Fritz Bauer und das Versagen der Justiz

Text
Aus der Reihe: eva digital
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Bauers Rechtsauffassung

Wie eingangs erwähnt, war Bauer nicht frei von Widersprüchen. Hinsichtlich der NS-Täter vertrat er eine Rechtsauffassung, die mit seiner volkspädagogischen Konzeption der NSG-Verfahren schwer in Einklang zu bringen war. Bauer zufolge war die »Sach- und Rechtslage« in den Prozessen gegen nationalsozialistische Verbrecher »ungewöhnlich einfach«.43 Historische Gutachten steckten den geschichtlichen Rahmen ab, in dem die Angeklagten gehandelt hatten. Das Gesamtgeschehen, die NS-Judenverfolgung und -vernichtung, war durch die Expertisen der Sachverständigen verhandelbarer Prozessstoff. Urkunden – so Bauer in Verkennung der Beweislage zumindest im Fall des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses –, nicht Zeugen, bewiesen Präsenz und Tatbeteiligung der Angeklagten in den Vernichtungszentren.44 Einer weiteren Wahrheitserforschung bedurfte es nach Bauer nicht. Die Angeklagten waren als Angehörige des Tötungspersonals und somit als Mittäter am Massenmord abzuurteilen. Auf der »4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS-Gewaltverbrechen« führte Hessens oberster Ankläger wenige Wochen vor Beginn der »Strafsache gegen Mulka u.a.« aus: Der Auschwitz-Prozess könne »in drei bis vier Tagen erledigt sein«. Seine die Tagungsteilnehmer gewiss überraschende Ansicht begründete Bauer folgendermaßen: »Es gab die Wannseekonferenz mit dem Beschluss zur Endlösung der Judenfrage.45 Sämtliche Juden in Deutschland sollten vernichtet werden. Dazu gehörte eine gewisse Maschinerie. Alle, die an dieser Vernichtung bzw. bei der Bedienung der Vernichtungsmaschine mehr oder minder beteiligt waren, werden daher angeklagt wegen Mitwirkung an der ›Endlösung der Judenfrage‹.«46

Die Massenvernichtung in Auschwitz war nach Bauer als eine Tat im Rechtssinne, als natürliche Handlungseinheit, zu betrachten. Seine Auffassung lässt sich wie folgt reformulieren: Wer kausal an dem Gesamtverbrechen (Haupttat) im Wissen um den Zweck der Mordeinrichtung beteiligt war, lässt sich ohne weitere Zurechnung von nachgewiesenen individuellen Tatbeiträgen als Mittäter qualifizieren. Oder: Wer in Auschwitz eine Funktionsstellung im Vernichtungsapparat innehatte, wirkte mit an einer Tat, nämlich an der Tötung derjenigen Menschen, die in der Dienstzeit des jeweiligen Mittäters in Auschwitz umgebracht worden waren.47

Die prozessökonomische Auswirkung seiner Rechtsauffassung hat Bauer hervorgehoben. Im Rückblick auf das Auschwitz-Verfahren, das nach Einschätzung vieler Prozessbeteiligter zu lange gedauert hatte, meinte er: »Die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit trägt bei den sich in aller Regel über viele Monate, ja Jahre erstreckenden Prozessen zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren wesentlich bei.«48 Erstaunen muss Bauers Auffassung, hinsichtlich der subjektiven Tatseite seien bei den NS-Angeklagten keine weiteren Nachforschungen anzustellen. Der Nachweis ihrer funktionellen Mitwirkung an den Massenmorden war ihm Beweis genug für die Feststellung, sie hätten allesamt in Übereinstimmung mit den sogenannten Haupttätern gehandelt.

Bauers Konzept des kurzen Prozesses mit NS-Tätern stand ersichtlich im Gegensatz zu seinen volkspädagogischen Intentionen. Da die Verfahren – wie bereits dargelegt – »Schule«49 und »Unterricht«50 sein sollten und Lehren zu erteilen hatten, war die Zeugenschaft der Überlebenden, war die Stimme der Opfer für die intendierte Öffentlichkeitswirkung, für den erhofften Aufklärungseffekt fundamental. Wie wenig kompatibel Bauers Prozesskonzept mit seinem Willen zur Menschenrechtserziehung durch NS-Verfahren, zur Re-Demokratisierung der Deutschen war, ist ihm offenbar bewusst gewesen. Den Widerspruch schien er aber nicht auflösen zu wollen. So meinte er im Rückblick auf das Verfahren gegen Mulka u.a. recht paradox: »Der Auschwitzprozeß war gewiß der bisher längste aller deutschen Schwurgerichtsprozesse, in Wirklichkeit hätte er einer der kürzesten sein können, womit freilich nicht gesagt sein soll, daß dies aus sozialpädagogischen Gründen auch wünschenswert gewesen wäre.«51

