Ansichtskarten, Erzählungen

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Ansichtskarten, Erzählungen
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Von Wilhelm Thöring sind bei epubli GmbH, Berlin bisher folgende Titel erschienen

Und morgen die Sonne – Erzählungen (überarbeitete und um eine Erzählung erweiterte Auflage des Titels „Abschiede“) 2. A. 2012

Raju und Barbara – Roman 2013

Die Bärin Ein Frauenschicksal der Nachkriegszeit – Roman 2. A. 2013

Verknotungen – Erzählungen 2013

Alle Ebooks sind auch als Printausgaben erhältlich.

www.epubli.de

Wilhelm Thöring

Imprint

Ansichtskarten, Erzählungen

Wilhelm Thöring

Copyright: © 2013 Wilhelm Thöring

Cover-design: Aiga J. Janning

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5695-6

Die Karawane
München

Die Hauswände vor mir flimmern. Die Neuhauser Straße flimmert, so weit ich sehen kann – die Sonne hält die Stadt umklammert, die Hitze lässt ihr die Luft ausgehen. Die Kuppeln der Frauenkirche lösen sich auf, sind unwirklich geworden. Wie Täuschungen hängen sie unter dem blassblauen Himmel, eine die Augen schmerzende Halluzination. Hier bewegt sich alles langsam. Auf der Schattenseite stoßen und rempeln sich die Menschen, einfache und elegante Menschen, hastige und müde schleichende Menschen und die, die am Ende zu sein scheinen. Ihre Gesichter lassen erkennen, dass sie nicht hier sind, ihre Gedanken gehen nach vorne, da wo sie hinstreben und es erträglicher zu sein scheint, oder sie hängen dem nach, wo sie herkommen.

Auch die, die einen Platz im Schatten eines Straßencafés ergattert haben, unter einer Markise oder unter einem der kolossalen Sonnenschirme, wirken teilnahmslos, ausgelaugt und puppenhaft, und ihr Blick geht ins Leere. Lebhafter wirken jene, die sich über eine Mahlzeit hermachen. Ihr Kopf hängt über dem Teller, aber der Blick geht in die Runde, versucht von dem lahmen Treiben einiges zu erhaschen.

In bodenlange Schürzen gewickelt, gelangweilt und müde, lehnen die Kellner an den Türrahmen und tun so, als hätten sie alles im Blick. Manchmal stößt sich einer ab von der Hauswand oder dem Türpfosten, er schleicht zwischen den Tischreihen hin, um leere Gläser oder Teller einzusammeln, oder er beugt sich zu einem Gast und rechnet ab. Mechanisch scheucht er mit einem Tuch die Fliegen von den Resten, ein sinnloses Unterfangen.

Ein Kind beginnt zu singen, eine nicht zu benennende Melodie, und für den Text muss eine Reihe von „Ta, ta, ta ...“ herhalten: Scharfe, knallende Ts und leicht ins O übergehende As. Dann, nach kurzem Nachdenken, singt es mit lauter und alle anderen Geräusche übertönender Stimme: „ ... macht mir auf, ihr Kinder, ist so kalt der Winter ...“

Ringsum bricht Gelächter los, und schlagartig verstummt der Gesang. Sogar der Kellner zwingt seinen Mund zu einem etwas schiefen, herablassenden Grienen.

Unterdessen zieht eine Karawane von Mohammedanern vorüber und lässt den Kindergesang vergessen. Vorneweg stolziert ein dickleibiger älterer Mann im weißen bodenlangen Burnus, auf dem Kopf einen schwarzen Fes, der alles Fleisch seines griesgrämigen Gesichts zusammenzuhalten scheint. Rhythmisch mit einem Silberstock auf das Pflaster stoßend, gibt er gleichsam den Nachfolgenden Marschtakt: Die ihm auf den Fersen folgen, das ist ein Geschwader von schwarz und weiß gekleideten Frauen, neben denen Jungen laufen, jeder in einem weißen, sich bauschenden Gewand, ihre Gesichter wie Milchkaffee, mit schwarzen, aufmerksamen Augen. Voller Interesse betrachten sie das lahme Leben links und rechts, und manchmal meint man Hochnäsiges und Geringschätziges auf ihren Gesichtern zu sehen. Vor allem der Mann an der Spitze erweckt den Eindruck, als wären die anderen auf der Straße die Besonderheit und nicht er mit seinem Gefolge. Die schwarz gewandeten Frauen tragen Schleier und alle, bis auf den voranschreitenden Pascha, der schwarze Lackschuhe trägt, schlappen und schlurfen in Sandalen. Sie marschieren mitten auf der Straße, da wo die Hitze am größten ist. Manchmal neigt sich eine der Verschleierten zu einer anderen hin, um sie auf etwas aufmerksam zu machen. Dann bewegt sich ganz leise der Schleier um den Mund, oder er bläht sich, als wollte er wegfliegen.

