Fritz Bauer und das Versagen der Justiz

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FRITZ BAUER ZUM ZWECK DER NS-PROZESSE

Mithilfe der Strafjustiz, durch Prozesse gegen NS-Verbrecher, wollte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) einen Beitrag zur politischen Aufklärung und Bewusstseinsbildung, zur Wissensvermittlung und Reeducation in der Bundesrepublik Deutschland leisten. Bauer ging es dabei weniger um die Vergangenheit als um die bundesdeutsche Gegenwart und Zukunft. In einer Zeit grassierender Schlussstrichmentalität tat er sich mit seinem Vorhaben freilich recht schwer. Um zu begründen, warum Verfahren gegen NS-Täter circa 20 Jahre nach der Tat noch zu führen seien, verwies Bauer nicht allein auf das Legalitätsprinzip, wenn er einer wenig ahndungswilligen Justiz und einer abgeneigten Öffentlichkeit Anfang der 1960er Jahre eine Antwort auf die viel gestellte Frage zu geben versuchte. Das deutsche Recht transzendierend war Bauer der Auffassung, die von ihm geltend gemachte »Opportunitätsmaxime«1 stelle keinesfalls einen Rechtsverstoß dar, Nützlichkeitserwägungen seien im Fall der präzedenzlosen NS-Verbrechen durchaus legitim.

Bereits vor dem herbeigesehnten Sieg über Nazi-Deutschland stellte der Exilant Bauer volkspädagogische Überlegungen an, wie Hitlers Gefolgsleute, die gleichsam aus der zivilisierten Welt gefallen waren, wieder in die Menschengemeinschaft zurückzuführen seien. In seinem in Schweden verfassten Werk Die Kriegsverbrecher vor Gericht legte er – durchaus im Stile eines Praeceptor Germaniae – mit Entschiedenheit dar: »Das deutsche Volk braucht eine Lektion im geltenden Völkerrecht. […] Die Prozesse gegen die Kriegsverbrecher können Wegweiser sein und Brücken schlagen über die vom National-Sozialismus unerhört verbreiterte Kluft«2 zwischen den Deutschen und den Völkern, die unter dem NS-Regime gelitten hatten beziehungsweise am opferreichen Krieg gegen Hitler-Deutschland beteiligt gewesen waren. Die Prozesse »können und müssen dem deutschen Volk die Augen öffnen für das, was geschehen ist[,] und ihm einprägen[,] wie man sich zu benehmen hat«.3

Bauer brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, »das deutsche Volk« werde aus Einsicht in die eigene so überaus desolate moralische Verfassung nach dem verschuldeten und verlorenen Krieg und angesichts der verübten Massenverbrechen »das Schwert des Krieges mit dem Schwert der Gerechtigkeit«4 vertauschen. Mit der ihm eigenen Emphase meinte der Patriot Bauer: »Ein ehrliches deutsches ›J’accuse‹ würde das ›eigne Nest nicht beschmutzen‹ (es ist schon beschmutzt und die Solidarität mit den Verbrechern würde es noch mehr beschmutzen). Es wäre ganz im Gegenteil das Bekenntnis zu einer neuen deutschen Welt«, einem – und Bauer zitiert Johann Gottlieb Fichte – »wahrhafte[n] Reich des Rechts«, das sich auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gründet.5

In Strafverfahren gegen NS-Täter ging es Bauer erklärtermaßen nicht um Tatsühne und Schuldvergeltung.6 Zweck der Strafprozesse war vielmehr, Lernprozesse bei den Deutschen anzustoßen, der Selbstaufklärung zu dienen, den Deutschen einen »historischen, rechtlichen und moralischen Unterricht«7 zu erteilen. Die Verfahren sollten auf die vom Nazismus infizierten Deutschen einwirken, gegen totalitäre Anfechtungen immunisieren, für den Kampf um die Menschenrechte sensibilisieren, Zivilcourage lehren. Im Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen (Bauer stand ganz und gar in der Tradition von Lessing und Schiller), in der Hoffnung auf Ein- und Umkehr der Deutschen, hatten die Prozesse – selbstverständlich streng nach Recht und Gesetz, aber auch öffentlichkeits- und medienwirksam durchgeführt – den Deutschen »Schule«8 und »Unterrichtsstunde«9 zu sein. Notwendige »Lehren«10 hatten die Deutschen zu ziehen, sollte dem (west-)deutschen Volk, dem die Sieger (und Befreier) eine noch instabile Demokratie beschert hatten, eine Zukunft in Freiheit und Frieden beschieden sein. Bauers Vorhaben gründete sowohl auf seiner schonungslosen Analyse des Naziregimes und dessen in der Bundesrepublik sich wiederfindenden Anhängerschaft als auch auf der ihn quälenden Sorge um Deutschlands Gegenwart und Zukunft.