Fritz Bauers Erwartungen an die aufklärende Wirkung von NSG-Verfahren waren zu groß. Einen nur bescheidenen Beitrag hat die Strafjustiz zur politischen Bildung leisten können. Fraglos aber haben Verfahren wie der Auschwitz-Prozess bei zeitgeschichtlich interessierten Menschen bleibenden Eindruck hinterlassen. Hinweise auf diese Wirkung finden sich immer wieder in lebensgeschichtlichen Angaben von Personen, die Mitte der sechziger Jahre mit Offenheit und Interesse am Zeitgeschehen teilnahmen. Nicht wenige, die einen von eindrücklichen Aussagen der Opferzeugen geprägten, mithin wirkmächtigen Verhandlungstag besuchten oder sich gute und gründliche Prozessberichterstattung in Presse und Hörfunk52 aneigneten, wurden nachhaltig beeinflusst. Ihnen tat – in Bauers Worten – der Prozess die »historische Wahrheit kund« – eine Wahrheit, die viele Leben veränderte.

1 Fritz Bauer, »Antinazistische Prozesse und politisches Bewußtsein. Dienen NS-Prozesse der politischen Aufklärung?«, in: Antisemitismus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft, hrsg. von Hermann Huss und Andreas Schröder, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1965, S. 169.

2 Fritz Bauer, Die Kriegsverbrecher vor Gericht, mit einem Nachwort von H. F. Pfenninger, Zürich: Europa Verlag, 1945, S. 211. Das Werk ist 1944/45 auch auf Schwedisch und Dänisch erschienen.

3 Ebd.

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Fritz Bauer, »Der SS-Staat in Person« (Interview mit Thomas Gnielka), in: Weltbild, Jg. 16, Nr. 3 (13.1.1961), S. 3.

7 Fritz Bauer, »Im Namen des Volkes. Die strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit«, in: Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945–1965. Achtunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten, hrsg. von Helmut Hammerschmidt, München: Verlag Kurt Desch, 1965, S. 302; Nachdruck in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1998, S. 78.

8 Fritz Bauer, »Nach den Wurzeln des Bösen fragen«, in: Die Tat vom 7.3.1964, Nr. 10, S. 12.

9 Ebd.

10 Bauer, Humanität, S. 85.

11 Fritz Bauer, »Zu den Nazi-Verbrecher-Prozessen«, Das politische Gespräch, NDR vom 25. u. 28.8.1963, in: Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben, zur Politik, Wirtschaft und Kultur, Jg. 15 (15.9.1963), H. 18, S. 568 und in: ders., Humanität, S. 110.

12 Fritz Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1965, S. 11.

13 Ebd., S. 27.

14 Bauer, Humanität, S. 83.

15 Siehe Fritz Bauer, »Genocidium (Völkermord)«, in: Handwörterbuch der Kriminologie. Bd. I, 2. Aufl., Berlin: Walter de Gruyter, 1965, S. 272 f.; ders., »Wurzeln des Bösen«, S. 12; ders., »Warum Auschwitz-Prozesse?«, in: Neutralität. Kritische Zeitschrift für Kultur und Politik, H. 6–7 (1965), S. 7 ff.; ders., »Antinazistische Prozesse«, S. 176 ff.; ders., »Kriminologie und Prophylaxe des Völkermords«, in: Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik, Jg. 3 (1967), H. 3, S. 71 ff.; ders., »Kriminologie des Völkermords«, in: Rechtliche und politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse. Kolloquium mit Peter Schneider u.a. Fünf Vorträge von Fritz Bauer u.a., hrsg. von Peter Schneider und Hermann J. Meyer, Mainz 1968, S. 22 ff.

16 Bauer, »Antinazistische Prozesse«, S. 183.

17 Fritz Bauer, »Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart«, in: Vorgänge. Eine kulturpolitische Korrespondenz, Jg. 7 (1968), H. 8/9, S. 291.