Die Menschen im Schatten sehen auf, nicht alle, wundern sich und werfen vielleicht eine Bemerkung zum Nachbarn über den Tisch, oder sie schütteln den Kopf, weil dieser Aufzug für sie doch zu befremdlich ist.

Einer ältlichen hageren Frau, mit zerfurchtem und sonnenverbranntem Gesicht, ein Mensch aus dem Gebirge, die sich gerade eine gehäufte Gabel Sauerkraut und Püree in den Mund stopft, verschlägt der Vorbeimarsch der Karawane die Sprache.

„Jesses, Maria und Josef! Ha ma scho Fasching?“ wundert sie sich, und dabei fällt etwas von ihrem Essen auf den Teller zurück. „Wo kumma die her?“

„Aus dem Morgenland!“ klärt sie ein Mann mittleren Alters auf. Er stopft seine Pfeife, und als er einige Züge getan hat, sagt er augenzwinkernd: „Die gehen zum Stachus Wassertreten ...“

„Wassertreten? Mei, gibt’s denn dös?“ staunt die Frau und legt die Hand auf den vollen Mund. Ihre Schultern zucken, sie darf jetzt nicht lauthals loslachen.

„Das kommt hier öfter vor“, sagt der Mann mit ernstem Gesicht. „alle paar Tage ...“

„Die waschen die Füß? Am Stachus? Das glaubt doham koaner nich ...“

„Doch, doch ... Es ist so!“ Der Mann nickt.

Die Frau wendet sich ihm ganz zu, wartet auf weitere Erklärungen, aber der Mann lehnt sich zurück und schließt die Augen, um sich dem Tabakgenuss hinzugeben. Mehr kann sie von ihm nicht erwarten, das merkt sie, und sie wendet sich wieder ihrem Essen zu. Plötzlich hat sie es eilig, sie isst nur noch ganz wenig von Haxe, Kraut und Püree. Dann schnellt sie in die Höhe, reckt sich auf die Zehenspitzen und winkt den Kellner heran, um zu zahlen. Beinah überstürzt bepackt sie sich mit Tüten und Taschen und stapft forschen Schritts die Neuhauser Straße zum Stachus hinunter.

Das Mädchen mit der Perle
Münster

Der Prinzipalmarkt ist wie immer voller Leben. Unter den Arkaden hocken dicht an dicht die Blumenverkäufer und verengen mit Aufbauten, mit Kisten und Eimern den Gehweg. Mancher ist von Holland herübergekommen. Er weiß, bei ihm kauft man gern, holländische Blumen seien frischer, sagt man, und haltbarer als andere. In beinahe allen Straßen der Altstadt stehen Musikanten an den Wänden, Solisten stehen da, auch Duos und Trios der verschiedensten Art. Neben der Rathaustreppe hat heute ein vorzüglich spielendes Streichquartett seinen Platz, das bis jetzt nur alte Musik zum Besten gab.

Die Rathaustreppe ist ein bevorzugter Ort. Hierher kommen Reisende aus der nahen Umgebung und aus der Ferne, sogar aus dem Ausland. Mit leichtem Grausen wird das Sendschwert bestaunt, wenn es draußen aufgesteckt ist, und manch einer fragt sich, ob es wohl Köpfe abgeschlagen haben mag. Dann fluten die Menschen die breite Treppe hinauf in den Friedenssaal, wo im Mai 1648 der Teilfriede zwischen den Niederlanden und Spanien geschlossen wurde und ein dreißig Jahre währender Krieg sein Ende fand. In der Düsternis des Saales bewundern sie alte Bilder rings an den Wänden und Holzschnitzereien. Eine Tonbandstimme macht auf Besonderheiten aufmerksam: auf den schmiedeeisernen Kronleuchter, auf den mächtigen Kamin, auf dessen Kaminplatte zu lesen ist: „Pax Optima Rerum“ (Friede ist das höchste Gut). Das Gemälde, das den Friedensschluss darstellt, erklärt die Stimme, stamme von dem Maler Gerard ter Borch ... Die Menschen staunen, sie drehen und recken und stoßen sich und streben zurück ins Licht und an die frische Luft.

