Stoneburner

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Ja, klar! Das sind zwei Prachtstücke. Und sie sind nicht mal gestohlen. Sie gehören beide mir.

Willst du verpfänden oder verkaufen?

Verkaufen.

Okay, ich geb dir fünfundsiebzig für beide.

Allein die mit dem Zielfernrohr hat mich fast zweihundert gekostet, Monk.

Monk fuhr sich mit der Zunge über seine kleinen, angespitzt aussehenden Fleischfresserzähne. Da hast du gekauft, sagte er. Aber jetzt willst du verkaufen. Aber ich mach dir’n Vorschlag. Wie wär’s, wenn ich dir hier und jetzt fünf hübsche Zwanzigdollarscheine dafür gebe?

Thibodeaux starrte wie gebannt den Highway entlang, so als könnte dort jeden Augenblick ein Gespenst erscheinen. Einverstanden, sagte er schließlich.

Als er davonfuhr, steckten die zusammengefalteten Scheine tief in einer Vordertasche seiner Jeans. Auf der Fahrt durch die Stadt beschloss er, ein Bier zu trinken. Als er auf den Tresen gestützt an der Bar stand, staunte er über die Musik aus der Jukebox. Es erklang die aufrührerische Rhetorik von Barry MacGuire, der den »Eve of Destruction« prophezeite, und die kühle, verächtliche Stimme von Dylan, der fragte, wie man sich fühlte, wenn man auf sich allein gestellt war.

Außerdem gab es hier ein paar versprengte Typen mit Haaren bis zum Hintern. Komplett mit glasigen Augen und illegalem Grinsen. Mit der verschworene Miene von Eingeweihten. Die Welt veränderte sich, ohne ihm zu sagen, in was. Sie sperrte sich ein, ohne ihm zu verraten, unter welchem Fußabstreifer der Schlüssel lag.

Wenigstens einen von ihnen kannte er, seinen Saufkumpel George. Thibodeaux sprach ihn an.

Wo steckt eigentlich Lonnie Curtis, fragte er.

Mein Gott, weißt du das nicht? Er liegt seit anderthalb Monaten im Koma. Er hat sich mit Faye Rosson gestritten und sie heimgebracht, und auf dem Rückweg hat er richtig Gas gegeben und seinen Kübel voll ausgefahren. Der alte Emmons hat’s gesehen. Er meinte, der Chevy hat die Kiefern abrasiert wie ne Motorsäge. Und dann hat’s nur noch geknirscht und gekracht. Faye glaubt, dass sie schuld ist. Die ist ziemlich am Ende.

Für Lonnie scheint’s aber auch kein Honiglecken, meinte Thibodeaux.

Tja, der kriegt gar nichts mehr mit. Er liegt da, als ob’s ihn nichts angeht. Weder tot noch lebendig. Liegt im Bett und lässt die Maschine für sich atmen, jeden einzelnen Atemzug von früh bis spät.

Thibodeaux sah schweigend und betroffen in sein Glas. Hier hing das stets prekäre Leben nur mehr an einem hauchdünnen Faden, hilflos dem Versagen von irgendwelchen Rädchen, Getrieben und Transistoren ausgesetzt.

Die Jukebox verstummte. Erst wollte Thibodeaux gehen, bestellte sich dann aber noch ein Bier. Bevor er davon trank, fiel ihm Cathy ein, und er wollte wissen, wo sie war.

Ist Cathy eigentlich noch da?, fragte er.

Die Meecham? Denke schon, ja. Sie arbeitet im Golden Saddle in Clifton. Sie war mit Cap Holder zusammen, aber sie haben sich getrennt oder so, und da hat sie aus Trotz was mit Red angefangen. Als Cap sie wieder zurückwollte, hat sie ihn nebenherlaufen lassen. War mit ihm zum Feiern auf der anderen Flussseite. Eines Abends hat sie wieder mal einen draufgemacht, und da hat jemand Red was geflüstert. Der war stinksauer. Ich glaub, er hätt ihr am liebsten den Hals umgedreht.

Und was hat er gemacht?

George trank einen Schluck Bier, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und strich sich nachdenklich über die Wange. Na ja. Sie hatte diesen kleinen blauen Falcon von Cap. Der war nagelneu, bis sie ihn ein bisschen angebeult hat. Den hat Red dann komplett zu Klump geschlagen. Hat mit nem Rechen alle Scheiben rausgedroschen und hinterher noch die Scheinwerfer. Und mit den Füßen die Türen eingetreten. Lindsay Pope hat ihn abgeschleppt und gemeint, dass er noch nie so eine demolierte Karre gesehen hat. Jetzt hat Cap ihr ein neues rotes Mustang-Cabrio geschenkt.

