Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Wilhelm Rotthaus


SUIZIDHANDLUNGEN
VON KINDERN UND
JUGENDLICHEN

ERKENNEN, VERSTEHEN, VORBEUGEN

2020


Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim

Umschlaggestaltung und Umschlaggrafik: Nicola Graf, www.nicola-graf.com

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2020

ISBN 978-3-8497-0353-0 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8245-0 (ePub)

© 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten haben, können Sie dort auch den Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

INHALT

VORWORT

1 SUIZIDABSICHTEN ERKENNEN

Begriffliche Klärung

Suizidhandlungen

Doppel- oder Mehrfachsuizide

Suizidalität

Suizidgedanken und Suizidfantasien

Häufigkeit

Geschlecht und Suizid

Risiko- und Schutzfaktoren

Ein ökologisches Risikofaktorenmodell

Selbstverletzung und Suizidalität

Homosexualität und Suizidalität

Sucht und Suizidalität

Schutzfaktoren bei widerstandsfähigen Kindern und Jugendlichen

Der Einfluss von Suggestion und Nachahmung

Der sogenannte Werther-Effekt

Lernen am Modell und Nachahmung

Doppelsuizide und Mehrfachsuizide

Die Bedeutung von Suizidforen im Internet

Erkennen und Einschätzen der Suizidalität

Todeswunsch und Wunsch nach Veränderung der Umwelt

Die Wiederholungsgefahr von Suizidhandlungen

Zeichen einer Entwicklung zur Suizidalität – das präsuizidale Syndrom

Das Stadienmodell der präsuizidalen Entwicklung

Warnhinweise in der Zusammenfassung

Der Teufelskreis der Kommunikation

Merkmale akuter Suizidalität

2 SUIZIDABSICHTEN UND SUIZIDHANDLUNGEN VERSTEHEN

Das Erschrecken über den Wunsch der Jugendlichen, sich das Leben zu nehmen

Die Jugendliche will sterben, zugleich aber auch leben

Die Bezogenheit der Suizidhandlung auf die Familie

Die Suizidhandlung als »cry for change«

Die Bedeutung der Kompetenz- und Kontrollüberzeugung

Rigidität und Erstarrung

Familiäre Konstellationen und Suizidalität

Krankheit als untauglicher Erklärungsansatz

Suizid ist keine Impulshandlung

3 WAS TUN, WENN MEIN KIND SUIZIDGEDANKEN UND SUIZIDABSICHTEN ÄUSSERT?

Auftakt

Das Gespräch mit dem Jugendlichen

Ansprechen der Ambivalenz – sowohl leben als auch sterben wollen

Eine Zukunft ansprechen, in der sich lebenswichtige Dinge geändert haben

Orientierung auf Stärken und Ressourcen

Rekontextualisierung

Förderung des Kontrollerlebens

Förderung des Erlebens von Zugehörigkeit

Die Frage nach dem Sinn des Lebens

Sich nicht zufrieden geben mit dem Anlass

Einen Notfallplan erarbeiten

Suizidwache oder stationäre Aufnahme

»Cry for change« im Beziehungsnetz des Jugendlichen

Erstarrte familiäre Beziehungskonstellationen

Familiengeheimnisse

Symbiotische Verstrickung

Die tödliche Botschaft oder: das überflüssige Kind

Die Alles-oder-nichts-Idee

Schuld- und Verdienstkonten in Familien

NACHWORT

ÜBER DEN AUTOR

Vorwort

Liebe Eltern,

Sie haben dieses Buch wahrscheinlich in die Hand genommen, weil Sie darüber beunruhigt sind, dass Ihre Tochter oder Ihr Sohn Suizidabsichten geäußert oder bereits sogar eine Suizidhandlung begangen hat. Sie fragen sich, wie ernst Sie die Suizidäußerung Ihres Kindes nehmen müssen und wie Sie darauf reagieren sollen. Besonders wenn Ihr Kind bereits eine Suizidhandlung begangen hat, stellen Sie sich die Frage, was Sie tun können, um Ihr Kind vor einem Suizid zu bewahren. In jedem Fall wünschen Sie sich, dass Ihr Kind wieder hoffnungsvoll in seine Zukunft schaut und dass es das Leben und seine Herausforderungen annimmt.

