenn es sich ergab.

Die anderen Schüler hatten mit Verwunderung bemerkt, was sich da zwischen den beiden angebahnt hatte. Aber sie ließen sie in Ruhe. Es schien sogar, als ob Lu durch die Freundschaft mit Piet in der Achtung ihrer Klassen gestiegen war, als sie sahen, dass die beiden öfters auf dem Schulhof miteinander gingen und oft heftig ins Gespräch vertieft waren.

Im Frühling waren sie dann auf „ihre“ Ecke ausgewichen und hatten sich über theologische, philosophische und andere Fragen ausgetauscht oder einfach gemeinsam geschwiegen.

So hatten sie auch gestern nebeneinander gelegen und sich dann für den Sonntag zu einem kleinen Ausflug verabredet.

Und nun lagen sie in den Dünen und fühlten die Wärme der Sonnenstrahlen aber auch eine innere Wärme, die sie bisher noch kaum gekannt hatten.

Piet setzte sich wieder auf und schaute Lu an. Sie hatte ihre Augen geschlossen.

Aber ihre Wangen glühten während sich ihre Brust unter der hellblauen Bluse deutlich hob und senkte. Als er sich über sie beugte und mit seinem Mund vorsichtig ihren Mund berührte, bemerkte er ein leichtes Schütteln, das durch ihren Körper lief. Aber sie ließ es geschehen und auch, als er die Knöpfe öffnete und seine Hand auf ihre junge, feste Brust legte, sagte sie nichts. Nur ein abermaliges leichtes Zittern ihres Körpers war die Antwort.

Der Jugendliebe war nur eine kurze Zeit beschieden. Denn Piet hatte es in der Schule wieder nicht geschafft, war abgegangen und hatte sich in eine Lehre gestürzt. Die Verbindung war allerdings brieflich nie abgerissen. Nach ihrem Abitur war sie wieder in ihre Heimat im Süden Deutschlands gereist und hatte in Freiburg angefangen auf das Lehramt zu studieren, während er noch einige Jahre in seiner norddeutschen Heimat geblieben war, bevor es auch ihn in den Süden verschlagen hatte.

Piet ertappte sich, dass er nun schon zum wiederholten Male nach der blauen Jacke vor ihm Ausschau hielt. Das ärgerte ihn einerseits. Andererseits musste er zugeben, dass er etwas irritiert war, seitdem er eine gewisse Ähnlichkeit mit Lu festgestellt hatte. Lu war nun schon seit vielen Jahren tot und er hatte diese Tatsache fast aus seinem Leben verdrängt.

Lus Doppelgängerin, wie er sie spontan nannte, war gerade fertig mit dem Einchecken. Nun nahm sie ihr braunes Handgepäck, welches ihm beinahe die Nase abrasiert hätte und ging in Richtung Sicherheitsschleuse. Offensichtlich etwas genervt durch die Warterei und den Trubel um sie, steckte sie die Bordkarte nicht in ihre Jackentasche, sondern daneben. Mit einem kurzen Schritt war Piet da, hob die Karte auf und erreichte die Besitzerin gerade, als sie sich vor der Beamtin ausweisen wollte.

„Mir scheint, Sie haben etwas Wichtiges vergessen.“

Sie schaute auf die Bordkarte, die er ihr hinhielt, fasste in ihre Jackentasche und sah ihm dann direkt ins Gesicht. Piet meinte einen leichten ironischen Zug um ihre Mundwinkel spielen zu sehen.

„Oh, vielen Dank. In der Tat, ohne die geht es wohl nicht.“

Sprachs, nahm die Karte, drehte sich um und war nach wenigen Sekunden durch die Kontrolle entschwunden.

Piet schüttelte den Kopf, so als wolle er eine lästige Fliege wegscheuchen, ging wieder an seinen Platz in der Schlange und war nach einigen Minuten ebenfalls fertig mit Einchecken.

Er hatte es allerdings nicht so eilig, in die Waiting Lounge zu gelangen. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch genügend Zeit hatte, um gemütlich einen Espresso an der Bar zu trinken und die Tageszeitung zu lesen.