Sind sie wieder draußen, dann stellen sie sich gegenüber dem Rathaus auf, um den filigranen Giebel zu betrachten, das gefällige Stadtweinhaus mit seinem repräsentativen Balkon, oder die Lambertikirche mit den drei Käfigen am Turm, in denen die zerschundenen, zerrissenen Körper von führenden Wiedertäufern den Bürgern zur Warnung vorgeführt worden sind.

Seit gestern ist das Wetter gut. Das Personal vom Ratskeller hat Stühle und Tische auf den Bürgersteig gestellt, und die Gäste ließen nicht lange auf sich warten.

Von der Rathaustreppe klingt die Musik des Streichquartetts herüber, und am äußeren Rand des Straßencafés breitet ein Pflastermaler seine Utensilien aus, bunte Kreide, verschiedene Lappen, dazu eine Zigarrenschachtel. Die wird so platziert, dass man fast darüber stolpert. Als er den Deckel aufschlägt, blitzen bereits einige Münzen darin.

Mit flinken Strichen hat der Mann ein großes Rechteck auf den Gehweg gezeichnet und sofort beginnt er, darum einen gold-braunen Barockrahmen zu malen. Jetzt versteht es jeder: Hier entsteht ein Kunstwerk, um das ein Bogen zu machen ist.

Das wäre getan, der Rahmen ist fertig. Der Maler reckt sich in die Höhe, tritt zwei, drei Schritte zurück und betrachtet ihn. Er ist ein Mann in den Dreißigern, knochig und mit hagerem unrasiertem Gesicht und einem stark hervorspringenden Adamsapfel. Um den Hals hat er ein buntes Tuch geschlungen, das den Adamsapfel nicht verdeckt, sondern ihn hervorhebt. Hinter den Ohren zeigen sich silbrige Fäden in seinem schwarzen Kraushaar. Er kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf, als müsse er zuerst einmal Ordnung in seine Gedanken bringen.

Neugierig geworden, bleiben die Leute stehen; sie betrachten das Geviert auf dem Gehweg, sie betrachten den Mann und warten auf das, was folgen wird.

Aus der Westentasche zieht er eine Kunstkarte hervor und gibt seine Absicht preis: In den Barockrahmen wird er Vermeer van Delfts „Das Mädchen mit der Perle“ malen. Er hockt sich an den Rand des Rahmens, und rasch sind die Konturen des Gesichts, des Kopfputzes und der Schultern hingelegt.

 

„Wozu braucht der die Vorlage?“, fragt eine junge Frau. „Der malt doch alles aus dem Kopf.“

„Hundertmal gemalt!“ klärt sie ein älterer Herr auf. Und leise: „Wahrscheinlich kann er nichts anderes. Malt nur das.“

Später, die Farben sind alle aufgetragen, das Bild wird mit Handballen und Fingern verfeinert, ruft eine Dame aus:

„Wie wundervoll! Das hier würde ich mir sofort in die gute Stube hängen. Wirklich! Wie schade, dass das aufs Pflaster gemalt worden ist. Da lebt es nicht lange ...“

„Na, wenn es nicht regnet, können Sie es sich auch morgen noch anschauen“, wird ihr geantwortet.

Nach und nach ist der Kreis um den Maler größer und dichter geworden. Vorne werden die Köpfe schief gelegt, mancher Blick wirkt entrückt, nicht nur, wenn er das Mädchenbildnis, sondern auch seinen Schöpfer streift, seinen gebogenen Rücken, die sehnigen, braunen Arme, den Nacken unter dem dunklen Kraushaar. Und immer öfter streckt sich ein Frauenarm zu der Zigarrenschachtel hin und lässt ein nicht geringes Geldstück hineinklimpern.

Der Maler steht auf, er mischt sich unter die kommenden und gehenden Zuschauer. Das Bild ist fertig. Er genießt es, Äußerungen der Bewunderung zu hören. Ja, einige applaudieren sogar. Aus dem Barockrahmen blickt ein junges Mädchen die Umstehenden an. Den Kopf hat es in ein blau-goldenes, turbanähnliches Gebilde gewickelt. Ein verführerisches Mädchen, mit seinem leicht geöffneten, auffordernden Mund. Jeden, der es ansieht, scheint es ins Dunkel des Hintergrunds mitnehmen zu wollen. Und im Schatten, am kaum erkennbaren Ohr: die Perle, groß und schwer, nur am Punkt des Widerscheins zu erkennen.