18 Fritz Bauer, »Warum Auschwitz-Prozeß?«, in: Konkret, Nr. 3 (März 1964), S. 12.

19 Bauer, »Wurzeln des Bösen«, S. 12.

20 Bauer, »Namen«, S. 310, und ders., Humanität, S. 85.

21 Fritz Bauer, »Im Mainzer Kulturministerium gilt ein merkwürdiges Geschichtsbild«, in: Frankfurter Rundschau vom 14.7.1962, Nr. 161; ebenso in: ders., Wurzeln, S. 67 f.

22 Bauer, »Antinazistische Prozesse«, S. 173.

23 Bauer, Wurzeln, S. 36.

24 Bauer, Kriegsverbrecher, S. 205.

25 Ebd.

26 Siehe hierzu Vasco Reuss, Zivilcourage als Strafzweck des Völkerstrafrechts. Was bedeutet Positive Generalprävention in der globalen Zivilgesellschaft?, Münster, Berlin. Lit Verlag, 2012.

 

27 Bauer, »Warum Auschwitz-Prozeß?«, S. 12.

28 Bauer, Humanität, S. 249 ff.

29 Ebd., S. 55 und S. 90.

30 Ebd., S. 57 und S. 82. Siehe aber auch ebd., S. 73.

31 Fritz Bauer, Auf der Suche nach dem Recht, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung, 1966, S. 198.

32 Bauer, »Antinazistische Prozesse«, S. 175.

33 Ebd., S. 175 f.

34 Mit Blick auf die Aufgaben eines modernen Kriminalrechts führte Bauer aus: Das Verfahren gegen Völkermörder »dient – spezial- und generalpräventiv – der Konfirmierung der materialen Werte, vor allem der Toleranz, die Völkermord ausschließen, und – spezialpräventiv – der Konformierung der Täter mit ihnen.« (Bauer, »Genocidium«, S. 274, ebenso in: ders., Humanität, S. 74)

35 Fritz Bauer, Alternativen zum politischen Strafrecht, Bad Homburg u.a. 1968, S. 5 f.

36 Amos Elon, In einem heimgesuchten Land. Reise eines israelischen Journalisten in beide deutsche Staaten, München: Kindler Verlag, 1966, S. 376.

37 Fritz Bauer, »Fritz Bauer ist tot« [Auszüge aus Privatbriefen Fritz Bauers an Melitta Wiedemann], in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 19 (1968), H. 8, S. 491.

38 Ebd., S. 491. Siehe auch Günter Blau, »Fritz Bauer †«, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 51 (1968), H. 7/8, S. 365. – Siehe hierzu auch Klaus Lüderssen, »Der Auschwitz-Prozess – Geschichte und Gegenwart«, in: Heike Jung, Bernd Luxenburger, Eberhard Wahle (Hrsg.), Festschrift für Egon Müller, Baden-Baden: Nomos Verlag, 2008, S. 431 f.

39 So treffend Miloš Vec in seiner Besprechung von Fritz Bauer, Humanität (M. Vec, »Der Gerichtssaal als Klassenzimmer der Nation«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.2.2000, Nr. 28, S. 14).

40 Fritz Bauer, »Die Strafrechtsreform und das heutige Bild vom Menschen«, in: Die deutsche Strafrechtsreform. Zehn Beiträge von Fritz Bauer, Jürgen Baumann, Werner Maihofer und Armand Mergen, hrsg. von Leonhard Reinisch, München: C. H. Beck Verlag, 1967, S. 22.

41 In westdeutschen NSG-Verfahren wurden circa 170 Angeklagte wegen Mordes verurteilt.

42 Michael Stolleis meinte in einem Interview: »[Bauer] lebte auch im Widerspruch: Bauer kämpfte für ein Strafrecht der Prävention und Resozialisierung. Doch diese Ziele passten nicht auf die NS-Täter. Da gab es keine Prävention, keine Warnung vor künftigen Taten, es gab nichts zu resozialisieren. Also blieben der alte Vergeltungsgedanke und das Rätsel der Gerechtigkeit. Doch es gibt keinen Zweifel: Fritz Bauer hat Enormes geleistet.« (Michael Stolleis im Gespräch mit Matthias Arning, in: Frankfurter Rundschau vom 27.1.2009, Nr. 22, F 2)

43 Bauer, Humanität, S. 83.

44 Siehe ebd., S. 108.

45 Zur Wannsee-Konferenz aus der Sicht der heutigen Forschung siehe das grundlegende Sammelwerk von Norbert Kampe und Peter Klein (Hrsg.), Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Köln u.a.: Böhlau Verlag, 2013.