„Letzter Aufruf für Flug LH 2460 nach Santa Cruz . Bitte begeben Sie sich umgehend nach Gate 4!“

Piet schrak auf. Das war sein Flug. Hastig zahlte er, packte seine Handtasche und eilte durch die Passkontrolle. Bei der Sicherheitsschleuse musste er noch einmal zurück und seine Hosentaschen leeren. In seiner Münzentasche befand sich ein kleines Taschenmesser. Es war vielleicht vier Zentimeter groß. Aber es war ein Sicherheitsrisiko, wie ihm unmissverständlich bedeutet wurde.

Genervt und etwas ungläubig ob des Anlasses betrachtete er das Messerchen. „Das schenke ich Ihnen mit den besten Grüßen für Ihre Kinder.“ Er legte dem verdutzten Beamten das Messer in die Hand und eilte zum Gate. Die Stewardess wollte es gerade schließen, als er noch etwas außer Atem angerauscht kam. Immer noch etwas kurzatmig betrat er das Flugzeug, beantwortete das berufsmäßige Lächeln der Stewardess mit einem leichten „Hallo“ und ließ sich erleichtert auf seinen Sitz fallen.

Da er schon häufig geflogen war, bedeuteten die Sicherheitsbelehrungen nichts Neues für ihn. Auch der Start beunruhigte ihn in keiner Weise. Aber er bemerkte, dass die beiden Passagiere neben ihm nervös hin und her rutschten.

„Wir fliegen zum ersten Mal, wissen Sie,“ lächelte die weißhaarige Dame vom Fenster über den dicken Bauch ihres Gatten zu ihm herüber, als er etwas irritiert zu ihr schaute. „Stimmts, Egon?“ Der so angesprochene prüfte zum zehnten Mal seinen Sicherheitsgurt, antwortete mit einem kurzen „Joa.“ und drückte sich dann in seinen Sitzen, denn nun startete die Maschine.

Eine kurze Weile war es ruhig neben ihm. Dann hörte Piet neben ihm sagen: „War gar nicht schlimm. Stimmts Egon?“ „Joa.“ klang es zurück. Seine Nachbarn kamen unmissverständlich aus dem Ruhrpot. Rentner ohne Frage. Sie hatte ein kleines lustiges Gesicht mit vielen Falten und einem kleinen spitzen Mund, der offensichtlich Mühe hatte, längere Zeit geschlossen zu bleiben. Sein Gesicht war groß und rund und von vielen roten Äderchen durchwirkt. „Mein Mann hat nämlich hohen Blutdruck, wissen Sie. Aber die Ärzte haben gesagt, Ihr Mann hat schon so viel überlebt, er wird auch den Flug überleben, stimmts Egon?“ „Joa.“

Das kann ja heiter werden, dachte Piet und zog vorsichtshalber sein Buch heraus, um darin weiter zu lesen.

„Den Flug haben uns unsere Kinder zur goldenen Hochzeit geschenkt. Zeig mal die Bilder, Egon!“ Egon holte umständlich seine Brieftasche aus dem Jackett und nun musste Piet, ob er wollte oder nicht, Bilder betrachten und die Lebensgeschichten der Kinder und Enkelkinder der Alten anhören. Als sie Egon auch noch aufforderte die Bilder von ihrem Häuschen in Wuppertal zu zeigen, erhob sich Piet unter dem Vorwand zur Toilette zu gehen. Im Weggehen vernahm er noch „Nun halt mal die Klappe, Erna!“, das war der erste vollständige Satz, den Piet von Egon bisher gehört hatte.

Er wankte nach hinten, sich an den Sitzen gegen die Turbulenzen durch die sie gerade flogen, vorwärts ziehend. Aber das Luftloch kam so überraschend, dass er den Griff verfehlte und sich gerade noch auf einen freien Sitz fallen lassen konnte. Dann schaute er in zwei blaue Augen. Diesmal war die Ironie nicht zu übersehen, die ihm entgegen blitzte.

