Verknotungen Erzählungen

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Verknotungen Erzählungen
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Wilhelm Thöring

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Verknotungen, Erzählungen

Wilhelm Thöring

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Wilhelm Thöring

Cover: Aiga J. Janning

Foto: Jürgen Janning

ISBN 978-3-8442-5333-7

Stadtsanierung

Vor Jahren war die Kronprinzenstraße eine prachtvolle und beeindruckende Straße, jetzt ist sie hässlich, ohne Bäume. Die Häuser sind ohne Vorgärten, ohne Büsche.

Damals standen zu beiden Seiten der Straße Linden; ihre mächtigen Kronen fächelten im Sommer Kühlung in die Häuser. Von Ende Mai bis weit in den Juni verströmten sie einen süßlichen Duft, der müde machte und von weit her Bienenschwärme anzog.

Wer jetzt durch diese Straße geht, findet sie jämmerlich, ja, abstoßend, obwohl sie einen solch stolzen Namen trägt; die Begrenzungen der Kronprinzenstraße sind nichts weiter als Häuserzeilen links und rechts.

Auch die Häuser haben ihren einstmaligen Glanz verloren, sie sind alt, mit zerbröckelnden Stuckverzierungen, ohne die leuchtenden Farben, die dem Namen dieser Straße angemessen waren; ohne Blumen auf den verschnörkelten, rostigen Balkonen – alles grau und fleckig und voller Taubendreck.

Die Kronprinzenstraße ist zu einem blinden Flecken auf dem stattlichen Bild nicht nur des Viertels, sondern der ganzen Stadt geworden!

Ein Haus in der Kronprinzenstraße ist nicht einfach ein Haus – es ist eine Burg; drei oder vier Häuser liegen hintereinander; dazu gibt es noch eine Menge von Höfen und Querbauten. So hat die Straße ein Labyrinth von Kellergängen und Fluren und nicht zu zählenden Treppen und Eingängen.

Man darf sagen: die Kronprinzenstraße bietet für lichtscheues Gesindel eine ideale Behausung. In den letzten Jahren ist es geradezu in Schwärmen hier eingeflogen!

Jetzt ist von höchster Stelle ein Beschluss gefasst worden: die Häuser in der Kronprinzenstraße werden abgerissen; von keinem Haus soll ein Stein auf dem anderen bleiben. Neues, Modernes, Prachtvolles soll an ihrer Stelle aufblühen!

Der verantwortliche Herr schiebt die Daumen in den Ärmelausschnitt seiner Weste, wippt auf den Zehenspitzen und sagt in die Fotoapparate und Kameras:

„Dieser blinde Fleck ist nicht länger zu dulden – er muss verschwinden! Wir werden der Kronprinzenstraße wieder jenen Glanz geben, den sie einmal hatte: sie wird saniert! Schluss mit solchem Übelstand!“

Sanierung – das Wort hat Wirkung; es dringt in Ohren und Köpfe, es stiftet Verwirrung und Ratlosigkeit, auch Angst. Sanierung – das Wort löst Betriebsamkeit aus; es treibt die Umzugswagen in die Kronprinzenstraße; sie wird zur Ader gelassen, sie blutet aus. Wo sich das Werk der Ausblutung bereits vollzogen hat, zeigen sich Wunden: vernagelte Fenster und Türen, an den Mauern Sprüche und Parolen.

In der Kronprinzenstraße breitet sich wie ein tödlicher Pilz die Leere aus. In ihr sitzt der Tod.

Nicht nur die Straße stirbt, da stirbt auch etwas in den Menschen; ein vielfacher, ein schleichender Tod zieht von Haus zu Haus.

Durch das Vorderhaus der Nummer zwölf müht sich ein riesenhafter Möbelwagen auf den dritten Hinterhof, Fetzen von Putz werden von Wänden und Torbögen gerissen. Schwitzend hängt der Fahrer aus dem Führerhaus, um die Kommandos hören zu können, die ihm zugebrüllt werden. Dann hat er es geschafft.

„So, Jungs, jetzt seid ihr dran“, ruft er den Möbelträgern zu.

Damit tritt das Sterben in dieses Haus; diese Art zu sterben geht schnell.

Von ihrem Platz am Fenster verfolgt Mutter Jettchen die Vorgänge im Haus; sie beobachtet nicht, sie hört, denn Mutter Jettchen ist seit vielen Jahren blind. Was sie nicht sieht, das kann sie spüren. Sie spürt das Zittern des Hauses, aus dem muskulöse Männerarme Stück für Stück das Leben forttragen.

Seit Wochen zittert das Haus. Jetzt ist das Zittern in den letzten, in den dritten Hinterhof eingedrungen; das Zittern läuft durch Mutter Jettchens Haus.