„Genauso ist es!“ ruft eine begeisterte Frauenstimme. „Ich hab es vor drei Jahren in Den Haag gesehen. Im Mauritshuis. Nur, das Original ist kleiner und hat ...“

Sie bricht jäh ab. Eine alte Frau, in der einen Hand einen weißen Stock, in der anderen eine Handtasche schwingend, tappt mitten hinein in das Kunstwerk auf dem Pflaster.

„Ja, gibt’s denn das!“ schreit entsetzt die Frau, die in Den Haag gewesen ist. „Können Sie nicht besser aufpassen? Sehen Sie nicht, wo Sie hineinlaufen?“

Mitten im Bild bleibt die alte Frau mit dem weißen Stock stehen und versucht, blinzelnd und verwirrt etwas zu erkennen.

„Die sieht doch nichts!“ Der Maler nimmt sie behutsam beim Arm und führt sie an die Seite.

„Entschuldigung“, murmelt sie. „Entschuldigung. Ich habe nicht ...“

„Setzen Sie sich, hier ...“ Der Maler drückt die alte Frau auf einen Stuhl des Straßencafés.

Verstört um sich blickend sitzt sie da, mit beiden Händen ihren weißen Stock umklammernd.

„Bringen Sie der Frau einen Tee!“ ruft der Maler der Bedienung zu.

„Ach, bitte, einen Kaffee“, sagt sie so leise, dass man es kaum hören kann.

„Keinen Tee, einen Kaffee!“ ruft er, als er in den Kreis seiner bestürzten Bewunderer zurückgeht.

Verstört und hilflos fragt die alte Frau den Kellner, der ihr den Kaffee bringt: „Für mich? Hab’ ich das bestellt?“

„Der Mann da drüben ...“ er nickt zum Maler hin. „Der hat’s auch bezahlt.“

Die alte Frau schüttelt verwundert den Kopf, und plötzlich fangen ihre Hände an zu zittern, dass sie fast den weißen Stock verliert.

„Was hab’ ich denn angestellt?“ fragt sie, „dass die Leute so böse geworden sind?“

Aber der Kellner hört sie nicht.

Während sie ihren Kaffee trinkt, beginnen die Menschen auseinander zu laufen, und die Bedienung des Ratskellers rollt etliche Sonnenschirme zwischen die Tischreihen und spannt sie auf. Dann merkt es auch die alte Frau: unversehens hat es zu regnen angefangen.

„Das ist nur ein Schauer“, sagt einer von der Bedienung. „Bleiben Sie hier sitzen und warten Sie’s ab. Das ist gleich vorüber.“

Niemand ist mehr auf der Straße, keiner ist bei dem verlockenden Mädchen mit der Perle geblieben. Langsam verläuft das Bild unter dem Regen. Wenig später ist nichts mehr davon zu erkennen, nur ein schmutziger Fleck ist auf dem Gehweg zurückgeblieben.

In der Wallfahrtskirche
Im Allgäu

Bodo, hättest du von mir verlangt, dass ich da hinauf gehe – dann hättest du allein gehen müssen“, sagt die Frau und schiebt die Sonnenbrille in ihr Haar, um die Kirche auf dem Berg klar sehen zu können.

„Hab’ ich aber nicht“, erwidert der Mann. „Glaubst du, ich hätte dich quälen wollen? Warum sagst du das?“

„Nun, ich meine ja bloß.“

Gemächlich, man könnte fast nebenher laufen, fährt er die Straße zur Wallfahrtskirche hinauf. Die Straße ist steil und kurvenreich, und nach jeder Biegung zeigt sich das Land prachtvoller, überwältigender.

In einer scharfen Kehre tritt er unerwartet mit aller Kraft auf die Bremse, weil ein Trupp Radfahrer, im Sportdress und mit bunten Helmen auf dem Kopf, auf ihn zurast.

Die Frau kurbelt das Fenster herunter, lehnt sich hinaus, als wollte sie der Truppe etwas nachrufen. Sie sagt: „Nein, Bodo, dass das so hoch ist ... Da oben eine Kirche hinzubauen! Fast in den Wolken!“

„So ist das mit den Wallfahrtszielen“, meint der Mann, den Blick starr nach vorne gerichtet. „Da bist du stunden- oder tagelang unterwegs, endlich liegt das Ziel zum Greifen nahe – und dann heißt es: vor der Erlösung erst noch zusätzlich ein paar Blasen an den Füßen sammeln.“

Er lächelt zu ihr hin, und die Frau lächelt zurück, ohne den Blick von der Bergkirche zu wenden. Ihr Gesicht ist hübsch, ist rundlich und glatt und was besonders auffällt, sind ihre dunklen, kreisrunden großen Augen. Ein Wust von unnatürlich braunen Locken umrahmt es, die sich fast bis an die Augen ringeln. Es ist ein angenehmes Gesicht, an dem man nicht vorbei sieht.