46 Protokoll der »4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS-Gewaltverbrechen« vom 21.10.1963, Protokoll, S. 22 f. (Hess. Hauptstaatsarchiv, Abt. 503, Nr. 1161).

47 Siehe zu Bauers Rechtsauffassung seinen Aufsatz »Ideal- oder Realkonkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen?«, in: Juristenzeitung, Jg. 22 (1967), Nr. 20, S. 625–628.

48 Ebd., S. 628.

49 Bauer, »Wurzeln des Bösen«, S. 12.

50 Bauer, Humanität, S. 78.

51 Ebd., S. 83.

52 Hervorzuheben sind die Radiosendungen von Axel Eggebrecht (NDR/WDR), der 74 Folgen seiner Sendung »Vergangenheit vor Gericht« (jeweils 15 Min.) und über ein Dutzend »Berichte vom Auschwitz-Prozess« (jeweils 45 Min.) produzierte. Siehe das Hörbuch Aufklärung statt Bewältigung. Tondokumente zur Berichterstattung von Axel Eggebrecht über den ersten Auschwitz-Prozess. Hrsg. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv DRA, 2011.

DER 1. FRANKFURTER AUSCHWITZ-PROZESS. ZWEI VORGESCHICHTEN

NS-Verbrechen aufzuklären und zu ahnden war der deutschen Justiz nach 1945 aufgrund der alliierten Gesetzgebung nur begrenzt möglich. Die deutsche Gerichtsbarkeit erstreckte sich nur auf Verbrechen von Deutschen an Deutschen oder an Staatenlosen. Die Besatzungsbehörden konnten freilich deutsche Gerichte für zuständig für Verbrechen erklären, die Deutsche an Bürgern der überfallenen Staaten begangen hatten. Erst nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war es gemäß Gesetz Nr. 13 des Alliierten Hohen Kontrollrats (1.1.1950) der bundesdeutschen Justiz ohne Einschränkung möglich, auch die gegen Angehörige der alliierten Nationen begangenen NS-Gewaltverbrechen zu verfolgen. Anzuwenden war das deutsche Strafrecht.

Von 1950 an bis zur Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen im Dezember 1958 haben deutsche Staatsanwaltschaften von Amts wegen gegen NS-Täter jedoch nur in wenigen Fällen ermittelt. Lagen keine Anzeigen von Geschädigten und Verfolgten vor, blieben deutsche Strafverfolger untätig. Allein der «Staatsanwalt Zufall«1 war ein gelegendlicher Akteur.

Die bundesdeutschen Verhältnisse Anfang der fünfziger Jahre2 erwiesen sich für eine von einzelnen durchaus geforderte justizielle Aufarbeitung der Vergangenheit als nicht förderlich. Die Entnazifizierung war abgeschlossen, aus ihren Ämtern entfernte Angehörige des öffentlichen Dienstes wurden gemäß dem »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen«3 reintegriert, die in Nürnberg verurteilten »Kriegsverbrecher« waren infolge des ausgebrochenen »Gnadenfiebers«4 vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Nach Ansicht vieler Deutscher war endlich die Zeit gekommen, einen »Schlussstrich« zu ziehen, zumal die Bundesrepublik Deutschland sich ganz anderen Aufgaben als willkommenes und aufstrebendes Mitglied der »freien Welt« zu widmen hatte.

Die Dreistigkeit eines auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst klagenden NS-Täters war es gewesen, die die Situation von Grund auf änderte. Der Prozess vor dem Schwurgericht Ulm/Donau gegen zehn ehemalige Angehörige der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) Tilsit (28.4.1958–29.8.1958)5, verdeutlichte den Verantwortlichen in Bonn, der deutschen Justiz und einer die NS-Vergangenheit nicht länger verdrängenden Öffentlichkeit6, dass die Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen durch die Prozesse der Alliierten und die wenigen Verfahren vor deutschen Gerichten7, noch längst nicht abgeschlossen war. Auf einer Konferenz in Bad Harzburg im Oktober 1958 berieten die Justizminister und -senatoren der deutschen Bundesländer über notwendige Schritte, die NS-Gewaltverbrechen umfassend zu sühnen.