Und was ist mit Red passiert?

Sobald sie’s zu nem Telefon geschafft hat, sind welche gekommen, um ihn einzukassieren. Der Sheriff und die Typen mit den weißen Turnschuhen. Als sie ankamen, hatte er angeblich schon ne Axt in der Hand und wollte die Räder abschlagen. Verflucht. Vielleicht ist er wirklich verrückt. Sie mussten ihm ne Spritze verpassen, damit sie ihn in ne Zwangsjacke stecken konnten. Und vorher hat er nem Deputy, Wheeler, noch das Knie zertreten.

Dann stecken sie ihn jetzt ins Irrenhaus?

Das täten sie gern, mit größtem Vergnügen. Aber die Klapse wollte ihn auch nicht haben. Als Red raus kam, war sie wieder mit Cap zusammen. Die gibt doch nen Scheiß auf Red, der hat seinen Zweck erfüllt. Sie hat ihn nie wirklich gemocht. Hör mal, Thibodeaux, mein Auto ist kaputt, kannst du zum Grinder Creek fahren und mich bei meinem Wohnwagen absetzen?

Im Pick-up zog George einen Flachmann heraus. Nach dem Bier gab der billige Sprit Thibodeaux den Rest, und die Straße vor ihm begann zu verschwimmen. Während sich am Fuß der Hügel die Nacht verdichtete, kurvten sie durch die Senken entlang der Flussschlingen: Der Grinder Creek floss keine zweihundert Meter geradeaus. Als die Straße nach einer scharfen Kurve über eine Brücke führte, rutschte der Asphalt unter den Reifen weg, und der Pick-up kippte zur Seite. Das Holz und die alten Nägel des Brückengeländers gaben berstend nach, und der Pick-up stürzte in die Dunkelheit. Mit einem heftigen Aufprall landete er zusammen mit dem ins Wasser klatschenden Holz im Flussbett.

Thibodeaux schnappte nach Luft, als ihm kaltes Wasser ins Gesicht schlug. Der Wagen war auf die Fahrerseite gekippt, und das Wasser floss durch die Kabine. Schlagartig nüchtern, tastete er nach seiner Brille und krabbelte durch das Beifahrerfenster hinaus. George lag wie eine verdrehte Marionette am Ufer. Thibodeaux machte einen Schritt auf ihn zu, rutschte aber auf den mit Algen bedeckten Steinen aus und knallte mit dem Kopf auf eine der flachen Felsplatten. Kurz blitzte vor seinen Augen ein Meteoritenschwarm am Himmel auf, dann spürte er nur noch, dass sein Körper von der Strömung weggetragen wurde.

Das erste fleckige Sonnenlicht, das durch die Bäume fiel, verriet ihm, wo er geschlafen hatte. Es war noch nicht richtig Tag, aber die Dunkelheit gab nach, ein unwirkliches Licht verlieh der Umgebung Gestalt, eine Welt schälte sich aus dem Nichts. Der Fluss hatte ihn auf einer Kiesbank voller Geröll ausgespuckt. Dann machte ihm das Krähen eines fernen Hahns klar, dass diese Welt auch bewohnt war.

Es wurde heller. Ein Nerz oder Marder, der ihn kurz mit schiefergrauen Augen betrachtet hatte, sprang von einem Baumstumpf und verschwand leise wie ein Schatten oder ein körperloses Wesen. Eine Ratte flitzte über die Flusskiesel auf das schlanke Schilfrohr zu. Mit kaum wahrnehmbarem Plätschern ließ sich eine Schlange von ihrem Ausguck ins Wasser gleiten. Der Tag brach an; die Welt um ihn erwachte zum Leben, als hätte eine geheime Schicht begonnen. Die Luft wimmelte von Insekten, überall brummten und summten Flügel. Aus einem Feld auf der anderen Flussseite schalt ihn eine Spottdrossel. Krebse wühlten im Uferschlamm, und er sah ihnen bei ihrer geduldigen Arbeit zu.

Als die Sonne aufging, sah er weiter flussaufwärts nichts als die Trümmer alter Brückenbohlen und Planken, geborstenes Holz. Er erhob sich wie ein Seemann aus einem Schiffswrack, den ein schlechter Stern in gefährliche Gewässer geführt hatte. Dabei stellte er fest, dass er seine Schuhe verloren hatte. Als er wieder aufsah, bemerkte er auf den Überresten der Brücke ein Polizeiauto.