Bauers Diagnose

Nach Bauers tiefster Überzeugung gab es »in Deutschland nicht nur den Nazi Hitler und nicht nur den Nazi Himmler. Es gab Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen ist, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen, sondern weil es ihre eigene Weltanschauung war, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben. Und die Mehrzahl der SS war nicht bei der SS, weil sie gezwungen war, sondern sie war bei der SS, und sie war bei der Wachmannschaft im Lager Auschwitz und in Treblinka und Ma[j]danek, und die Gestapo war in aller Regel bei den Einsatztruppen [sic], weil die Leute ihren eigenen Nationalsozialismus verwirklichten.«11 Die Deutschen waren für Bauer mithin kein verführtes und irregeleitetes, kein verantwortungsfreies und entschuldigtes Volk. Ihm zufolge war der Nazismus »eine Bewegung im deutschen Volke«12 gewesen, möglich geworden durch Obrigkeitsdenken, Untertanengesinnung, Jasagertum, Kasernenhofmentalität, Gesetzesfrömmigkeit, Staatsvergottung und Machtverherrlichung. Die in den NS-Verbrechen zum Ausdruck gekommenen Einstellungen, Denkweisen und Geistesverfassungen, für Bauer die unbedingt auszureißenden »Wurzeln« des Nationalsozialismus, reichten weit in die Geschichte zurück. Moral und Humanität, Freiheit und Autonomie, Selbstverantwortung und Gewissen waren den Deutschen, die nach Bauer einen verhängnisvollen Sonderweg eingeschlagen hatten, abhanden gekommen. Nicht der Mensch als Ebenbild Gottes – so der bibelfeste Justizjurist – stand im Fokus des Handelns der Deutschen, sondern die seelenlose Sache. Nicht die Menschenwürde war handlungsleitend, Sachanbetung13 bestimmte vielmehr ihr Tun und Lassen. Toleranz, Zivilcourage, Widerständigkeit, Grundrechtssensibilität, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Mitleid, Brüderlichkeit und Nächstenliebe galt es sich anzueignen, zu erlernen. Aus seiner Deutung des Nazismus und der konstatierten, aus geteilten Überzeugungen sich konstituierenden Gefolgschaftstreue der Volksgenossen schloss Bauer, die Deutschen seien in strafrechtlicher und tatsächlicher Hinsicht alles andere als ein Volk von Gehilfen gewesen.

Die in NS-Prozessen häufig thematisierte Frage, ob bei den Angeklagten Täterschaft oder Teilnahme vorliege, war nach den Ergebnissen von Bauers Ursachenforschung eindeutig zu beantworten. Die Tatbeteiligten in den Konzentrations- und Vernichtungslagern und die Angehörigen der Einsatzgruppen waren ihm zufolge allesamt eifrige, gläubige Nazis gewesen, hatten sich Hitlers Überzeugungen zu eigen gemacht, den Mord an den europäischen Juden als eigene Tat gewollt, ließen sich mithin strafrechtlich durchweg als Mittäter qualifizieren.14