Anders ist das Gesicht des Mannes: es ist abgemagert und grau, schmallippig und von tiefen Furchen zerschnitten. Dunkelgrau ist auch sein bürstenlanges Haar, mit tiefen Geheimratsecken. Auf den Schläfen liegen dicke, seilartige Adern. Die Augen kneift er ständig zusammen, als wäre er schwachsichtig oder als blende ihn die Sonne. Von weitem könnte man seine Arme für gebräunt halten, dabei sind sie von einem Pelz von dunklen Haaren überzogen.

Als die Frau sich aus dem Wagen müht, da passen Gesicht und Körper nur noch schwer zusammen. Sie ist von einem Umfang, der sprachlos macht, der Bestürzung hervorruft oder beißende Bemerkungen. Kurzatmig und schwerfällig watschelt sie auf den Berg zu. Sie geht auffallend breitbeinig, die Unterschenkel sind nach außen geknickt. Um voranzukommen, muss sie sich bei jedem Schritt aus der Hüfte heraus drehen. Und dabei hört man, wie ihre Oberschenkel aneinander scheuern.

Vorsichtig fragt der Mann: „Gitta, möchtest du die Autoschlüssel haben?“

Sie bleibt stehen, um zu verschnaufen, schüttelt den Kopf. „Ich werde das schon schaffen ...“

Ja, sie schafft es. Mit Pausen kommt sie die vielen in den Fels geschlagenen Stufen, die an den Kanten mit Tannenstämmen gesichert sind, hinauf. Der Mann ist vorausgegangen. Er wartet oben. Sich langsam um die eigene Achse drehend, das Fernglas vor den Augen, betrachtet er das Land.

Die Frau stellt sich neben ihn, lehnt sich an das Geländer. „Warte einen Moment“, jappst sie und wischt sich mit dem Taschentuch übers Gesicht und in den Ausschnitt.

Schließlich ist sie wieder bei Kräften, langsam und vorsichtig tappt sie neben ihm zum Eingang der Wallfahrtskirche.

Sie flüstert, als spräche sie ein Gebet. „Nein, diese Sonne! Diese Höhe! Dieser holprige Boden!“

In der Kirche sind nicht wenige Besucher. Sie zwängen sich in jede Ecke, als gäbe es da eine verborgene Besonderheit zu entdecken. Die meisten aber drängen sich um den Altar, bestaunen die Schnitzereien, die Bilder, befingern die kostbare, bestickte Altardecke. Eine ältliche, aufgedonnerte Amerikanerin prüft auch die Echtheit der Altarblumen.

Links vom Altar führt eine Tür in den Turm. Menschen drängen hinein und quellen daraus hervor. Rufe sind aus dem Aufgang zu hören, Pfiffe und Geschimpfe und ein Durcheinander von Warnungen und Zurechtweisungen.

Der Mann steckt seinen Kopf in den engen Aufgang.

„Warte hier auf mich“, rät er seiner Frau. „Du kannst dich ja in der Kirche umsehen ...“

Sie zwängt sich in eine Bank, und ohne ihre Antwort abzuwarten, verschwindet er in der kleinen Tür.

Die Frau, immer noch außer Atem, sieht sich um. Auf der anderen Seite hocken ein paar betende alte Frauen. Nichts, so scheint es, kann sie bei ihrer Andacht stören oder davon abbringen.

So tief im Gebet versunken können die doch gar nicht sein, denkt die Frau. Die tun nur so. Die kriegen alles mit, was in der Kirche passiert, selbst im hintersten Winkel.

Sie beobachtet die in die Kirche drängenden Besucher. Auffallende und schlichte Menschen, Deutsche aus den entferntesten Gegenden und Ausländer, vor allem Ausländer. Die einen flüstern, raunen, andere geben sich ungehemmt, als hätten sie ihre Eckkneipe betreten.

Wieder nimmt die Frau die betenden alten Weiber ins Visier: Die hocken immer noch da, eingesunken und mit hängenden Köpfen. Die sind wirklich im Gebet vertieft, oder sie sind eingeschlafen ...

Die Frau lächelt vor sich hin.