Der vorherrschenden Meinung in der Bevölkerung zuwider, die die Verfolgung und Bestrafung der NS-Täter, die unter ihr als brave, anerkannte und geschätzte Bürger lebten, ablehnte, von Nestbeschmutzung sprach und längst einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen hatte, schlossen die zuständigen Minister und Senatoren eine Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung der Zentralen Stelle. Von den Ländern abgeordnete Richter und Staatsanwälte sollten von Amts wegen die von den nationalsozialistischen Gewalthabern im Ausland in den Jahren 1939 bis 1945 begangenen Verbrechen restlos erfassen. Sobald die Vorermittlungen hinreichende Ergebnisse erbracht hatten, waren die Verfahren an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften zur weiteren Durchführung der Strafverfolgung abzugeben. Die Zentrale Stelle wurde am 1. Dezember 1958 gegründet und stellte nach den Worten ihres ersten Leiters, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle, »ein absolutes Novum in der deutschen Rechtsgeschichte«8 dar.

Die Darstellung der Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses (20.12.1963–20.08.1965), die bereits im Frühjahr 1958 begann, belegt eindringlich, dass ohne die unermüdliche Initiative von überlebenden Opfern und ohne das singuläre Engagement streitbarer Juristen die justizielle Sühne der NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz nicht in Gang gekommen wäre.

Überlebende rührten sich, forschten nach dem Verbleib von Tätern, trugen Namen und Anschriften zusammen, tauschten Informationen aus und sammelten Belastungsmaterial. Beherzte Juristen, dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet, schufen in Zusammenarbeit mit Politikern, die sich ihrer historischen Verantwortung bewusst waren, die rechtspolitischen Voraussetzungen, leiteten umfassende Ermittlungen ein, um bislang unerforschte Tatkomplexe aufzuklären und die strafrechtliche Schuld der an Massenverbrechen Beteiligten zu beweisen. Der politischen Bedeutung und erzieherischen Wirkung solcher Prozesse eingedenk, war es den Initiatoren der Verfahren ein wichtiges Anliegen, im Rahmen eines Strafprozesses Aufklärung über die Vergangenheit zu leisten, einen Beitrag zur politischen Bildung zu erbringen.

Durch die NSG-Verfahren in den sechziger Jahren leistete die deutsche Strafjustiz in Form der Anklageschriften und der Schwurgerichtsurteile, die allesamt ausführliche, quellengestützte allgemeine Teile enthielten, sowie durch die in der Beweisaufnahme durch die Vernehmung von Opfern und SS-Zeugen erbrachten historischen Erkenntnisse, was die Zeitgeschichtsforschung hierzulande versäumt hatte: Aufklärung über den Mord an den europäischen Juden.

In Auschwitz taten von April 1940 bis Januar 1945 insgesamt etwa 8.000 SS-Angehörige Dienst.9 Sie bewachten die Häftlinge, verwalteten und leiteten das Stammlager, das Vernichtungslager Birkenau, das Lager Buna/Monowitz und nahezu 40 Nebenlager, saßen in Nebenstellen der SS-Zentralämter und waren in SS-eigenen Betrieben10 tätig. Allesamt leisteten sie unterschiedliche Tatbeiträge zum Gesamtgeschehen, waren Teil der Todesmaschinerie. Am Ende des Krieges lebten noch schätzungsweise 6.000 Mitglieder der SS-Besatzung von Auschwitz.11

Erste Vorgeschichte: Die Anzeige gegen Wilhelm Boger

Gegen einen gewissen Wilhelm Boger, vormals SS-Oberscharführer und Angehöriger der Politischen Abteilung des Lagers Auschwitz, erstattete der in der Landesstrafanstalt Bruchsal wegen Betrugs einsitzende ehemalige Auschwitz-Häftling Adolf Rögner mit Schreiben vom 1. März 195812 an die Staatsanwaltschaft Stuttgart Strafanzeige wegen Mordes. Rögner, von Mai 1941 bis Januar 1945 »als krimineller Vorbeugungshäftling«13 (Häftlings-Nr. 15.465) in Auschwitz inhaftiert, machte in seinem Schreiben betr. »Freigabe vom Medikamenten u.a.« Angaben über angebliche strafbare Handlungen Bogers, über seine Inhaftierung im War Crimes Camp 29 in Dachau, seine Flucht aus einem Überstellungstransport nach Polen, nannte Wohnsitz und Arbeitsplatz Bogers, erbat eine Vernehmung zur Sache, stellte »Beweise u. Zeugen« in Aussicht und verwies die Ermittlungsbehörde darauf, das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) in Wien (Rögner gab die Anschrift Hermann Langbeins an) und der »Zentralrat der deutschen Juden« (Düsseldorf-Benrath) könnten Beweismaterial gegen Boger zur Verfügung stellen.