Er drehte seine Taschen um und entfaltete die verklebten Geldscheine. Sein Nacken tat weh, hinter seinen Augen pochte ein stechender Schmerz. Die Schulter und die Rumpfseite, mit denen er im Flussbett aufgeschlagen war, waren gerötet und aufgeschürft. Er sah sich um. Es war kaum zu glauben, aber wenigstens hatte er mit der Stelle, an der er gestrandet war, Glück gehabt. Im Schutz einiger Kiefern kletterte er die Uferböschung hinauf und humpelte eilig dahinter weg. Es kam ihm vor, als würde er das Gewicht des Sonnenlichts auf sich spüren, wenn es auf ihn fiel, während er das Gequake aus dem Funkgerät des Streifenwagens hörte. Er drehte sich nicht um aus Furcht, er könnte sich verraten, wenn er die Präsenz der Polizei anerkannte. Erst als der Wald dichter wurde und die Stimmen verstummten, atmete er leichter.

Er blieb jedoch nicht lange stehen. Er steckte das Geld wieder ein und ging, aus Furcht, mit den bloßen Füßen in Scherben zu treten, die Augen auf den Boden gerichtet, vorsichtig durch das dicht bewachsene Schwemmland. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin er unterwegs war. Aber nach einer Weile sah er eine Gestrüppreihe, die zu gerade war, um natürlich gewachsen zu sein, und er vermutete dahinter eine Straße. Schließlich erreichte er sie, aber von der Straße war kaum noch etwas zu ahnen, überwachsen und zugewuchert, wie sie war. Die Hose von Kletten übersät, blieb er stehen und überlegte. Irgendetwas erinnerte ihn an George, aber der Gedanke war nur eine Art Traumsplitter, eine verschüttetes, dunkles Echo.

Als er weiterging, spürte er seine Füße nicht mehr. Es kam ihm vor, als ginge er auf den Stümpfen seiner Waden. Ein Grauschleier begann sich über die Welt zu legen, und kurz darauf merkte er, dass ihm leichter Regen auf den Nacken fiel. Mit einem unangenehmen Prickeln kehrte das Gefühl in seine Füße zurück. Seine Schienbeine juckten und brannten, und als er die Hosenbeine hochzog, sah er an beiden Beinen rote Kratzer und schwärzliches Blut, das in seine Socken sickerte. Er ließ die Hosenaufschläge wieder runter und trottete hölzern weiter.

Er warf einen kurzen Blick nach links. Von Westen zog eine schmale dunkle Regenfront heran.

Nach einer Weile hörte der Regen wieder auf. Aber auch wenn damit das sanfte Rauschen in den Kiefern verschwand, fielen von den Bäumen weiter unaufhörlich Tropfen. Seine Kleidung war klitschnass, er fühlte sich halb erfroren. Er blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und trank einen Schluck aus dem Flachmann von George, der irgendwie in der hinteren Hosentasche gelandet war. Ihm war so kalt, dass der Whiskey nicht einmal in seinem Hals brannte. Er setzte die Flasche noch einmal an, trank sie aus und warf sie auf den von Kiefernnadeln übersäten Boden. Dann ging er weiter.

 