Genau davon handelt dieses Buch. Es ist speziell für Sie als Eltern geschrieben worden. Als Mutter und Vater werden Sie wahrscheinlich als Erste mit den Suizidgedanken Ihres Kindes konfrontiert; manchmal allerdings kommt ein solcher Hinweis zunächst von außen. In jedem Fall ist Ihre elterliche Verantwortung herausgefordert. Zugleich aber stellt sich oft ein Erleben von Rat- und Hilflosigkeit ein. Meist fällt es schwer, ein Suizidhandeln des eigenen Kindes zu verstehen. In dieser Situation soll das Buch für Sie hilfreich sein. Schließlich sind Sie als Eltern die wichtigsten Personen, die die Lebensumwelt Ihres Kindes gestalten und auch viel dazu beitragen können, dass Ihr Kind sein Leben wieder bejaht und mit Zuversicht in seine Zukunft blickt. Allerdings ist das nicht leicht. Denn mit Ermahnungen und guten Ratschlägen oder Hinweisen darauf, dass sich sicherlich bald alles wieder zum Guten wendet, werden Sie nicht viel erreichen können. Handeln Sie vielmehr nach dem Motto von Mahatma Gandhi (1869–1948), der sagte: »Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst in der Welt.« Das heißt: Wenn Sie sich entschließen, selbst in Zukunft einiges anders zu machen, werden Sie gute Chancen haben, die Haltung Ihres Kindes zum Leben positiv zu beeinflussen. In diesem Buch werden Sie viele Anregungen dazu erhalten. Sollten Sie allerdings zu der Überzeugung kommen, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, werden systemische Therapeutinnen und Therapeuten Sie dabei nach Kräften unterstützen, die suizidale Krise zu überwinden und wieder ein harmonisches und lebensbejahendes Familienleben zu gestalten.

 

In dem Buch werden zunächst die verschiedenen Formen von Suizidäußerungen und Suizidhandlungen dargestellt und Risiko- und Schutzfaktoren für das Auftreten von Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen erörtert. Einige wenige Zahlen geben erste Anhaltspunkte für die Wiederholungsgefahr nach Suizidversuchen. Sodann wird dargestellt, an welchen frühen Hinweisen sich eine Entwicklung hin zur Suizidalität erkennen lässt und welche Verhaltensweisen als Warnhinweise zu werten sind. Es folgt die Erörterung von Kriterien, die eine Einschätzung der akuten Gefahr einer Suizidhandlung ermöglichen. Vielleicht sind nicht alle Abschnitte in diesem Teil für Sie von gleicher Bedeutung. Es steht Ihnen frei, die weniger wichtigen zu überspringen.

Im zweiten Teil werden die wissenschaftlichen Befunde dargestellt, die Sie einem Verstehen dieser oft so unbegreiflich erscheinenden Äußerungen und Handlungen näherbringen können. Es wird erörtert, welche grundlegenden Annahmen dabei hilfreich sind und welche Botschaften solche Verhaltensweisen enthalten. Es wird vor dem Versuch gewarnt, ernsthafte und nicht ernsthafte Suizidhandlungen unterscheiden zu wollen, weil davon auszugehen ist, dass jede Suizidäußerung und jede Suizidhandlung einen Kern enthält, der beachtet und verstanden werden muss. Einige wichtige Hintergrundfaktoren werden bereits in diesem Teil angesprochen.

Schließlich wird im dritten Teil zunächst erörtert, mit welchen Maßnahmen Sie als Eltern – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit einer Psychotherapeutin – eine akute suizidale Krise von Kindern und Jugendlichen bewältigen können und wann eine stationäre kinder- oder jugendpsychiatrische Klinikaufnahme als letzte Maßnahme erforderlich ist. Danach werden verschiedene familiäre Konstellationen dargestellt, die Hintergrund für suizidale Krisen von Kindern und Jugendlichen sein können. Daraus werden unterschiedliche Anregungen abgeleitet, die Sie als Eltern befähigen, Ihren Kindern wieder einen sicheren und lebendigen Rückhalt zu gewährleisten, der ihnen neuen Lebensmut gibt und positive Zukunftsperspektiven eröffnet.