Lange Zeit sitzt sie auf dem weißen Küchenstuhl mit den vielen Kissen; sie denkt nach. Bilder und Begebenheiten kommen ihr in den Sinn, die schon lange im Grab der Vergessenheit liegen sollten. Am deutlichsten ist das Bild der toten Großmutter.

Gott, wie viele Ewigkeiten ist das her! Fünfzig Jahre? Sechzig?

Mutter Jettchen wundert sich: warum kommt mir das heute in den Sinn? Merkwürdig das ganze ...

Sie rechnet nach: sechzig Jahre wird es schon her sein, eher etwas mehr; oft dauert ein Menschenleben nicht so lange. Meine Mutter hat die Sechzig nicht erreicht, und ich habe die Achtzig schon hinter mir. Großer Gott!

Großmutter – hier vor meinen Füßen stand ihr Sarg. Auf zwei Schemel haben sie ihn gestellt, dicht beim Fenster, dass das Sonnenlicht auf die Tote fallen konnte. Es sollte aussehen, als schlafe sie.

Was wusste Großmutter nicht alles von diesem Haus! Von den Ranken, den Schnörkeln und Gipsfiguren im Flur und draußen an den Fassaden! Was hatte sie als junges Mädchen nicht alles von den verzierten Balkonen gesehen! Großmutter kannte die guten und herrlichen Zeiten des Hauses noch. Ja, sie selbst hat ihr ganzes Leben lang etwas davon in sich getragen. Sogar als Tote.

Ach, ich erinnere mich an die glühenden Pünktchen über Großmutters Sarg, die im Sonnenlicht durch die ganze Küche wirbelten. Damals habe ich geglaubt, sie kämen aus der Toten oder von der Sonne selbst. Denn Großmutter hat die Sonne sehr gemocht.

Ich mag sie auch, sagt Mutter Jettchen sich. Ich mag die Sonne immer noch, obwohl ich so gut wie nichts mehr von ihr sehen kann. Aber ich spüre sie. Auf meinen nackten Armen, auf meinem Gesicht spüre ich sie. Sogar durch den Rock auf den Beinen. Wenn sie ihre Zeit in mein Fenster scheint; dann schiebe ich die Ärmel hoch, damit sie die alten Knochen wärmen kann. Wäre es nicht unanständig – ich könnte alles vor ihr ausziehen! Ist ja sonst niemand da, der mich streichelt.

Jetzt ist die Zeit der Sonne vorbei, der Herbst ist da mit Nebel und seinem ewigen Regen, mit drückender Stille im Hof.

Mutter Jettchen sitzt ganz still. Doch, doch, sie kann es spüren, wie das Leben aus dem Haus heraussickert, so wie Luft aus einem Fahrradschlauch. Wenn die Sonne wieder warm und kräftig am Himmel steht, dann wird das Haus Kronprinzenstraße Nummer zwölf tot sein. Tot wie alle anderen Häuser in der Straße.

Sie sagen Stadtsanierung dazu, nicht Abriss“, schreit Frau Pleskow ihr ins Ohr. Zu allem anderen hört Mutter Jettchen jetzt auch noch schwer.

„Ja, ja, alle ziehen aus! Sie ziehen weg. Die einen ein paar Straßen weiter, andere in eine fremde Stadt, Mutter Jettchen! Sie ziehen hierhin und dorthin. Sie glauben es nicht: einer zieht sogar ins Ausland!“

Frau Pleskow, knapp dreißig Jahre jünger als Mutter Jettchen, ist für sie die notwendige Verbindung nach draußen. Durch Frau Pleskow ist das, was Mutter Jettchen fürchtete, zur Wahrheit geworden.

Eines Tages lag ein Brief auf dem Fußboden. Ein dünner Brief, der ganz bequem unter der Tür durchzuschieben war. Frau Pleskow las ihr den Brief vor. Aber Mutter Jettchen verstand ihn nicht, er war unklar, er klang verzwickt und kompliziert.

„Worum geht’s, Frau Pleskow?“

„Sanierung der Kronprinzenstraße. Ein harter Brocken!“

„So?“

„Was die hier schreiben, Mutter Jettchen, ist ein Todesurteil. Am zwanzigsten Januar im nächsten Jahr ist das Urteil zu vollstrecken ...“

„Ich verstehe nichts!“

„Abriss! Alle Häuser in unserer Straße werden abgerissen. Wir müssen ausziehen!“

„Ausziehen? Du lieber Gott! Warum denn ausziehen? Hier wohne ich, so lange ich lebe! Wohin soll ich denn gehen?“

„Unsere Häuser sind nicht mehr schön, heißt es. Sie wollen neue bauen, bessere, schönere ...“

„Schönere? Mir gefällt’s hier!“

„Danach fragen sie nicht, Mutter Jettchen. Wenn so ein Baulöwe erst einmal eine Sache in den Pranken hat, dann reißt der das an sich. Der fragt nicht danach, ob wir hier Wurzeln haben ...“

Danach ist Frau Pleskow gegangen. Mutter Jettchen blieb allein mit ihren Gedanken, die wie Fliegen durch ihren Kopf schwirrten. Fliegen lassen sich verscheuchen, aber keine Gedanken!