Allmählich dünnten die Bäume aus, und schließlich öffnete sich vor ihm eine Lichtung. Er geriet ins Straucheln und stürzte, weil sich die Bodenbeschaffenheit plötzlich geändert hatte. Überrascht stellte er fest, dass mitten im Wald eine Trasse verlief, eine verwitterte, stellenweise schon löchrige Teerbahn, durch deren Risse sich die ersten Büsche gekämpft hatten. Aber jetzt wusste er wenigstens, auf welcher Straße er war. Über die Richtung, in die er lief, war er sich nicht im Klaren. Nicht einmal ein Seemann konnte sich an diesem grauen Himmel orientieren, und so wusste Thibodeaux nur, dass er entweder auf das aufgegebene Kurhotel, von dem Aunt Mattie erzählt hatte, zu- oder davon wegging. Weil der Weg jetzt besser war, kam er rascher voran, und nach einer Weile zeichnete sich am Ende der Straße eine wuchtige Form ab. Sie hatte keine erkennbare Farbe, doch durch einen helleren Ton hob sie sich als Gebäudeumriss von der dunkleren Umgebung ab. Dort, wo sich nahezu schwarze Rechtecke abzeichneten, mussten einst Fenster gewesen sein. Weitere Gebäude folgten, eine ganze aufgegebene Anlage. Bald wurde die Straße breiter, und er schien auf dem Vorplatz eines verlassenen Palastes zu stehen. Rechts von ihm plätscherte Wasser, und langsam schälte sich aus den amorphen Schatten ein Hofgarten mit großen Virginia-Eichen heraus. Als er unter einer Eiche durchging, streifte ihn etwas und klirrte. Eine kalte Eisenkette baumelte von einem Ast. Das hölzerne Schaukelbrett, das einmal daran befestigt gewesen war, war längst zerfallen. Er ging vorsichtig weiter, wer wusste schon, welche Fallstricke die Zeit noch ausgelegt hatte. Die Ruine eines riesigen Hauses nahm im Nebel Konturen an und formte sich zur beeindruckenden Masse früherer Größe, aus der gemauerte Schornsteine aufragten und in den Baumwipfeln verschwanden. Unter einem abgesackten Balkon entdeckte er eine Treppe mit fehlenden Stufen, die in weitem Schwung in einem Irrgarten aus verwilderten formlosen Ziersträuchern nach oben führte.

Er schlug mit den verletzten Schienbeinen gegen eine harte Betonkante und stürzte mit einem Schrei. Als er den Aufprall mit den Armen abzufedern versuchte, tauchte er bis zu den Handgelenken in durchweichtes Laub ein. Er fluchte. Der Boden war hier erhöht. Vielleicht ein Vorhof oder eine Terrasse vor einem Gebäude, das ohne Türen und mit teilweise eingestürztem Dach daran anschloss.

Innen fand er Kisten mit alten Zeitungen und Zeitschriften, die dort, wo das Dach nicht leckte, sogar trocken waren. Kaputte Stühle und Tische, deren Platten von der Witterung gewellt und gesprungen waren. Er trug eine Kiste Zeitungen zurück in den Vorhof und ließ sie fallen. Dann wollen wir mal sehen, ob das Mistding nicht brennt, sagte er. Seine Hände zitterten, und er hatte das Gefühl, sie würden nie wieder warm werden.

Sobald die ersten Flammen züngelten, versorgte er sie mit dem Inhalt der Kiste, dann ging er zurück, um die Möbel zu holen. Er zerschlug einen dreibeinigen Hocker an einer Säule. Dann ein seltsames lederbezogenes Ding, das er nicht kannte. Alles, was brennbar schien, schleppte er an. Dann setzte er sich mit ausgestreckten Armen vor das Feuer. Seine klappernden Zähne machten das Geräusch von Eiswürfeln in einem Glas. Nach einer Weile begann seine Kleidung zu dampfen. Als die Flammen nur noch spärlich und flach züngelten, ging er zurück in das Zimmer, um die riesige alte Couch hinauszuzerren. Vermutlich war sie den Plünderern zu groß gewesen. Jetzt schleifte er sie an einer Lehne hinter sich her und kippte sie ins Feuer. Nach einer Weile stand auch sie in hellen Flammen, und er musste davon abrücken. Schließlich wurde ihm auch warm. Er riss die Vertäfelung von den Wänden und legte sie über die brennende Couch. Mittlerweile waren auch die Couchfedern zu sehen, sie glühten wie Heizspiralen.

Er zündete sich eine Zigarette an und stand rauchend auf, um noch einen Sessel mit Aluminiumrahmen zu holen, den er so nah ans Feuer stellte, wie er für sicher hielt. Er setzte sich, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, bis er einschlief.

Als er erwachte, war er steif und fror. Er wusste im ersten Moment nicht, warum er aufgewacht war. Um ihn herum war es Nacht geworden, und hinter den Bäumen sah er einen weißen Schnitz Mond und ein paar versprengte Sterne. Das Feuer war zu einem orange glühenden Haufen Holzkohle zusammengefallen, die von einer dünnen Schicht weißer Asche ummantelt war. Darum lag ein Kreis angesengter Blätter, die allmählich trockneten und von innen nach außen abbrannten; ihre Ränder sahen wie kleine Glühdrähte aus.

Dann hörte er einen Motor. Scheiße, dachte er und sprang auf. Man musste ernsthaft nach ihm suchen, wenn man ihn bis hierher verfolgte. Wie hatten sie ihn überhaupt gefunden? Wer immer das ist, dachte er, Cops sind das keine. Ohne Allrader kam man nicht so weit.