Wilhelm Rotthaus Bergheim, im Februar 2020

1
SUIZIDABSICHTEN ERKENNEN
Begriffliche Klärung
Suizidhandlungen

Als suizidale Handlung wird jedes Verhalten bezeichnet, das mit dem Ziel durchgeführt wird, sich selbst das Leben zu nehmen, auch wenn dies nicht gelingt oder aber unterbrochen und nicht zu Ende geführt wird. Ist der Ausgang tödlich, spricht man von Suizid, wird die Handlung überlebt, von Suizidversuch oder auch Parasuizid.

In der älteren Literatur und auch noch im alltäglichen Sprachgebrauch wird häufig der Begriff Selbstmord verwendet. Die Vorstellung aber, dass sich eine Person selbst »ermordet«, d. h. aus niedrigen Beweggründen handelt, erscheint unzutreffend. Denn jeder, der seinem Leben ein Ende setzt, hat subjektiv gute Gründe dafür. Zumindest bei Kindern und Jugendlichen wird man zudem – wie später noch näher erörtert wird – von dem Widerspruch ausgehen müssen, dass das Vorhaben zwar den Tod beabsichtigt, im Grunde genommen aber ein anderes Leben angestrebt wird. Bei ihnen ist noch nicht ein sogenannter Bilanzsuizid zu beobachten, von dem man spricht, wenn ältere oder schwer erkrankte Menschen nach reiflicher Überlegung und Abwägung in einem Weiterleben keinen Sinn und kein erstrebenswertes Ziel mehr sehen. Der Psychiater Klaus Dörner1 (1992) bezweifelt allerdings auch für Erwachsene die Berechtigung, von einem Bilanzsuizid zu sprechen. Seiner Ansicht nach ist und bleibt »der Suizid immer eine soziale Katastrophe, manchmal auch eine psychologisch-psychiatrische. Hätten wir die Lebensbedingungen eines Menschen nach seinen Bedürfnissen geändert, hätte er sich nicht suizidiert.«

Doppel- oder Mehrfachsuizide

Von einem Doppelsuizid oder Mehrfachsuizid wird gesprochen, wenn zwei oder mehrere Personen gemeinsam und mit Zustimmung des jeweils anderen sich das Leben nehmen. Demgegenüber spricht man von einem erweiterten Suizid, wenn das Einverständnis der anderen Beteiligten nicht vorliegt. Dies ist bei einem Amoklauf der Fall, bei dem eine Person zunächst andere Menschen tötet und anschließend Suizid begeht. Häufiger ist der Suizid eines Erwachsenen, der vorweg oder in Tateinheit mit seinem Suizid eine oder mehrere Personen tötet, meist die Partnerin oder den Partner und die Kinder.

Suizidalität

Der Begriff Suizidalität ist weiter gefasst. Er schließt Suizidgedanken, Suizidankündigungen und Suizidpläne mit ein, die als frühe Stadien einer suizidalen Entwicklung auf dem Weg zur Suizidhandlung anzusehen sind. Hilfreich ist dabei die Unterscheidung zwischen einer basalen Suizidalität und dem aktuellen Suizidanlass. Dabei kennzeichnet die basale Suizidalität eine bereits länger bestehende Lebenskrise mit dem Erleben von Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit und immer mal wieder auftretenden Suizidgedanken. Demgegenüber handelt es sich bei dem aktuellen Suizidanlass um ein Geschehen, das sozusagen das Fass zum Überlaufen bringt. Solche Suizidanlässe wie Trennung vom Freund oder von der Freundin, Verlust einer geliebten Person in der Familie, eine besonders schwere Kränkung durch Lehrer und Mitschüler oder Ähnliches werden nach Suizidversuchen häufig berichtet, während die basale Suizidalität meist weniger zugänglich ist.

Suizidgedanken und Suizidfantasien

Suizidgedanken und Suizidfantasien sind im Jugendalter weit verbreitet. Die Variationsbreite von Suizidgedanken im Jugendalter ist hoch und reicht von gelegentlichen Ideen, dass das Leben nicht lebenswert sei, bis zu konkreten Planungen einer Suizidhandlung. Suizidgedanken treten bei etwa 30 % aller Jugendlichen gelegentlich auf. Allerdings muss man davon ausgehen, dass etwa jeder dritte Jugendliche, der mit Suizidgedanken umgeht, tatsächlich einen Suizidversuch begeht. Suizidgedanken kommt damit ein hoher Vorhersagewert für spätere Suizidversuche zu. Die Jugendlichen zeigen zudem sehr häufig psychische Auffälligkeiten, vor allem im Bereich des Selbstwertgefühls, im Bereich depressiven Erlebens und im Bereich externaler Kontrollüberzeugungen. Da sich diese Verhaltensauffälligkeiten zudem über viele Jahre als relativ stabil erweisen, dürfen Suizidgedanken im Jugendalter nicht als ein vorübergehendes Phänomen betrachtet werden. Sie müssen vielmehr zu erhöhter Aufmerksamkeit über eine längere Zeitspanne veranlassen.