Bauer entwickelte eine eigene Völkermord-Tätertypologie, die er in mehreren Texten darlegte. Insgesamt fünf Tätertypen machte er aus: Neben den »Fanatikern« und »Gläubigen«, die die Ideologeme der verbrecherischen Staatsführung teilten, unterschied er die »Formalisten« und »Blindgehorsamen«, für die Gesetz Gesetz sowie Befehl Befehl seien, ungeachtet der Frage, ob nicht durch die befohlene Tatausführung übergesetzliche Normen verletzt, menschenrechtswidrige Handlungen ausgeführt, gesetzliches Unrecht praktiziert werden. Weiter führte Bauer als dritte Gruppe die »Nutznießer« und »Opportunisten« an, denen Ideologie und Weltanschauung gleichgültig, das persönliche Fortkommen und die berufliche Karriere hingegen vorrangig seien. Personen, die einer dieser drei Gruppen zuzuordnen waren, erachtete Bauer als Täter bzw. Mittäter. Hinsichtlich der Gruppe der »missbrauchten Werkzeuge«, die unter Befehlszwang und in Befehlsnot handelten, und der fünften Gruppe, der »Mitläufer« und »Zuschauer«, legte Bauer weniger strenge Maßstäbe an. Die befehlsabhängigen Handlanger, die bloßen Instrumente der verbrecherischen Politik, qualifizierte er als Tatbeteiligte, bei denen Milderungsgründe ins Feld zu führen waren. Die Mitglieder der fünften Gruppe waren Bauer zufolge mehr als 15 Jahre nach der Tat strafrechtlich nicht mehr zu belangen.15

NS-Prozesse und ihre Lehren

Über Sinn und Zweck der NS-Prozesse äußerte sich Bauer häufig. In wiederholten Anläufen machte er angesichts der Abwehrhaltung vieler Deutscher den offensichtlich dringlichen Versuch, die Westdeutschen von der politisch-moralischen Bedeutung und dem sozialpädagogischen Nutzen der Verfahren zu überzeugen. Die Notwendigkeit, einer geschichtsvergessenen und vergangenheitsimmunen Öffentlichkeit die Wichtigkeit der unpopulären Prozesse erklären zu müssen, war Bauer schmerzlich bewusst. So meinte er zum Beispiel: »Wenn die Prozesse einen Sinn haben, so ist es die unumgängliche Erkenntnis, daß Anpassung an einen Unrechtsstaat Unrecht ist. Wenn der Staat kriminell ist, weil er die Menschen- und Freiheitsrechte, die Gewissensfreiheit, das Recht auf eigenen Glauben, auf eigene Nation und Rasse, das Recht auf eigenes Leben systematisch verletzt, ist Mitmachen kriminell.«16 Und mit Blick auf sein Anliegen, Recht und Pflicht zum Widerstand zu legitimieren: »Unsere Strafprozesse gegen NS-Täter beruhen ausnahmslos auf der Annahme einer […] Pflicht zum Ungehorsam. Dies ist der Beitrag dieser Prozesse zur Bewältigung des Unrechtsstaates in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese pädagogische Aufgabe wird gern übersehen.«17

Als der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess bereits vier Monate andauerte, schrieb Bauer: »Die Prozesse sind als das Bekenntnis einer neuen Generation […] zu Wert und Würde eines jeden Menschen gedacht.«18 Dabei wusste er freilich allzu gut, dass die »bittere Medizin«19, die »bittere Arznei«20, die die Schwurgerichtsverfahren gegen NS-Verbrecher bedeuteten, von den Wohlstandsbundesbürgern nur widerstrebend eingenommen werden würde. »›Bewältigung unserer Vergangenheit‹ heißt Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt, wo immer sie gelehrt und verwirklicht wurden und werden. Ich sehe darin nicht […] eine Beschmutzung des eigenen Nestes; ich möchte annehmen, das Nest werde dadurch gesäubert.«21

 

Bauers in volkspädagogischer Absicht gehegten Erwartungen an die NSG-Verfahren waren groß. Die bewusstseinsbildende Funktion der Prozesse über alle strafrechtliche Zwecke hinaus betonte er fortwährend. So führte er Anfang 1964 in einem Vortrag auf Einladung der Deutsch-Israelischen Studiengruppe an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main aus: Die Prozesse müssten »die Frage nach dem Warum aufwerfen, denn ohne Antwort auf das Warum, nach den Wurzeln des Bösen, nach den Wurzeln des Kranken gibt es kein Heil und keine Heilung«.22 Bauer forderte deshalb von den Deutschen einen »harten Willen zur Wahrheit«23, eine schonungslose Selbsterforschung, eine Ätiologie des den Deutschen inhärenten Bösen.