Das Motorgeräusch kam von links, von irgendwo hinter den Bäumen. Aber es war nichts zu sehen.

In nahezu völliger Dunkelheit, bei jedem Schritt den Fuß nur langsam und vorsichtig belastend, um keine der fehlenden Stufen zu verpassen, stieg Thibodeaux die geschwungene Treppe hinauf. Die gesamte Treppe schien lediglich an Drahtseilen zu hängen. Oben sah er, dass sie hinaus ins Freie auf eine große Terrasse führte, offenbar eine Tanzfläche, die über einen gewundenen Bach kragte. Er blickte über die Wipfel.

Lichter. In etwa einem halben Kilometer Entfernung tauchten zwischen den Bäumen Autoscheinwerfer auf. Geschichten aus seiner Jugend kamen ihm in Erinnerung, und ihm fiel das alte, verlassene Flugfeld ein, wo Jugendliche Rennen gefahren waren, ehe die Straße dorthin unpassierbar wurde. Entlang der einen knappen Kilometer langen Strecke wurden immer alte Öltonnen aufgestellt. Das Flugfeld war ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Reichen zu ihrem Vergnügen hierherkamen. Das kam ihm jetzt so unwirklich vor wie die Überreste einer erloschenen Zivilisation.

Das Auto fuhr über das Flugfeld und blieb ein, zwei Minuten am näheren Waldrand stehen. Als eine Tür geöffnet wurde, sah er das schwache Glimmen der Innenraumbeleuchtung, aber keine Insassen. Dann erlosch die Beleuchtung, dafür gingen die Rückfahrscheinwerfer an, und das Auto fuhr den Weg, den es gekommen war, zurück. Geduckt auf den Treppenstufen kauernd, hörte Thibodeaux das Rauschen des Winds in den Kiefern, das Ächzen und Knarren der aneinanderreibenden Äste. Die Scheinwerfer blitzten zwischen den Bäumen auf, dann gingen sie plötzlich aus. Der Motor verstummte. Was war das? Er war unschlüssig. Parkte der Wagen etwa? Wollte da jemand eine Nummer schieben? Ziemlich weiter Weg, nur um es miteinander zu treiben.

Er hatte keine Uhr, aber er schätzte, dass eine halbe Stunde vergangen war, als er das Flugzeug hörte. Er war in den Vorhof zurückgegangen und hatte das Feuer neu entzündet, um es sich bequem zu machen, als er im Nordosten ein Dröhnen bemerkte, anfangs eigentlich nur ein Surren, das aber immer lauter und kräftiger wurde. Dann sah er die blinkenden Positionslichter an den Flügelspitzen und das Dauerlicht am Flugzeugrumpf vom Himmel herabsteigen.

Diesmal trabte er die Treppe hinauf. Am Ende des Flugfelds beschrieb das Flugzeug eine weite Kurve und setzte zur Landung an.

Ich glaub’s ja nicht, sagte er laut.

Die Autoscheinwerfer gingen wieder an, unverhofft wie ein Traumgesicht oder ein Geist aus der Vergangenheit, der an alte Stätten zurückkehrte. Oder ein reicher Hinterwäldler, der nicht mitbekommen hatte, dass das hier nicht mehr existierte.

Ich hab das Zweite Gesicht, dachte Thibodeaux spöttisch. Ich seh Lichter im Nichts.

Bei der Landung hüpften die Flugzeuglichter kurz auf und ab, wurden langsamer, beschrieben einen engen Bogen und rollten an den baumbestandenen Rand des Flugfelds. Es war ein kleines Flugzeug, vielleicht eine Piper Cub. Es kam zum Stehen. Ohne es zu sehen, wusste Thibodeaux, dass jemand ausgestiegen war.

Wer es auch war, lange blieb er nicht draußen. Schneller als erwartet setzte sich das Flugzeug wieder in Bewegung und flitzte mit steigender Geschwindigkeit über das Flugfeld. Der immer lauter dröhnende Motor eine Schändung der Waldesstille. Noch ehe das Flugzeug abhob, fuhr der Wagen wieder zwischen den Bäumen hervor, näherte sich der Stelle, wo das Flugzeug gehalten hatte, und blieb nach einem kurzen Aufleuchten der Bremslichter stehen. Im nächsten Augenblick fuhr er davon.

Thibodeaux sah ihm nach, bis er verschwunden war. Verständnislos. Die tiefe Stille war zurückgekehrt.