Frau Pleskow war eine unter den ersten, die den Möbelwagen in die Kronprinzenstraße Nummer zwölf kommen ließen. Kurz danach zogen die jungen Leute, die über Mutter Jettchen in der vierten Etage wohnten. Die hochnäsige Witwe von nebenan mit ihrem sonderbaren Herrn zog aus, der lahme Rentner vis-a-vis, die schrullige Gattin des Musikdirektors – Schritt für Schritt leerte sich die Straße, leerte sich das Haus.

Und Mutter Jettchen sitzt auf ihrem weißen Stuhl mit den vielen Kissen und wartet.

Im Flur ist Lärm, schwere Tritte, Rufen und leises Schimpfen. Mutter Jettchen geht vor die Tür, putzt das Messingschild neben der Klingel. Das ist nur ein Vorwand, sie will horchen. Sie putzt lange, dann blinkt es: ‚Henriette Bräsicke, Ww’, dass die Möbelträger, die die Wohnungen ausräumen, es lesen können.

„Na, Mutter Jettchen, lohnt sich diese Mühe noch?“ Frau Riemer, die ledige Mutter, keuchte mit Paketen die Treppe herunter. „Jetzt wird’s Ernst für mich, ich ziehe!“

„So? Ich wohne noch hier!“ lachte Mutter Jettchen. „So lange ich in dieser Wohnung bin, so lange wird das Schild geputzt! Vorerst bleibe ich noch!“

„Sie bleiben?“

„Frau Pleskow hat mir den Brief vom Amt vorgelesen. Und die schreiben, dass sie sich bei mir melden, wenn es so weit ist.“

„Aber der Bagger ist schon nebenan! Zwei Häuser weiter.“

„Das wird schon werden. Die werden mich alte, blinde Frau nicht vergessen. Bestimmt nicht!“

 

„Ja, dann ... Machen Sie’s gut, Mutter Jettchen! Vielleicht sieht man sich einmal!“

Mutter Jettchen hört sie nach unten laufen, die Tür fällt ins Schloss, im Flur ist es still.

„Nun ist sie auch weg“, sagt sie. „Bald sind alle weg. Und ich?“

In der Küche befühlt sie das Zifferblatt der Uhr – kurz nach siebzehn Uhr. Das ist die Zeit, in der die Männer von der Arbeit heimkehren. Heute kehrt keiner mehr heim. Und morgen auch nicht.

Jetzt sitzt sie bewegungslos da, die Hände im Schoß, den Kopf gegen die Wand gelehnt.

Vielleicht ist noch jemand im Seitenhaus, oder in einer Wohnung des dritten Hofes, einer der krank im Bett liegt; einer, der später nach Hause kommt, oder der wie ich in seiner Stube sitzt und wartet ...

Ich werde ihn bemerken. Bestimmt!

Mutter Jettchen trägt einen Stuhl auf den langen schmalen Korridor. Sie stellt ihn dicht an die hohe Tür mit der blinden Scheibe oben, an die sie schon lange nicht mehr hinlangt.

In ihrer Stube geht sie sicher. Sie sieht mit den Händen, auch mit den tappenden Füßen.

Hier will ich ein Weilchen sitzen, sagt sie sich. Warten werde ich, horchen, ob jemand durch das Treppenhaus geht.

Sie sitzt nicht vergebens. Das Leben kommt mit schleppenden Schritten die Treppe herauf. Mutter Jettchen reißt die Tür auf.

„Ach, ist da jemand?“ ruft sie ins Treppenhaus. Ihre Stimme echot von Etage zu Etage.

Die Schritte kommen näher, sie sind dicht bei ihr. Der Unbekannte nimmt ihre Hand, Wärme und Leben berühren sie. Durch Mutter Jettchen strömt Freude.

„Wer sind Sie denn“, fragt sie. Sie hört nichts.

„Wer sind Sie? Sie müssen lauter sprechen.“

Dicht an ihrem Ohr spürt sie Lippen, die die Worte formen: „Wie, Frau Bräsicke, Sie sind noch hier?“

„Ja, ja. Ich bin noch da,“ ruft Mutter Jettchen fröhlich. „Ich kann noch bleiben. Denn vom Amt ist noch keiner bei mir gewesen. Wer sind Sie denn?“

„Wenzke!“

„Ach, Frau Wenzke? Ich habe Sie nicht erkannt. Können Sie einen Augenblick in meine Stube kommen? Hier zieht’s so entsetzlich.“

Mutter Jettchen fühlt die warme Hand, spürt den festen Tritt auf den Dielen.