Bauers instrumentalistische Sicht der NS-Prozesse wird erkennbar, wenn man seine Ausführungen zu einem humanen (kommenden) Strafrecht, zu einem Recht der Menschenbehandlung, im Vergleich zu seinen Ausführungen hinsichtlich der NSG-Verfahren betrachtet. In NS-Prozessen kam es ihm vorrangig darauf an, die Tat festzustellen, das Verbrechen aufzuklären, die menschenrechtsverletzende Handlung darzulegen, um aus der Erkenntnis des Fehlverhaltens der Akteure, auch aus dem Eingeständnis des begangenen Unrechts, Lehren ziehen zu können. Der Täter in NS-Prozessen war nach Bauer von nachgeordneter Bedeutung. In seinem Buch Die Kriegsverbrecher vor Gericht führte er bereits unmissverständlich aus: Die Angeklagten in den bevorstehenden Kriegsverbrecher-Tribunalen spielten »nur die Rolle eines Mittels zum Zweck«, der vor Gericht stehende Kriegsverbrecher diene »einem höheren Ziel«.24 Bauer ging es weniger um die Täter und deren nachfolgende Behandlung als »um das Verbrechen als solches und die Aufrechterhaltung der Normen, die die Gemeinschaft zum Schutz ihrer Existenz und Entwicklung aufgestellt hat. Die Wirklichkeit dieser Normen, das geltende Recht, muss unterstrichen werden.«25 Durchaus modern sprach sich Bauer für den Strafzweck der positiven Generalprävention aus.26

Obschon der Fokus auf Tatfeststellung und -aufklärung lag, begriff sich Bauer auch im Falle der NS-Verbrecher als moderner Kriminalpolitiker. Neben seinem vorrangigen Anliegen, den Deutschen durch NS-Prozesse »die historische Wahrheit kund«27 zu tun, erhoffte er sich bei den verurteilten NS-Verbrechern in sozialtherapeutischer Absicht eine Wandlung zum Besseren. Explizit hat sich Bauer zum Zweck der Strafe in NS-Prozessen nicht geäußert. Strafe als Sühne für Tatschuld lehnte er als schlechte Metaphysik ab. Das Schuldprinzip, das Willensfreiheit voraussetze, verwarf er vehement. Das Vergeltungsprinzip war ihm ein inhumanes Relikt autoritären, vordemokratischen Denkens.28 Wichtig in NS-Prozessen erschien Bauer nicht das Strafmaß, sondern die richterliche Qualifizierung der Angeklagten als verantwortliche Täter eines Unrechtsstaats, die für ihre Beteiligung an den Verbrechen aus erzieherischen Gründen einzustehen hatten. Die Pflicht zum Nein, zur Verweigerung der Mordbefehle, hatten sie nicht gefühlt.29 Ihr Gewissen, Bauer zufolge eine gleichsam naturgegebene Stimme30 in jedem Menschen, hatte sich nicht gerührt. Bauer war sich freilich bewusst, dass bei Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung (täterschaftliche, konsensuale Mitwirkung an einer Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit) alle Angeklagten in den NS-Mordprozessen zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen waren. Da sich in seinen Schriften Gegenteiliges nicht finden lässt, muss er wohl der Auffassung gewesen sein, es handele sich bei dieser prozessual notwendigen Rechtsfolge um ein gerechtes Urteil, ein vom NS-Verbrecher notwendig zu erleidendes Übel.