Er war hundemüde und fühlte sich erschöpfter als je zuvor. Schon der Gedanke an den Fußmarsch zurück in die Stadt raubte ihm alle Energie. Er setzte sich, um auf den neuen Morgen zu warten und mit frischer Kraft aufzubrechen.

Spärliches Herbstlicht erhellte die Straße, als er am Haus von Aunt Mattie vorbeitrottete. Mattie war keine echte Tante, sondern eine alte Wahrsagerin, die er seit Kinderzeiten kannte. In ihren Fenstern brannte kein Licht, aus dem Kamin stieg kein Rauch, also schlief sie wohl noch. Eine Zwergin in einem Kinderbett. Was für seltsame Gestalten den Traum einer Hexe bevölkern mochten? Träumte sie vielleicht die Zukunft? Er vermutete, dass es sich eher um vergangene Taten aus einer Zeit handelte, als sie noch jemand anderes gewesen war.

Neu eingekleidet, machte sich Thibodeaux auf in den Tag. So früh am Morgen waren die Straßen noch leer. Aber das Morgenrot versprach einen schönen Tag. Bei Schumacher’s, dem Juwelier, überquerte er die Straße und betrat das Snip, Snap and Bite Café. Als er bei der ersten Tasse Kaffee überlegte, was er frühstücken sollte, kam George herein.

Er sah übel aus. Er trug noch dieselben zerrissenen Sachen und hatte ein blaues Auge, ein blaugrüner Bluterguss verlief über die Schläfe bis zum Haaransatz, wo er unter den Haaren verschwand. Er setzte sich zu Thibodeaux und bestellte Kaffee. Als die Tasse vor ihm stand, gab George mit zittriger Hand mehrere Löffel Zucker hinein. Der Löffel klapperte beim Umrühren in der Tasse wie ein misstönendes Glockenspiel. George nahm einen Schluck, zündete sich eine Zigarette an und starrte auf seine nikotinfleckigen Finger.

Wo warst du denn die letzten Nächte?, fragte Thibodeaux.

Scheiße, was glaubst du denn? Ich war im Knast.

War’s wenigstens warm?

Keine Ahnung. Eigentlich ganz okay. Warum?

Weil’s da, wo ich war, arschkalt war. Wie bist du rausgekommen?

JW kam und hat mich rausgeholt. JW ist der Zimmermann, für den ich arbeite. Er hat einen Auftrag in dieser Wohnsiedlung und keine Leute. George kicherte, dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. Er kam, hat meine Strafe bezahlt und mich rausgeholt. Ich hab gewartet, bis der ganze Papierkram erledigt war und wir auf der Straße standen, dann hab ich zu JW gesagt, dass ich mich heute beschissen fühle und lieber nach Hause geh und mich hinlege. Mann, hat der sich was aufgeregt. Er hat seinen alten Hut auf den Boden gepfeffert und ist echt drauf rumgetrampelt. Aber glaubst du etwa, dass ich nach alldem Balken schleppen und mit ner Motorsäge rumhantieren könnte? Scheiß auf JW. Er ist sofort wieder reinmarschiert und wollte sein Geld zurück, aber drinnen haben sie nur gelacht.

Die Bedienung kam wieder, und Thibodeaux bestellte Schinken, Eier und Bratkartoffeln. Er reichte George die Speisekarte, aber der schüttelte den Kopf. Hab nen flauen Magen, sagte er.

Kurz danach wurde Thibodeaux ein dampfender Teller serviert. Er salzte und pfefferte die Eier, bestrich den Toast mit Butter und zog den Deckel von einem kleinen Plastikdöschen mit Traubengelee ab. George sah ihm neidisch zu.

Du lässt dir’s ja gut gehen.

Mit Toast im Mund gab Thibodeaux keine Antwort. George saß rauchend und Kaffee trinkend auf der Stuhlkante und aschte immer wieder in seinen Hosenumschlag. Schließlich wischte Thibodeaux mit einem Stück Toast die letzten Schlieren Eigelb auf, schob den Teller mit dem Daumen ein wenig von sich weg und sagte: Sag mal, George, wer dealt hier in der Gegend eigentlich?

Ich wusste gar nicht, dass du dich für so was interessierst.

Tu ich auch nicht. Ist mir nur grad eingefallen.

Ich will mit dem Scheiß auch nichts zu tun haben. Georges Augen wurden schmal, sein Blick ausweichend. Er ließ ihn verstohlen durchs Café huschen, als fürchtete er neugierige Lauscher, Mikrofone oder Drogencops in der Tarnung einer Bedienung mittleren Alters mit Krampfadern.