Bei Suizidfantasien handelt es sich um Tagträume, die Genugtuung verschaffen. Sie helfen über Enttäuschungen hinweg und dienen dazu, Kränkungen zu kompensieren. Sich beispielsweise die Trauer und Reue von Angehörigen nach dem eigenen Tod vorzustellen, kann das Bewusstsein, geliebt zu werden, wiederherstellen.

Eine solche Situation wird von Marc Twain2 in seinem berühmten Buch Tom Sawyer geschildert. Tom war von seiner Tante Polly mit heftigen Schlägen zu Unrecht bestraft worden, nachdem seinem Halbbruder Sid die Zuckerdose aus der Hand gerutscht und auf dem Boden zerbrochen war.

Tom schmollte in einem Winkel und steigerte sein Leiden ins Unendliche. (…) Er sah sich krank, sterbend auf seinem Bett hingestreckt. Die Tante beugte sich über ihn und flehte händeringend um ein einziges, kleines, armes Wort der Vergebung. Er aber wandte sein Gesicht ab, stumm, tränenlos und starb – starb, und das Wort der Vergebung blieb ungesagt. Was würde sie dann tun? Oder er sah sich, wie man ihn vom Fluss zurückbrachte, tot, mit triefenden Haaren, blassem, stillem Antlitz, endlich Ruhe und Frieden im armen, gequälten Herzen – für immer. Wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen stromweise fließen und sie Gott anrufen, ihren armen Jungen wieder lebendig zu machen, den sie auch nie, nie wieder misshandeln wolle. Er aber läge da, kalt und still, ein armer Märtyrer, dessen Leiden zu Ende sind. – So arbeitete er sich dermaßen in Jammer und Elend hinein, dass er beinahe in Schluchzen ausgebrochen wäre und am Zurückdrängen desselben fast erstickte. Tränen standen in seinen Augen, und alles erschien ihm in einem wässrigen Nebel. Wenn er mit den Augen zwinkerte, kamen die Tropfen langsam die Nase herab und träufelten von der Spitze hernieder. Dabei fühlte er sich so wohl in seinem Schmerz, dass er denselben ängstlich vor der profanen Lust, dem lärmenden Getriebe der Welt da draußen, behütete.

Häufigkeit

Die durch das Statistische Bundesamt erfasste Zahl der Suizide von Kindern und Jugendlichen schwankt in den letzten Jahren nur geringfügig. In der Altersgruppe der 10- bis 15-Jährigen werden 18 bis 20 Fälle aufgeführt. In der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen sind Suizide mit 170 bis 190 Todesfällen seit Jahren die zweithäufigste Todesursache nach den tödlichen Verkehrsunfällen (etwa 30 bis 33 % aller tödlichen Verletzungen). Allerdings dürfte die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen, da es sich bei vielen Unfällen im Jugendalter wahrscheinlich um Suizide handelt. Zudem wird angenommen, dass sich unter den Drogentoten ein nicht unerheblicher Teil von Suiziden versteckt.

Die Suizidrate bei türkischen Jugendlichen in Deutschland liegt insgesamt niedriger als bei deutschen Jugendlichen. Allerdings sind türkische Mädchen unter 18 Jahren besonders gefährdet. Sie haben eine doppelt so hohe Suizidrate im Vergleich zu den deutschen Altersgenossinnen. Als Erklärung wird auf das Vorliegen sozialer und kultureller Konfliktsituationen verwiesen.

Suizidversuche werden in der Adoleszenz und dem jungen Erwachsenenalter häufiger als in höherem Lebensalter durchgeführt. Genaue Zahlen lassen sich dazu kaum angeben, da Suizidversuche nicht systematisch erfasst werden. Fachleute schätzen, dass die Zahl der Suizidversuche von Jugendlichen und Heranwachsenden 10- bis 20-mal höher ist als die der vollendeten Suizide. Danach muss man von 2000 bis 4000 Suizidversuchen Jugendlicher und Heranwachsender pro Jahr in Deutschland ausgehen.