„Kommen Sie hierher!“ Sie öffnet die Küchentür. „Hier ist es etwas wärmer als in der Stube. Wissen Sie, wenn es kalt ist, dann drehe ich einfach den Gashahn in der Backröhre auf. Das wärmt sofort! Setzen Sie sich hierher.“

Sie packt Kissen auf Frau Wenzkes Stuhl.

„Das ist bequemer. Etwas Briketts habe ich noch. Aber ich hebe sie für den Winter auf. Ich wollte Frau Pleskow noch bitten, für mich zum Kohlenmann zu gehen. Ich habe es vergessen. Und jetzt ist sie auch weggezogen. Alle ziehen weg. Glauben Sie mir, das tut weh. Welche Wohnung haben Sie denn?“

„Ganz oben im fünften Stock, bei den Spatzen!“ Sie lacht.

„Frau Wenzke, Sie wohnen noch nicht lange bei uns?“

„Gut zwei Jahre werden es sein.“

„Das ist nicht lange! Ich habe Ihren Schritt nicht erkannt. Die anderen – ja, die erkannte ich. Ich wohne mein ganzes Leben hier. Über achtzig Jahre, denken Sie einmal! Meine Mutter ist schon in dieser Wohnung geboren, und meine Großmutter ist als kleines Kind hier eingezogen. Und ich bin auch hier auf die Welt gekommen. Denken Sie einmal: Drei Generationen. Du lieber Gott, eine lange Zeit!“

Mutter Jettchen kichert vor sich hin.

„Damals war das hier eine feine Gegend. Waren das vornehme Häuser! Heute sind sie nicht mehr gut genug. Deshalb reißt man sie ab.

Mit diesem Haus bin ich verwachsen. Ich bin ein Teil von ihm, und das Haus ist ein Teil von mir. So kann man doch sagen?“

„Das stimmt. Da ziehen Sie nur sehr schwer weg?“

Mutter Jettchen nickt. Ihre erloschenen Augen sehen an Frau Wenzke vorbei. Wie Glas sehen sie aus, das sich nicht bewegt, weil es kein Ziel hat. Frau Wenzke traut sich nicht, die blinde Mutter Jettchen anzusehen.

„Ich glaube, wir haben jetzt das ganze Haus für uns allein.“

„Allein? Na, ich weiß nicht ...“ sagt Frau Wenzke müde.

„Und wann ziehen Sie, Frau Wenzke?“

„Ende der nächsten Woche.“

„Nächste Woche schon? Ich muss noch auf die vom Amt warten. Sie wollen vorbeikommen und mir helfen. Haben sie geschrieben.“

Sie sagt das mehr für sich. Auf ihrer Stirn erscheinen viele Falten, eine dicht neben der anderen. Groß und ausdruckslos sind ihre Augen auf Frau Wenzke gerichtet. Die kann es nicht ertragen, von diesen Augen angesehen zu werden. Wenn die Blinde mit ihr spricht, dann hat sie das Gefühl, dass sie jemand anderes meint. Jemand, der hinter ihrem Stuhl steht.

Frau Wenzke blickt weg.

„Dann sind wir nur wenige Tage zusammen“, denkt Mutter Jettchen laut. „Sie und ich in diesem großen Haus. Am Tag sind Sie fort, aber am Abend ...“

Nach einer Weile traut sie sich, Frau Wenzke zu fragen:

„Könnten Sie nicht am Tage auf ein paar Minuten bei mir hereinsehen? Nicht lange.“

„Ein paar Minuten, ja. Viel Zeit habe ich nicht.“

Mutter Jettchen lächelt dankbar. Sie senkt den Kopf und lächelt gegen den Fußboden.

Wie ein Mädchen sieht sie aus, findet Frau Wenzke, ein altes Mädchen mit zerfurchtem Gesicht, mit schmutziggrauen Haarsträhnen.

Sie steht auf.

„Ja, das lässt sich einrichten. Wenn Sie bis zum Spätnachmittag warten. Ich habe spät Feierabend.“

„Wie schön. Ja, bis zum Spätnachmittag. Ich danke Ihnen, Frau Wenzke.“

Ziellos streckt sie ihre Hand aus. Frau Wenzke hält sie fest.