 

Die Persönlichkeit des Anzeigeerstatters, der sich zum Zeitpunkt der Anzeige einer Anklage wegen Meineides und uneidlicher Falschaussage ausgesetzt sah und in der Vergangenheit wiederholt Anzeigen nicht nur gegen ehemalige SS-Angehörige, sondern auch gegen Vollzugs- und Polizeibeamte erstattet hatte, ließ es der Stuttgarter Strafverfolgungsbehörde geboten erscheinen, die Strafanzeige mit Vorsicht14 zu behandeln. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wandte sich mit Schreiben vom 17. März 195815 bzgl. der »Anzeigensache gegen einen gewissen Boger« (Az.: 16 Js 1273/58) an die Stuttgarter Kriminalpolizei mit der Bitte, »unauffällige Vorermittlungen hinsichtlich der Person und der Vergangenheit des […] Boger durchzuführen«.16 Mit Schreiben vom 10. April 195817 teilte die Kripo der Ermittlungsbehörde mit, bei dem Beschuldigten handele es sich um den »verh. kaufm. Angestellten Wilhelm Boger […] wohnh. Hemmingen Krs. Leonberg«. Boger sei, wie Rögner in seinem Schreiben zutreffend angegeben hatte, »Angestellter bei der Fa. Heinkel, Motorenwerke, Stgt.-Zuffenhausen« und sei »SS-Oberscharführer in Auschwitz« gewesen. Den Hinweisen Rögners auf zu erbringende Beweise und zu stellende Zeugen durch das IAK und den Zentralrat der Juden ging der sachbearbeitende Staatsanwalt Rolf Weber zunächst nicht nach. Erst mit Schreiben vom 18. August 195818 wandte er sich an den Zentralrat. Das IAK, als Vereinigung von nationalen Auschwitzer Lagergemeinschaften fraglos eine wichtige Quelle, ersuchte die Staatsanwaltschaft nicht um Mitarbeit bei den eingeleiteten Ermittlungen gegen Boger. Offenbar erschien der Strafverfolgungsbehörde eine Zusammenarbeit mit einer Organisation, die als von Kommunisten beherrscht galt, inopportun.

In einem acht Seiten umfassenden Schreiben Rögners vom 30. März 195819 an die Stuttgarter Ermittler lieferte der Anzeigeerstatter weitere wichtige Hinweise. Rögner zählte über ein Dutzend SS-Angehörige auf, die sich Verbrechen schuldig gemacht hätten. Er nannte u.a. die späteren Angeklagten im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess Josef Klehr und Hans Stark und erstattete Strafanzeige gegen die benannten SS-Leute.

Der Stuttgarter Sachbearbeiter sah sich aber nicht gehalten, Fahndungsmaßnahmen gegen die von Rögner benannten, des vielfachen Mordes verdächtigten Personen einzuleiten. Eine Ausdehnung des Verfahrens auf weitere SS-Angehörige von Auschwitz, ein Sammelverfahren, war zunächst nicht beabsichtigt. Hinweise auf Anstrengungen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, Zeugen für strafbare Handlungen Bogers zu ermitteln, finden sich in den Akten nicht. Staatsanwalt Weber hielt einem Vermerk vom 13. Mai 1958 zufolge erst zwei Monate nach Eingang der Strafanzeige Rögners Vortrag bei seinem Behördenleiter. Selbst suchte er den Anzeigeerstatter zur Vernehmung nicht auf, er ordnete vielmehr mit Billigung seines Vorgesetzten eine Dienstreise eines Gerichtsreferendars zur Landesstrafanstalt Hohenasperg an, in die Rögner krankheitshalber von Bruchsal überstellt worden war. Die Vernehmung, so hielt Weber fest, »war erforderlich, weil einerseits der Anzeigeerstatter nach sicherer Erkenntnis aus vorangegangenen Anzeigen ein geltungssüchtiger Psychopath ist und aber andererseits seine Anzeige gegen Boger nach der Bedeutung der Anschuldigung nicht von der Hand gewiesen werden kann, sondern sorgfältige Ermittlungen erfordert«.20