Im Altersbereich unter zehn Jahren wird die Zahl der Suizide mit 0 angegeben. Allerdings dürfte es doch eine ganze Reihe von Suiziden in diesem Alter geben, die jedoch – teils unbeabsichtigt und teils beabsichtigt – als Unfälle deklariert werden. Dennoch ist die Zahl der Suizide im ersten Lebensjahrzehnt sicherlich deutlich niedriger als im zweiten. Als ursächlich dafür wird die engere Beziehung und das größere Vertrauen zu den Eltern bei Kindern dieses Alters angenommen. Die meisten Kinder dieses Alters würden ihren Eltern vertrauen, selbst wenn sie sehr traurig und verzweifelt sind, und hoffen, dass ihre Eltern ihre Lebenssituation ändern und dazu beigetragen werden, dass sie sich besser fühlen.

Geschlecht und Suizid

Männliche Jugendliche und Heranwachsende in der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen nehmen sich fast dreimal so häufig das Leben als gleichaltrige Mädchen und junge Frauen. Demgegenüber führen Mädchen und junge Frauen etwa 10-mal häufiger Suizidversuche aus als Jungen und junge Männer. Diese Diskrepanz hat damit zu tun, dass männliche Jugendliche und Heranwachsende eher zu sogenannten »harten« Methoden greifen wie Erschießen, Erhängen, Sich-vor-den-Zug-Werfen oder einem Sprung aus der Höhe. Mädchen und junge Frauen bevorzugen sogenannte »weiche« Methoden wie Tabletteneinnahme oder Sich-Schneiden. Sie führen ihren Suizidversuch zudem oftmals in der Nähe des Elternhauses aus, sodass die Wahrscheinlichkeit des Auffindens größer ist als bei männlichen Gleichaltrigen, die vielfach entfernter liegende Orte aufsuchen.

 

In diesen Unterschieden spiegeln sich offensichtlich spezielle weibliche und männliche Rollenmuster, die auf geschlechtsspezifische Sozialisationseinflüsse zurückzuführen sind. Mädchen neigen eher zu depressiven Symptomen und einer manchmal auch zerstörerischen Selbstkritik. Nach wie vor bevorzugte Erziehungsziele bei Mädchen sind Anpassung, Hilfsbereitschaft und Toleranz. In den Suizidversuchen der weiblichen Jugendlichen äußern sich häufig stärker ein Appell an die Mitwelt und ein Versuch, auf sich aufmerksam zu machen, in der Hoffnung, damit bestehende Strukturen zu verändern. Jungen dagegen tendieren eher zu nach außen gerichteter Aggression. Bevorzugte Erziehungsziele für Jungen sind Durchsetzungsfähigkeit und Zielstrebigkeit sowie die Idee, der Mann müsse stark sein, dürfe nicht um Hilfe bitten und keine Schwäche zeigen. Ihre Suizidhandlung erscheint in höherem Grade als bewusste Abwendung und radikale Abkehr vom Leben.

Risiko- und Schutzfaktoren
Ein ökologisches Risikofaktorenmodell

In der Regel lassen sich Suizidgedanken und Suizidverhalten Jugendlicher nicht durch einen Risikofaktor allein erklären, sondern durch das Zusammenkommen mehrerer. Als individuelle Risikofaktoren wurden in wissenschaftlichen Untersuchungen Alkohol- und Drogenmissbrauch, Hoffnungslosigkeit sowie körperlicher und sexueller Missbrauch erfasst. Familiäre Risikofaktoren sind das Ausmaß der familiären Unterstützung und die Möglichkeit, notwendige Veränderungen in der Familie herbeizuführen. Als extrafamiliäre Risikofaktoren erwiesen sich soziale Isolation im Sinne eines Mangels an Freunden, eines Fehlens positiver Erfahrungen in der Schule und einer geringen Teilnahme an Freizeitaktivitäten. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde ein ökologisches Risikofaktorenmodell entwickelt und gefolgert, dass es offensichtlich erfolgreicher ist, verschiedene Risikofaktoren gleichzeitig zu beachten, um die Wahrscheinlichkeit von Suizidgedanken und Suizidversuchen zu reduzieren, als auf den wichtigsten Risikofaktor zu fokussieren.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?