„Gut, dann bis morgen!“

„Ja, bis morgen! Wie schön! Ich freue mich darauf.“

Hand in Hand gehen die beiden Frauen zur Tür. Schweigend stehen sie einen Augenblick im Treppenhaus zusammen. Dann geht Frau Wenzke nach oben. Sie geht schwer, als trüge sie Lasten mit sich herum. Oben geht die Tür. Der Flur wirft von allen Wänden den Knall des Schließens zurück.

Jetzt macht auch Mutter Jettchen kehrt und schließt ihre Tür. Glücklich steht sie im Korridor, wo es seit Ewigkeiten nach Rauch, nach Asche und Feuchtigkeit riecht.

Anderntags steht Frau Wenzke in der Tür und ruft:

„Da bin ich!“

„Ach, wie schön!“

Mutter Jettchen reißt die Tür weit auf, als sollte ein ganzes Geschwader einziehen.

„Dass Sie Wort gehalten haben, Frau Wenzke!“

Sie sitzen in der Küche. Mutter Jettchen hat Teetassen bereitgestellt. In der Backröhre brennen zwei Reihen blauer Gasflämmchen und strömen Wärme aus.

Frau Wenzke fragt: „Haben Sie heute Nachricht vom Amt bekommen?“

„Vom Amt? Nein.“ Mutter Jettchen schüttelt den Kopf und lacht dazu. Dann sagt sie schnell: „Aber das Amt wird sich noch melden. Saumselig sind die immer gewesen, nicht wahr?“ Wieder lacht sie. „Aber die werden sich melden. Frau Pleskow hat es mir gesagt.“

„Ist Frau Pleskow für Sie auf dem Amt gewesen?“

„Doch, doch. Frau Pleskow muss auf dem Amt gewesen sein. Ich soll warten, sagte sie. Das Amt wird sich melden.“

„Wann wollen die sich melden? Die Zeit ist abgelaufen.“

„Bis Januar ... So viele Wochen ... Das hat noch Zeit! Es muss ja nichts überstürzt werden ...“

Die Frauen schweigen. Sie hören die Straßenbahn quietschen, hören Rufe von weither, ein Radio dudelt. Die Kronprinzenstraße tut, als befände sie sich in ihrer besten Zeit.

Behutsam stellt Frau Wenzke jedes Mal die Tasse zurück, wenn sie daraus getrunken hat. Sie will die Ruhe nicht verscheuchen. Hastig rennt der abgeschabte Wecker an seinem Platz. Manchmal schnarrt er im Innern, es klingt, als müsste er sich räuspern.

Mutter Jettchen hört nichts. Sie hängt ihren Gedanken nach. Sie sagt:

„Man wird mich alte Frau doch nicht vergessen!“ Es klingt, als spräche sie zu sich selbst.

„Übermorgen werde ich für Sie aufs Amt gehen. Oder: Sie gehen mit! Es wird Zeit, dass wir nachfragen!“

„Ja, wollen Sie das für mich tun? Sie sind ein guter Mensch, Frau Wenzke.“

Frau Wenzke bewegt sich auf ihrem Stuhl, stößt irgendwo gegen.

„Müssen Sie schon gehen“, ruft Mutter Jettchen.

„Nein, nein. Es ist, weil ich nichts sehe. Es ist völlig dunkel geworden.“

Mutter Jettchen steht auf, tastet an der Tür nach dem Lichtschalter.

„Wie dumm von mir ... Entschuldigung. Ich brauche ja kein Licht ... Für mich ist immer Nacht ... Oder Tag, ganz wie Sie wollen.“

Sie kommt sicher an ihren Stuhl zurück. Es ist, als sähe auch sie bei Licht besser.

„Bei mir brennt nie Licht“, sagt sie. „Oder haben Sie mein Fenster schon einmal hell gesehen?“

„Ich achte nicht darauf. Es gibt so viele Fenster in diesem Haus.“

„Ja, viele Fenster. Jetzt sind wohl alle dunkel?“

„Alle.“

„Wie mein Leben.“ Mutter Jettchen streichelt ihre dürren Arme. „Dunkel war es, still und einsam. Ein ungelebtes Leben, ja, ja. Wissen Sie, wenn man alt geworden ist, dann kommt es einem vor, als hätte man sein Leben gar nicht richtig gelebt ...“

Frau Wenzke wartet. Aber Mutter Jettchen mag vorerst nicht mehr reden. Sie steht auf.

„Jetzt müsste ich langsam gehen ...“

„Ist es schon so spät? Wenn Besuch da ist, dann habe ich kein Gefühl für Zeit.“

Im Treppenhaus wartet sie, bis sie Frau Wenzkes Tür klappen hört. Als sie in ihre Wohnung zurückgeht, kichert Mutter Jettchen ein merkwürdiges Kichern, als wäre sie ein junges Mädchen. Der Besuch hat sie glücklich gemacht. Frau Wenzke wird wiederkommen, sie will mit ihr sogar aufs Amt gehen!