Als Verfechter eines humanen Rechts der sozialtherapeutischen Behandlung der Delinquenten war der Kriminalpolitiker Bauer naheliegenderweise der Ansicht, auch NS-Täter – meist erst 15 Jahre nach der Tat vom unauffälligen, sozial angepassten Bundesbürger zum Angeklagten in Mordprozessen geworden – müssten im Zuchthaus, in dem sie nach geltendem, antiquiertem Recht ihren Freiheitsentzug abzusitzen hatten, Gegenstand resozialisierender Maßnahmen sein. Nur diesen Zweck erachtete Bauer als eine Rechtfertigung der notwendig zu verhängenden Strafe, dieses fundamentale Prinzip humanen Strafens galt es auch bei Angeklagten in NSG-Verfahren zu beachten. Eine Verwahrung der NS-Täter zum Schutz der Gesellschaft machte er angesichts der mangelnden Gefährlichkeit der gealterten NS-Täter für die bundesdeutsche Demokratie nicht geltend.

Als Antwort auf seine Kritiker, die ihm widersprüchliche Auffassungen vorhielten, meinte Bauer: »Als Beispiel nicht resozialisierungsbedürftiger Täter werden häufig die nazistischen Gewaltverbrecher genannt. Die Argumentation ist jedoch schwer verständlich. Es gibt so gut wie keinen unter diesen Mördern, der sich zu dem Unrecht bekannt hätte, das er mit anderen zusammen beging. In den Prozessen, in denen es an belastenden Dokumenten und Zeugen nicht gefehlt hat und ein Geständnis ihre prozessuale Situation nicht erschwert, sondern eher erleichtert hätte, fehlte es häufig an jedem Respekt vor den überlebenden Opfern der Grausamkeiten. Viele der Täter sind weit davon entfernt, die Grundwerte unseres Staates, vor allem die Menschenwürde aller, die Gleichheit eines jeden ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen in Wort und Tat zu bejahen. Ohne dies ist aber eine Anpassung an unsere Gesellschaft noch nicht erfolgt.«31

Auf den häufig gegen Bauer erhobenen Einwand, der Verfechter eines Behandlungs- und Maßnahmenrechts, der Befürworter eines auf Wiedereingliederung der Täter in die Gesellschaft abzielenden Strafvollzugs wende das überkommene Schuldstrafrecht mit seiner lebenslangen Zuchthausstrafe für Mord an, brachte er ein Argument vor, das zugleich Ausdruck seiner Ansicht von den Wurzeln nationalsozialistischen Handelns war: »Hinter der Auffassung, die nazistischen Angeklagten bedürften keiner ›sozialisierenden‹ Behandlung, verbirgt sich die beliebte Illusion, der Nazismus sei mit Hitler und seiner nächsten Umgebung identisch, er sei eine Art Betriebsunfall in der deutschen Geschichte, und seine Wurzeln lägen in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Notständen der Weimarer Zeit, etwa in Versailles, der Inflation und der Weltwirtschaftskrise.«32 Obgleich Bauer die genannten Faktoren als durchaus bedeutsam für die Entstehung des Nationalsozialismus erachtete, waren ihm die ideologischen und mentalen Ursachen des Nazismus im Denken und Fühlen der Deutschen prioritär. Gemünzt auf die Generation der Täter und Mittäter, auch der vorgeblich unschuldigen Mitläufer, führte Bauer aus: »Wer die Notwendigkeit bestreitet, die nazistischen Täter zu ›resozialisieren‹, bestreitet damit ein Bedürfnis, sich selbst zu ›resozialisieren‹, was jedenfalls bequem ist und Beifall findet. In Wahrheit tut ein allgemeines Neubesinnen auch heute noch und morgen not.«33

Für Bauer war es ein Gebot des sozialen Rechtsstaats, sich um die Resozialisierung der NS-Täter zu bemühen, sie zu Staatsbürgern umzuerziehen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung aus Überzeugung mittragen und im Konsens mit unseren Grundwerten leben.34 Indem sich die Gesellschaft im Wissen um die begangenen Verbrechen um die Besserung der verurteilten NS-Täter bemüht, vergegenwärtigt sie sich ihre eigene Mithaftung an den Untaten, die nicht allein von den zur Verantwortung gezogenen Angeklagten der NS-Prozesse verübt worden waren.