 

Aber irgendwer dealt doch, oder?

Kann schon sein. Gibt sicher was, wenn man sich’s leisten kann. Keine Ahnung, wer’s liefert. Und ich glaub, nicht mal die Leute, die dir ne Tüte verkaufen, wissen, woher’s kommt.

Ich hab eher an was anderes gedacht. Das hier ist ja ein ruhiges Städtchen, ohne viel Polizei und so. Ich hab mich gefragt, ob’s nicht vielleicht Sinn macht, das Zeug hier anzuliefern und es dann nach Nashville zu schaffen. Koks vielleicht oder Pillen.

Davon hab ich keine Ahnung. Was aber nicht viel heißt.

Wer weiß denn so was?

Frag doch mal Monk de Vries.

Thibodeaux nahm die Rechnung und stand auf. Wir sehen uns, George.

Wo willst du denn auf einmal hin?

Hab zu tun.

He, wenn du einen findest, der was hat, besorg mir ein paar Muntermacherpillen.

Ich dachte, du willst nichts mit dem Zeug zu tun haben?

Tu ich auch nicht. Nur fühl ich mich heut nicht so gut.

Als Thibodeaux aus dem Unterholz trat, sah er sich aufmerksam nach anderen Leuten um, entdeckte aber niemanden. Er folgte dem alten Asphaltstreifen, der zum Waldrand führte. Um ihn herum nur meergrüne Kiefern und eine blaue Weite, aus der ein Falke in einer langsamen Spirale herabsegelte. Die Welt wirkte wie ein Gral der Stille.

Er trat auf das Flugfeld, aber bei Tag deutete nichts darauf hin, dass hier ein Flugzeug gelandet war. Er blickte in alle Richtungen, um herauszufinden, wo es gestanden haben mochte. Aber von hier aus kam ihm alles ganz anders vor, und nachts hatte er auch nur die Lichter gesehen.

Im Gestrüpp am Rand des Flugfelds entdeckte er einen alten Müllabladeplatz. Rostige Bettfedern, ein Sammelsurium an Dosen und Glasscherben. Ein alter Kühlschrank mit abgerundeten Ecken lag auf dem Rücken im Gras. Ihn fand Thibodeaux bemerkenswert, und er bückte sich, zog die Tür auf und blickte hinein. Die Glasböden waren zerbrochen, sonst war nichts darin. Er ließ die Tür zufallen, richtete sich auf und ging zurück zu dem alten Ford, den er vor Kurzem auf Raten gekauft hatte.

Er hatte dichte schwarze, seit einigen Jahren etwas angegraute Locken und das zerfurchte Gesicht eines ehemaligen Filmstars mit einem ausschweifenden Leben. Von kräftiger, breitschultriger Statur, war er jetzt, im mittleren Alter, um die Hüften fülliger geworden und hatte über der Khakihose, die er ständig trug, einen kleinen Bauch. Die Lider über den blassblauen Augen waren nahezu wimpernlos, die Haut darunter faltig und das Gesicht leicht aufgedunsen – die Folge von zu viel Sonne, zu viel gutem Whiskey und zu vielen schlechten Frauen. Eine Gesichtshälfte war vernarbt und wirkte etwas schief. Großen Wert legte Cap Holder darauf, nie einen Ausweis mitzuführen, weil alle, die ihm wichtig waren, ihn kannten. Er trug keine Armbanduhr, weil er sich keinem Terminplan verpflichtet fühlte und es keinen Ort auf der Welt gab, an dem er zu irgendeiner Zeit sein musste, wenn er das nicht wollte. Uhrzeit und Termine bedeuteten ihm nicht mehr als einem am Himmel kreisenden Falken. Für einen so großen und kräftigen Mann bewegte er sich erstaunlich geschmeidig. Aus jeder seiner Bewegungen sprach großes Selbstvertrauen, weil er wusste, dass jeder ihm aus dem Weg ging, wenn er seinen Pfad kreuzte.