Wenn sie doch nur besser hören könnte! Dann wüsste sie, wann Frau Wenzke durch den Flur geht!

Jetzt wird sie oben Licht einschalten. Frau Wenzke braucht Licht. Sie kann ohne Licht nicht leben. Sie ist wie eine Blume. Wo Licht ist, da ist Leben. Da ist Wärme, da ist gut sein.

Ein Fenster in diesem großen Haus ist noch jeden Abend erleuchtet!

Bei mir, sagt Mutter Jettchen sich, ist das ganz anders. Ich brauche kein Licht, trotzdem werde ich es nicht ausschalten. Mein Licht soll mit ihrem Licht brennen.

Sie lacht auf, als wäre ihr ein Streich gelungen.

Am Spätnachmittag des folgenden Tags legt Mutter Jettchen die Sicherheitskette vor und lässt die Tür offen stehen. So kann sie hören, wenn Frau Wenzke die Treppe heraufkommt.

Auf dem Küchentisch warten die Teetassen.

Es wird spät heute, sehr spät. Frau Wenzke kommt nicht. Mutter Jettchen wird unruhig. Sie kann es nicht mehr am Türspalt aushalten. Sie macht ein besorgtes Gesicht, tappt in den Flur, tastet sich an die Türen, klingelt oder pocht. Dass es mittlerweile Nacht geworden ist, kann sie nicht sehen. Um das zu erfahren, müsste sie den hetzenden Wecker befühlen.

Gütiger Gott! Sollte Frau Wenzke etwas zugestoßen sein?

Bestimmt hat sie gerufen, und ich habe es nicht gehört. Dann ist sie in ihre Wohnung gegangen.

Mutter Jettchen ist aufgeregt. Sie scheut sich nicht, Frau Wenzkes Namen laut in den Flur zu rufen. Nichts. Ihre Stimme erreicht niemanden mehr. Wenn sie in ihrer Aufregung geht, dann prallt sie gegen Wände.

Frau Wenzke hat heute Morgen gar nicht das Haus verlassen, geht es ihr plötzlich durch den Kopf. Sie ist krank, sie wartet auf mich!

Mutter Jettchen tastet sich in die fünfte Etage hinauf. Hier gibt es viele Wohnungen, und alle sind verschlossen. Die Leute ziehen weg und verschließen die Wohnung, als müssten sie gesichert werden, weil sie wiederkommen.

Sie betastet die Namensschilder. Sie ruft. Schließlich zieht sie einen Klingelknopf. Hinter der Tür schrillt die Klingel, schauderhaft und laut, wie ein aufgeschrecktes Tier. Noch einmal. Sie lauscht wieder. Außer der Klingel ist niemand in der Wohnung.

Mutter Jettchen gerät außer sich. Sie ist so aufgeregt, dass sie alle Klingeln in der fünften Etage schreien lässt.

Und sie schreit mit, schreit sich heiser; schreit, bis sie fast besinnungslos wird.

Zerschlagen und ausgebrannt taumelt sie in ihre Wohnung zurück.

Winselnd reibt sie ihre Arme, schaukelt auf dem weißen Stuhl hin und her. Sie begreift: Außer ihr gibt es niemanden mehr in diesem Haus. In diesem Labyrinth von Fluren und Gängen, von Etagen und Treppen ist sie allein.

„Sie ist also weggezogen“, weint sie. „Sie sagte es nicht, weil sie es mir nicht schwer machen wollte. Aber übermorgen wird sie kommen und mit mir aufs Amt gehen. Sie hat es versprochen!“

Es dauert lange, bis Mutter Jettchen etwas ruhiger wird. Zuerst läuft sie wie von allen guten Geistern verlassen durch die Wohnung. Sie läuft und läuft und klagt und fuchtelt mit den Armen, dass es so eine Art ist. Diesmal ist sie wie eine Fremde in den eigenen Stuben: Immer stößt sie irgendwo gegen.

 

Endlich setzt sie sich in die Küche auf den weißen Stuhl mit den vielen Kissen, unter denen Strümpfe und Taschentücher hervorquellen.

Ohne es zu wollen befühlt sie den Wecker: So, Mitternacht ist schon lange vorüber!

Der Kopf ist leer, ihre Hände liegen ergeben im Schoß. Wieder befühlt sie den Wecker. Und wieder wundert sie sich, dass es so spät geworden ist. Mit dem Körper hin und herschaukelnd, klagt sie:

„Ich friere. Die Wohnung ist ausgekühlt. Ich sollte die Backröhre anheizen. Jetzt noch!“

Und sofort hat sie auch das wieder vergessen. Wie kopflos sie ist, sie kann sich nichts merken. Sie sitzt da und denkt so seltsam durcheinander. Wieder klagt sie:

„Meine Augen brennen aber auch! Sie vertragen es nicht mehr, wenn ich weine. Gott, was ist das für ein Tag! Das ertrage ich nicht ... Macht mir Hoffnung, die Frau, und dann bleibt sie einfach weg! Das bringt mich um!“

Schwerfällig steht Mutter Jettchen auf und geht in die Schlafstube. Angekleidet legt sie sich aufs Bett.