Doch so recht überzeugt von seinem Vorhaben war Bauer wohl nicht immer. In einem Vortrag aus dem Jahr 1968 heißt es mit Blick auf sogenannte Überzeugungstäter: »Ein Lied von der Schwierigkeit der Resozialisierung etwa von Kommunisten oder Nazisten kann singen, wer den Versuch unternahm, mit ihnen zu diskutieren. Strafe und Strafvollzug, die praktisch in diesen Fällen die Aufgabe politischer Bildungsarbeit haben, reichen schwerlich an die emotionalen und rationalen Wurzeln einer politischen Überzeugung.«35

Gegenüber dem israelischen Schriftsteller und Journalisten Amos Elon soll Bauer geäußert haben: »›Der erzieherische Effekt dieser Prozesse – wenn es überhaupt einen gibt – ist minimal.‹«36 In einem privaten Brief aus dem Jahr 1963 ist zu lesen: »Natürlich ist das Resultat der Prozesse mehr als negativ. Ich (und die meisten) haben nie etwas anderes erwartet. Die Naziprozesse unterscheiden sich insoweit in nichts von allen anderen Strafprozessen, alle führen zu nichts oder nicht viel. Es wäre gewiß schon etwas gewonnen, wenn das dumme Publikum aus der Problematik der Naziprozesse auf die Fragwürdigkeit aller Strafprozesse schlösse.«37 Überaus deutlich wird an diesen Äußerungen die häufig bei Bauer zu machende Beobachtung, dass er sich öffentlich meist voller Hoffnung auf einen Wandel zu Wort meldete, ein durchaus prätendierter Optimismus, dass er jedoch insgeheim die Situation viel pessimistischer betrachtete. Der öffentliche und der private Bauer sind mithin zu unterschieden. Bei sich selbst diagnostizierte er eine intellektuelle, um der Sache willen gleichwohl erkennenden Auges praktizierte »Schizophrenie«.38

Ersichtlich war es Ausdruck von Bauers illusionärem »Erziehungsidealismus«39, von verurteilten NS-Verbrechern Ein- und Umkehr zu erwarten. Im Verbrecherstaat meist auf Befehl der kriminellen Regierung zum Mörder geworden, hatten NS-Täter sporadisch ein schlechtes Gewissen, gelegentlich ein Unrechtsbewusstsein. Dennoch waren nahezu alle der Meinung, für ihre staatlich angeordnete Beteiligung an den rechtswidrigen Taten strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können. Moralische Schuld schlossen viele nicht aus, Rechtsfolgen empfanden sie aber als schreiende Ungerechtigkeit. Einsicht in das eigene Tun, Selbstbesinnung und Schuldanerkenntnis war bei ihnen deshalb nicht zu konstatieren.

Mit Gustav Radbruch sprach Bauer vom schlechten Gewissen, »das den in Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtspflege tätigen Juristen«40 peinige. Im Falle der NS-Täter dürfte Bauer bei aller moralischen und rechtlichen Notwendigkeit, die Verbrechen zu ahnden, nicht frei von Gewissenszweifeln gewesen sein. Zum einen wusste er sehr wohl, dass viele Verantwortliche für die Mordtaten nicht mehr belangt werden konnten und als »Mörder unter uns« frohgemut und nicht selten mit guten staatlichen Versorgungsleistungen lebten.41 Zum anderen war ihm klar, dass der Strafvollzug wenig geeignet war, NS-Verbrecher zu »behandeln«, ihnen eine erfolgreiche Menschenrechtserziehung angedeihen zu lassen.42 Zu fragen ist freilich auch, zu welchem Zweck verurteilte NS-Verbrecher noch zu resozialisieren gewesen wären. Wer zu lebenslangem Zuchthaus bestraft worden war, musste mit einigen Jahren Haft bis zu seiner vorzeitigen Entlassung rechnen. »Resozialisierte«, einstmalige NS-Verbrecher im Rentenalter, gewandelt zu braven Demokraten, in der Haft zur Anerkennung universeller Menschenrechte erzogen: Wären sie – nüchtern betrachtet – notwendige Garanten für eine stabile bundesdeutsche Demokratie gewesen?