„Sie lassen wohl nichts unversucht?“

„Stimmt“, antwortete er nach einer kurzen Schrecksekunde, „ich versuche gerade Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.“

„Kein überzeugender Versuch“, meinte sie und grinste nun richtig.

„Es war kein Versuch, sondern pure Notwendigkeit.“

„Sie machen mich neugierig. Bleiben Sie, der Sitz ist frei“, sagte sie, als er sich erheben wollte, um weiter zu gehen. „Sie können sowieso nicht zurück. Der Lunch wird gerade serviert und der Gang ist blockiert.“ Und damit hatte sie Recht. Von vorne und hinten waren die Stewardessen mit ihren Servicekarren unterwegs. Ein Vorbeikommen war tatsächlich kaum möglich.

„Also gut“, entgegnete Piet, „Sie haben mich überzeugt. Dann lade ich Sie zum Lunch ein.“ Das sollte natürlich ein Scherz sein. Denn sie wusste genauso gut wie er, dass die Mahlzeit im Ticket inbegriffen war. Sicherheitshalber fügte er schnell hinzu: „Ersatzweise würde ich auch die Getränke übernehmen.“

„Ein faires Angebot“, meinte sie, „ich trinke Rotwein.“ Dann kam der Lunch.

Piet war verwirrter, als sein äußeres Auftreten vermuten ließ. Während des Essens, das relativ schweigsam verlief und nur durch einige Konversationsbrocken aufgelockert wurde, hatte er Zeit nachzudenken.

Gut, er war sich ja ziemlich sicher, dass es Zufälle gab und dass sie im Leben von Menschen sogar eine wesentliche Rolle spielten. Aber hier kamen ziemlich viele Koinzidenz zusammen. Da war zum einen ihr dreimaliges Zusammentreffen, das schließlich sogar mit einer fast Film reifen Situation geendet hatte.

Am meisten aber beschäftigte ihn die Ähnlichkeit mit Lu. Natürlich war seine Nachbarin nicht wirklich Lu. Dazu war sie zu jung. Etwa zehn Jahre jünger, so schätzte er. Und außerdem war Lu schon lange tot, wie er sich sagte, so als müsse er sich diese Tatsache bestätigen, damit sie wirklich wahr würde. Nein, es waren Kleinigkeiten, von denen die Augen den größten Anteil hatten. Einige Gesten kamen hinzu. Die Art, wie sie ihre Haare aus dem Gesicht pustete, ihr Lächeln, das oft aus einer unbestimmbaren Mischung von Melancholie, Ironie und Lebenslust zu bestehen schien.

Verwirrt war er aber hauptsächlich deshalb, weil er so intensiv an Lu denken musste. Ein Schmerz machte sich in seinem Herzen bemerkbar, den er lange unterdrückt hatte. Er fühlte, dass irgendwo in seinem Herzen eine Leere war, die er lange ignoriert hatte, so wie einen Fleck auf der Tapete, an dem einmal ein Bild gehangen hatte.

Und er fühlte etwas in sich, dass sich zusammenzog, als würde Essig darauf geträufelt. Und er wusste, dass das eine Gefühl das eines Verlustes war, das andere aber das der Scham. Ein Stück seines Lebens machte sich bemerkbar, das er am liebsten ausradieren, ausschneiden wollte. Er hatte es mit Missachtung gestraft. Aber es ließ sich nicht weg missachten. Es gehörte zu seinem Leben. Er konnte es nicht ungeschehen machen. Es gab eine Episode in seiner Beziehung mit Lu, die er nun, da sie nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, zutiefst bedauerte. Er hatte Lu verraten, wie er meinte. Er hatte nicht zu ihr gestanden und so war sie gestorben – allein.

Aber warum kamen jetzt die Erinnerungen und warum kamen nicht nur die Erinnerungen sondern sogar tatsächliche Ereignisse, die sich ereigneten, als wären sie aus einem Film herausgeschnitten und auf die heutige Zeit umgefilmt worden?