Er besaß eine ganze Fahrzeugflotte, die zum Teil noch aus seiner Zeit als Gesetzeshüter stammte, darunter einen uralten Ford, der schon staubig und dreckverschmiert vom Band gelaufen sein musste, jedenfalls hatte nie jemand den Wagen in einem anderen Zustand gesehen. Ein Logo auf der Tür wies ihn als EIGENTUM DER TENNESSEE GAME AND FISH COMMISSION aus. Aber sein Lieblingsgefährt war der nagelneue GMC Pick-up mit Stierhörnern auf der Haube. Keiner wusste oder interessierte sich dafür, woher er die Hörner hatte, weil er Cap Holder war, und wenn er sich als Bullenreiter ausgeben wollte, dann war das auch in Ordnung. Einfach nur weil er Cap Holder war. Allein kraft seines selbst gewählten Images hatte er das Recht auf eigene Regeln; und selbst wenn jemand gewusst hätte, welche verquere Freude ihm die Arroganz verschaffte, diesen Pick-up zu fahren, er hätte sie nicht verstanden.

Die meisten seiner Autos waren in einem Zustand permanenter Auflösung. Ein Cadillac ohne Räder und mit zerschossener Windschutzscheibe, auf dessen Ledersitzen Vögel nisteten. Andere Detroiter Straßenkreuzer rosteten im Schatten von Bäumen oder auf bröselnden Betonblöcken vor sich hin; es ging das Gerücht, dass Cap sich ein neues Auto kaufte, wenn er bei einem anderen einen Platten hatte. Ein Chris Craft Runabout, dessen Bootsrumpf noch nie mit Wasser in Berührung gekommen war, stand, zur Hälfte mit Herbstlaub gefüllt, herum wie ein vergessenes Spielzeug. Inmitten dieses Plunders erhob sich ein Haus, das er selbst entworfen hatte und mit dem Geld aus einer lange zurückliegenden Hollywood-Zeit aus Feldstein und Zedernholz hatte erbauen lassen.

Er besaß eine Farm am Buffalo River, aber keinen Pflug, er baute nichts an außer Stechwinden und Dornengestrüpp, er hielt kein Vieh außer einer Horde verwilderter und halb verhungerter Katzen und einem Rudel scharfer Jagdhunde, die er nach Lust und Laune trat oder streichelte. Außerdem gab es mehrere Ehefrauen, die Anzahl schwankte, je nachdem wen man fragte. Eine rechtmäßige Ehefrau in der Mill Street, geschiedene Frauen, zu denen er weiterhin eigenartige sexuelle Beziehungen unterhielt, die er bisweilen beendete, wenn ihre Töchter das, was er das blutige Alter nannte, erreichten oder hübscher wurden als ihre Mütter. Vermutlich gab es auch Kinder, in der Gegend verstreut wie in den Wind geworfener Samen. Plötzlich sah ein Vater seinen Sohn in anderem Licht. Vielleicht stach ihm beim Abendessen ein bislang unbemerkter Zug, eine unbekannte Mimik ins Auge. Oder der spezielle, schläfrige Blick unter schweren Augenlidern. Dann konnte es sein, dass der Mann die Gabel auf den Tisch legte, als hätte ihn ein heimtückischer Schlag getroffen und ihm klargemacht, dass sein Leben fortan nicht mehr dasselbe war, obwohl kein einziges Wort gefallen war.

Es gab keinen Mann, den er als Freund bezeichnet, keine Frau, die er als Vertraute betrachtet hätte. Man sah ihn oft mit anderen Männern, aber in seiner Gegenwart waren sie stets unruhig, blieben auf der Hut, obwohl sie sich ihm gegenüber ehrerbietig zeigten. Jeder hatte die träumerische Art bemerkt, mit der ihn Frauen ansahen, vielleicht sogar die eigene. Er war kein Kumpeltyp, gab sich nie leutselig. Er plauderte und prahlte kaum, wenngleich unzählige Geschichten über ihn kursierten.

Das Einzige, was Einfluss auf ihn hatte, waren die Dinge, die er tun oder denen er aus dem Weg gehen wollte. Er schien von den spontanen, unbewussten Reaktionen auf die unzähligen Reize gesteuert, die ihn und sein Leben in jeder Stunde überfluteten – der Tonfall einer Stimme, der Klang eines Motors, der Lichteinfall oder der Blick in den Augen eines anderen, dieses behalten, jenes wegwerfen.

In jüngster Zeit hatten diese Reize einen düsteren Anstrich erhalten, hatten sich seine Beziehungen eingetrübt, alles schien von einer dunklen, wachsenden Bösartigkeit beeinflusst. Seine Zukunft lag möglicherweise in der Hand von etwas so Unbedeutendem wie einer Spielkarte. Er fragte Aunt Mattie um Rat und ließ sich seine Zukunft weissagen. Und wenn ihm nicht gefiel, was sie in den Karten las, ließ er sie noch einmal mischen. Du musst einen Fehler gemacht haben.