Rögner wurde endlich am 6. Mai 195821 vernommen. Aus dem der Vernehmungsniederschrift vorangestellten Bericht des Gerichtsreferendars geht hervor, wie schwierig sich die Vernehmung gestaltete. Das sieben Seiten umfassende Protokoll mit fünf Anlagen enthielt wiederum zahlreiche Namen von Auschwitzer SS-Personal. Neben dem bereits benannten Stark u.a. die Namen »Rottenf. Pery Broad, Brasilianer, lebt vermutlich in Braunschweig« und »Unterscharf. Dylewski – lebt in Krefeld«. Allesamt saßen sie später auf der Frankfurter Anklagebank.

Von der Ermittlungsbehörde nicht um Hilfe gebeten, wandte sich der Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, Hermann Langbein, von Rögner über die Anzeige informiert, mit Schreiben vom 9. Mai 195822 an die Staatsanwaltschaft Stuttgart, bekräftigte die gegen Boger vorgebrachten Tatvorwürfe und bot die Mitarbeit seiner Organisation an. Mit Schreiben vom 21. Mai 195823 bat die Staatsanwaltschaft das IAK um Mitteilung von Erkenntnissen über den Beschuldigten Boger. Langbein bestätigte in seinem Antwortschreiben24 wenige Tage später, der Beschuldigte Boger sei dem IAK bekannt, übersandte in der Anlage eine persönliche Aussage25 im Fall Boger und fragte an, ob sich der Beschuldigte bereits in Untersuchungshaft befinde. Mit Hinweis auf drohende Fluchtgefahr machte Langbein die Verhaftung Bogers zur Bedingung für die in Aussicht gestellte Kooperation des IAK.

Langbeins Forderung, erst Boger in Untersuchungshaft zu nehmen und dann Zeugen zu benennen, die beweiskräftige Aussagen über den Beschuldigten machen könnten, erschwerte die Arbeit der Verfolgungsbehörde erheblich. Die ausbleibende Antwort der Ermittlungsbehörde, die keine rechtsstaatliche Handhabe sah, Boger in Haft zu nehmen, veranlasste Langbein, sich mit Schreiben vom 9. Juli 195826 erneut an die Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis zu wenden, dass Boger in Auschwitz »eine Vielzahl von Morden begangen« habe und erbat Mitteilung, ob sich der Beschuldigte »in Haft« befinde. Die Staatsanwaltschaft, die trotz der Aussage Langbeins und seiner Bestätigung der von Rögner vorgebrachten Tatvorwürfe keinen dringenden Tatverdacht erblickte und deshalb von einem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls absah, ersuchte das IAK ungeachtet der von Langbein aufgestellten Bedingung mit Schreiben vom 15. Juli 1958 »um Übersendung« von »Unterlagen (Anschriften u. Aussagen von Zeugen über die Straftaten des Boger)«, um nach »Prüfung des Beweismaterials, erforderlichen Falls Haftbefehl gegen Boger erlassen zu können«.27

Über die Zögerlichkeit der Stuttgarter Staatsanwälte äußerst befremdet, betonte Langbein mit Schreiben vom 27. Juli 195828 abermals, das IAK wolle erst dann einen Zeugenaufruf an ehemalige Auschwitz-Häftlinge veröffentlichen, wenn Boger in Haft sei. Zur Unterstützung der Ermittlungsmaßnahmen legte er seinem Schreiben ein Foto Bogers bei.

Langbeins Weigerung29, Zeugen zu benennen und Belastungsmaterial zur Verfügung zu stellen, verdeutlicht die Beweisschwierigkeiten der Stuttgarter Ermittler, die ihrerseits keine Anstalten machten, Beweismittel herbeizubringen.

Auf Ersuchen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft vom 2. August 195830 vernahm das Landeskriminalamt Baden-Württemberg Rögner am 19. August 1958 in der Landesstrafanstalt Bruchsal.31 Rögner bezeugte in seiner zweiten Vernehmung abermals die angebliche Täterschaft von Hans Stark, Klaus Dylewski, Josef Klehr und anderen SS-Angehörigen, er benannte darüber hinaus als Zeugen (mit Angabe der Anschrift) die Auschwitz-Überlebenden Emil Behr32, Arthur Balke33, Hugo Breiden34 und Hermann Distel.35 Rund drei Wochen vergingen, bis Staatsanwalt Weber die polizeiliche Vernehmung der benannten Zeugen in Auftrag gab.