Dieses Altarbild, was stellt es dar, überlegt die Frau. Wenn ich das wüsste! Viel von den Heiligengeschichten kenne ich nicht. Wenig, nur ganz wenig. Am besten die über Weihnachten. Das hört man ja alle Jahre wieder. Und etwas von der Kreuzigung. Aber so recht weiß ich auch da nicht Bescheid. Ich werde Bodo nach dem Bild fragen, der läuft in jede Kirche. Der wird es wissen. Ich denke, es ist das übliche, wie immer. Mir kommt es vor, als wäre es ein wenig anders gemalt. Aber es ist gut gemalt. Ein schönes Bild ...

Wieder sieht sie sich um. Nun, ich werde einfach dasitzen und die Menschen beobachten, dieses seltsame Volk ohne Respekt, ohne Pietät. Und die alten Weiber da drüben. Das könnte langweilig oder unterhaltsam werden ...

Endlich taucht ihr Mann in der kleinen Seitentür auf. Seine zusammengekniffenen Augen können sie nicht sofort entdecken. Sie steht auf, so gut es in der engen Bank geht, winkt ihm.

„Ich bin auf dem Dach gewesen“, sagt er und setzt sich neben sie. „Ist das ein Abenteuer! Du kannst dir nicht vorstellen, Gitta, wie schmal der Aufgang ist. Und die vielen Stufen! Kurz und ausgelatscht. Hühnerstiegen von unten bis oben ... Alles so eng, dass kaum ein Mensch gehen kann. Und dann die, die herunterkommen! Die jungen stürmen drauflos, stoßen sich ... Und bist du endlich oben, auf der Aussicht, dann musst du wieder aufpassen, weil die Bohlen wackelig oder morsch sind.“

„Wie hoch kommt man da?“

„Aufs Dach“, der Mann zeigt gegen die Kirchendecke. „Das ist nur etwas für Schwindelfreie ...“ Plötzlich hat er vergessen, dass er in einer Kirchenbank sitzt. Begeistert ruft er: „Aber du hast einen Blick, Gitta!“

Ein älteres Paar fegt heran. Empörung im Gesicht, Empörung im Gang, in den ausholenden Armen.

„Fixlaudon!“ braust der Mann auf. „Wenn hier a jeder so blädern tät! - Dös is ka Kaffeehaus! Solln ma Strudel bringen? Oan Schwarzen? Melange? Solln ma Kaffeehausmusik spölln lossen?“

Vor Aufregung ist der Mann krebsrot geworden, sogar seine Fliege hat sich quergestellt.

„Mir san doch in d’Kirchn!“ zischt die Frau an seiner Seite. „Ham’s dös net mitkriegt? – Dei Mascherl!“ Sie rückt ihm die Fliege zurecht.

Das weckt die eingeschlafenen alten Frauen auf. Jetzt sind die ihrerseits aufgebracht, zwängen sich aus der Bank, drängeln sich durch die Menschen. Sie umringen die Empörten aus dem Nachbarland, und alle giften durcheinander: „Wo san mer denn? Gehn’s naus! Da können’s kreischen! Des is a Beläschtigung! Hier is Andacht!“

Ein paar Mal schnappen die Beschimpften nach Luft, wollen die Sache richtig stellen.

„Komm, geh ma!“ Der aufgebrachte Mann packt die Frau am Arm und zerrt sie nach draußen.

Eine von den Alten beugt sich zu der umfangreichen Frau und meint mit hochgezogenen Schultern: „Leit gibt’s, na! Haben ka gute Kinderstubn ... Schad!“

„Wie recht Sie haben“, gibt die zur Antwort und stößt ihren Mann an, dass sie gehen möchte.

Als die alten Frauen an ihren Platz zurückgegangen sind, geht auch die kolossale Gitta mit Bodo, ihrem zaundürren Mann. Respektvoll machen die anderen Platz, sehen die beiden mitleidig an, nicken wie zustimmend.

Ein alter Mann mit spindeldürren Beinen und einer jungenhaften Mütze auf dem Kopf meint: „Ja, ja. Auf unsere Piepen sind alle scharf. Aber sehen wollen die unsereins nicht ...“

 

Er sagt das so, dass es die gewichtige Frau und ihren Mann versöhnen soll.

Seine Begleiterin, ein junges, flachbrüstiges und aufgeschossenes Ding, unter einer ebensolchen Mütze wie der alte Mann, stößt ihn in die Seite.

„Ach, Hans Gottfried, das war doch anders! Ganz anders!“