Da liegt sie nun und wartet.

Warten? Worauf soll ich warten? Auf den Schlaf? Auf Frau Wenzke? Auf den Tod? Ja, auf den will ich warten. Der kommt bestimmt, der enttäuscht mich nicht.

Woher sollt Mutter Jettchen wissen, dass sie Frau Wenzke Unrecht tut? Frau Wenzke hat es ernst gemeint, als sie gestern Abend sagte: Gute Nacht! Bis morgen. Und übermorgen gehen wir aufs Amt!

Frau Wenzke hat, wie Mutter Jettchen auch, an den anderen Tag geglaubt. Woher sollte Mutter Jettchen wissen, was an diesem Tag weit weg von diesem Viertel geschehen ist?

In der Frühe hat Frau Wenzke das Haus Kronprinzenstraße Nummer zwölf verlassen und ist, wie an jedem Morgen, zu ihrer Arbeitsstelle gefahren. Wie alle Tage musste sie sich auch heute beeilen, um hinter die Theke der Werkskantine zu kommen.

Am Spätnachmittag wollte sie Kuchen kaufen und Mutter Jettchen damit überraschen. Die alte Frau wird sich freuen, einmal frischen Kuchen essen zu können. So dachte sie.

Sehr vorsichtig wollte sie ihr anbieten, das Haar zu waschen und zu frisieren. Behutsam wollte sie das sagen. Und die langen, eckigen Fingernägel beschneiden. Mutter Jettchens Fingernägel sehen aus wie Tierkrallen, gelblichbraun und voller Verdickungen.

Irgendwer muss das doch einmal bei der alten Frau tun!

So dachte Frau Wenzke, als die Straßenbahn sie durch die Nacht zur Kantine fuhr.

Alle Fahrgäste waren bereits ausgestiegen, die Bahn hatte die Endstation erreicht. Frau Wenzke saß noch auf ihrem Platz, tief in Gedanken. Wohl auch ein bisschen müde. Der Fahrer wandte den Kopf, sah sie an, grinste – Frau Wenzke merkte nichts. Sie blickte weiter zum Fenster hinaus, sah ihr Spiegelbild in der Scheibe.

„Hallo!“ Der Fahrer rief nicht übermäßig laut. „Endstation, meine Dame!“

Frau Wenzke zuckte zusammen, lief zur Tür und sprang in die Nacht hinein. Sie sprang direkt in das schwarze Loch zwischen den beiden Scheinwerfern eines Autos, die auf sie zurasten. Ein dumpfer Schlag, Quietschen von Rädern, zerspringendes Glas – etliche Meter weiter in einer Anlage kam der Wagen zum Stehen.

Frau Wenzke lag auf der Straße, beinahe unter der Straßenbahn. Seltsam verbogen lag sie auf dem Pflaster. Aus ihrem Mund floss Blut, dicke, rote, zerspringende Blasen. Auch aus Nase und Ohren floss es.

Neben ihr kniete der Straßenbahnfahrer und sagte immerzu: „O Gott! O Gott!“

Menschen kamen gelaufen, später hastete ein Rettungswagen heran. Ein Arzt beugte sich über sie, horchte, leuchtete in ihre starren Augen – „Ex!“ sagte er und gab Zeichen, dass man Frau Wenzke wegtrage.

Das geschah in der Frühe, als Mutter Jettchen einem schönen Tag entgegen schlief.

Wer berichtet ihr von diesem Vorfall? Mutter Jettchen liest keine Zeitung, sie bekommt auch keine. Zeitung, das ist für sie nur raschelndes Papier, das sie in den Ofen wirft, um anzuheizen. Wenn sie liest, dann liest sie mit den Fingern. Aber auch das hat sie schon lange bleiben lassen.

Wer soll ihr das berichten?

Sie wartet am nächsten und übernächsten Tag auf ein Zeichen von Frau Wenzke. Dann gibt sie es auf, hinter dem Spalt der Tür zu warten.

Eine Reihe von Tagen ist seitdem vergangen.

Mutter Jettchen sitzt sich in der Küche auf dem weißen Stuhl mit den vielen Kissen. Ihre Hände mit den langen eckigen Nägeln liegen schlaff im Schoß. Das Gesicht streckt sie ein wenig zur Decke, als lausche sie. Manchmal streichelt sie ihre dünnen Arme, als wäre ihr kalt. Ihre Hände verschieben die faltige Haut auf den Knochen, dann legen sie sich wieder auf den warmen Platz zurück.