Die Notwendigkeit einer teilweisen Kooperation offenbar erkennend, übersandte Langbein mit Schreiben vom 30. August 195836 an die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Übersetzung eines auf den September 1944 datierten Kassibers der Internationalen Widerstandbewegung37 in Auschwitz, in dem der Beschuldigte Boger genannt sei, Kopien des Bunkerbuchs38, veröffentlicht in Hefte von Auschwitz 1 (poln. Ausg.; die dt. Ausg. erschien erstmals 1959), sowie die Namen und Anschriften von ehemaligen Auschwitz-Häftlingen, die aus eigenem Wissen über Boger aussagen könnten: Arthur Hartmann39, Ludwig Wörl40, Henryk Bartoszewicz41, Eryk Stanisław Pawliczek42 und Stanisław Kaminski. Darüber hinaus ergänzte Langbein seine Aussage vom 29. Mai 195843 und kündigte an, bald in Stuttgart zu sein und bei der Staatsanwaltschaft »in der Angelegenheit Boger« vorsprechen zu wollen.

Am 5. September 1958 bemühte sich Staatsanwalt Weber erstmals um die Herbeischaffung von Beweismitteln durch Vernehmung der genannten Zeugen. Er erteilte der Kriminalpolizei von Kiel und München den Auftrag, die von Langbein benannten Zeugen Hartmann und Wörl polizeilich zu vernehmen. Den Hinweisen von Rögner auf die Zeugen Behr, Balke, Breiden und Distel ging der Staatsanwalt erst am 11. September 1958 nach. Wenige Tage vor seinem Besuch in Stuttgart, am 3. September 1958, stellte Langbein eine eidesstattliche Erklärung des in Österreich wohnhaften Josef Rittner44 zur Verfügung und nannte als weiteren Zeugen die Auschwitz-Überlebende Orli Wald45, deren Vernehmung der Stuttgarter Staatsanwalt umgehend in Auftrag gab.

Langbein, ob des aus seiner Sicht überaus zögerlichen Vorgehens der Ermittlungsbehörde nicht wenig verwundert, wurde am 9. September 1958 wie angekündigt bei Staatsanwalt Weber vorstellig. Während seiner Vorsprache benannte er als weiteren Zeugen Paul Leo Scheidel.46 In einem Vermerk47 zwei Tage nach der Begegnung mit Langbein hielt Staatsanwalt Weber fest, der IAK-Generalsekretär habe sich »in unsachlicher Kritik an den Ermittlungsmaßnahmen« ergangen, die Weber »in gebührender Weise« aber zurückgewiesen habe. Langbeins Intervention zeigte gleichwohl Wirkung. Am Tag der Abfassung des Vermerks, in dem Weber auch festhielt, Langbein habe sich »offenbar […] anschließend beschwerdeführend an das Ministerium gewandt«48, beauftragte er, wie erwähnt, die Kriminalpolizei in Karlsruhe, Esslingen, Frankfurt am Main, Hannover und München, die von Rögner in seiner Vernehmung vom August 1958 benannten Zeugen (Behr, Balke, Distel und Breiden) sowie die von Langbein angegebenen Zeugen (Wald und Scheidel) zu vernehmen und fuhr endlich selbst nach Bruchsal, um Rögner zu befragen und ihn um die Herausgabe von Belastungsmaterial gegen Boger zu bitten. Da Rögner die Unterlagen nicht zur Verfügung stellen wollte, ließ sie Weber kurzer Hand beschlagnahmen.49 Die Vernehmung der von Rögner benannten Zeugen Balke (19.9.1958), Distel (22.9.1958) und Behr (22.9.1958) erbrachte keine den Beschuldigten Boger belastenden Aussagen. Keiner der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge kannte den ehemaligen Angehörigen der Politischen Abteilung. Erst die Vernehmung von Scheidel (24.9.1958) begründete den für den Antrag auf Haftbefehl erforderlichen dringenden Tatverdacht. Mit Schreiben vom 21. September 195850, das Langbein an Oberstaatsanwalt Robert Schabel persönlich richtete und das nicht zu den Hauptakten genommen wurde, rekapituliert der Auschwitz-Überlebende seine Korrespondenz mit der Staatsanwaltschaft und bemängelt eingehend die aus seiner Sicht unzureichenden Ermittlungsmaßnahmen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?