Er erinnerte sich an die Szene, in der er die Bordkarte aufgehoben hatte. Und er hätte beinahe den Flug verpasst. Was wäre geschehen, wenn sie beide den Flug verpasst hätten, aus was für Gründen auch immer? Hätten sie sich dann auch getroffen, zwangsweise sozusagen, zwei Gestrandete, die, weil sie kurzfristig das gleiche Schicksal teilten, eine Verbindung hatten? Wohl kaum, denn ihnen fehlte das Bewusstsein einer gemeinsamen Erfahrung, also ein Anknüpfungspunkt. Erst dieser könnte dann die Flut der Mosaike ihrer eigenen Wirklichkeiten vernetzten, so wie die Eingabe eines Suchwortes in eine Internet-Suchmaschine viele ähnliche oder verwandte Links zusammenbringt.

Piet war Informatiker und Computerfachmann und es war nur zu verständlich, dass er an Fragen, die ihn bedrängten, durchaus auch mit seinem Fachwissen heranging.

Aber er wusste natürlich, dass die eigentliche Frage damit keineswegs gelöst war. Welche Verbindung bestand zwischen seinen Assoziationen und der Häufung von Ereignissen? Gab es eine Instanz, die in der Lage war, seelische Vorgänge zu verdichten und schließlich so zu materialisieren, dass sie sich in tatsächlichen Handlungen niederschlugen?

Hatte er sich gedanklich so sehr mit Lu beschäftigt, dass ihm im Unterbewusstsein eine Situation mit ihr einfiel, die gewisse Ähnlichkeiten hatte mit dem, was dann mit der Bordkarte passierte?

Der Verlust einer Fahrkarte hatte vor langer Zeit zu einem letzten intensiven Aufbäumen seiner Liebe zu Lu geführt.

Er erinnerte sich sehr genau, wie das alles gekommen war.

Als Lu aus dem Zug gestiegen war, schien es Piet, der auf sie gewartete hatte, als zögere sie für einen winzigen Moment, den Boden der Stadt zu betreten, deren Name sie bisher nur aus seinen Erzählungen kannte. So als wäre sie bis zuletzt nicht ganz sicher, ob das, was sie gerade tat, wirklich gut war. Dass sie Piet angerufen hatte und ihm ein Treffen vorgeschlagen hatte, war eher einer spontanen Eingebung entsprungen und der Tatsache zu schulden, dass der Ort an der Route ihrer Reise lag. Sie hatten sich einige Jahre lang nicht mehr gesehen. Er war inzwischen umgezogen und sie hatte am Telefon schon öfter bemerkt, dass sie ihn eigentlich einmal in seiner neuen Umgebung besuchen müsse.

Piet bemerkte, wie sie sich kurz umschaute, so als suche sie jemanden. Aber die wenigen Reisenden, die ausgestiegen waren, hatten den Bahnsteig längst verlassen, so dass sie beide nun allein waren. Sie lächelte ein wenig und machte diese kleine anmutige Bewegung mit dem Kopf, an der Piet sie schon immer erkannt hatte. So auch jetzt. Er hatte am Tag zuvor ihren telefonischen Vorschlag entgegen genommen und spontan zugesagt und ihr angeboten, während ihres kurzen Zwischenstopps gemeinsam essen zu gehen. Er hatte sich richtig gefreut. Wie ein kleiner Junge, dessen Tante zu Besuch kommt, hatte er spontan gedacht. Aber es war natürlich viel mehr, tiefer Gehendes in seinen Gedanken gewesen. Vor allem viele Erinnerungen an frühere, gemeinsame Tage. Es war nun schon vier oder gar fünf Jahre her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Irgendwie herrschte eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen, dass jeder das Leben lebte, das im Jetzt und Heute möglich war. So war es fast zwangsläufig, dass sie jeweils eigene Wege gegangen waren, sich anderweitig verliebt und wieder getrennt hatten, ohne jemals den Kontakt zueinander zu verlieren. Im Gegenteil. Der briefliche und telefonische Kontakt hatte eher zugenommen. Jetzt ergab sich also eine neuerliche Begegnung.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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