Oder sie befühlen das Zifferblatt des Weckers, der neben ihr auf der Fensterbank durch die Zeit hetzt.

Neunzehn Uhr dreißig schon?

Vor kurzem hat sie hier bei mir gesessen, wir haben Tee getrunken und sie hat versprochen, mit mir aufs Amt zu gehen!

Vielleicht war das auch gar nicht wahr!

Plötzlich springt Mutter Jettchen auf, als wäre ihr etwas Entscheidendes eingefallen.

Es ist Zeit, dass ich mir das Abendbrot mache.

Eine Tasse voll Suppe aus Haferflocken – mehr braucht sie nicht. Das könnte schon zu viel sein.

Von Tag zu Tag werden ihre Vorräte kleiner. Niemand kommt und füllt sie auf. Mutter Jettchen muss sehr haushalten! Sie muss das, was sie in den Schrankfächern findet, einteilen.

„Was soll’s? Es ist ja alles nichts!“ spricht sie laut gegen die Fensterscheibe. „Aus und vorbei. Wie so vieles im Leben!“

Sie schlürft die Suppe – die wärmt ihren Körper und lässt sie für kurze Zeit auf andere Gedanken kommen.

Es ist stockfinster geworden. In der Kronprinzenstraße sind die wenige Lichter angegangen. Das wenige Licht fällt in eine leere, eine tote Straße. Es bescheint die vernagelten, die verletzten Häuser, die auf den letzten Schlag warten.

Im dritten Hinterhof, in der dritten Etage der Nummer zwölf, sitzt Mutter Jettchen hinter der dunklen Scheibe Stunde für Stunde, Tag für Tag.

Sie geht schlafen, wenn die Müdigkeit endlich gekommen ist. Sie steht auf, wenn sie Lust dazu hat.

Über der Stadt hängt Nebel, der sich von den schwarzen, glänzenden Bäumen kämmen lässt. Er wallt über die Dächer in die Höfe. Er versteckt diese Stadt mit ihren schönen und hässlichen Straßen. Er lässt die Menschen meinen, sie seien allein auf der Welt.

Der Nebel bringt Kälte mit.

Mutter Jettchen, die die meisten Stunden auf dem Küchenstuhl mit den vielen Kissen zubringt, Mutter Jettchen friert. Sie friert so sehr, dass ihre wenigen Zähne aufeinander schlagen, dass sie vor Kälte Schmerzen in den Gliedern bekommen hat. Oder ist es Hunger, den sie seit Tagen nicht mehr gespürt hat. Das Letzte ihres Vorrates ist lange schon aufgebraucht. Das ist gut so, sagte sie sich, dann läuft das Allerletzte schneller ab.

Sie will die Gasröhren im Ofen anzünden. Ihre Hand ritzt geschickt das Streichholz an, gekonnt fährt sie damit einmal an der linken Röhre entlang, dann an der rechten - aus der Backröhre strömt wohlige Wärme. Wie schnell sich die Küche erwärmt! So angenehm, so herrlich ...

Die Wärme macht Mutter Jettchen müde. Sie nickt ein.

Sie weiß gar nicht, wie lange sie auf dem Stuhl geschlafen hat. Sie wird wach, weil die Küche wieder kalt ist.

Mutter Jettchen braucht Zeit, um sich besinnen zu können. Wahrhaftig: vorhin hat sie die Gasröhren angezündet, und jetzt brennen sie nicht mehr! Vorsichtig streckt sie die Hand in die Backröhre. Nichts! Weder links noch rechts spürt sie Wärme. Sie steckt sogar den Kopf hinein – kein Feuer, keine Wärme.

Es gibt kein Gas!

Sie befühlt die Knöpfe am Herd, schaltet hier, dreht da, nichts! Sie prüft den Haupthahn, riecht wieder in die Backröhre hinein – nein, es gibt kein Gas!

Irgendwo sind Reparaturarbeiten nötig geworden, tröstet sie sich. Das kann nicht lange dauern.

Sie wartet, sie prüft abermals – Mutter Jettchen weiß nicht, dass die Kronprinzenstraße gestorben ist. Für diese Häuser wird es nie mehr Gas geben.

Mutter Jettchen befühlt schon lange nicht mehr das Zifferblatt des Blechweckers. Was bedeutet es, wenn ihre Fingerkuppen den Zeiger auf der Sieben finden? Oder auf der zwölf? Von der Zeit will sie nichts mehr wissen. Egal, ob es Morgen oder Abend ist. Völlig egal!