ad Hannah Arendt - Eichmann in Jerusalem

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Werner Renz

ad Hannah Arendt Eichmann in Jerusalem

Die Kontroverse um den Bericht
»von der Banalität des Bösen«


E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-584-9

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Print: ISBN 978-3-86393-125-4

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Einleitung

Arendts Grundüberzeugungen

Arendts Versuchung

Arendts Israelperspektive

Der Prozess: Rechtsgrundlagen

Arendts Prozessbeobachtung

Arendts Quellen

Arendts Prozess-Bericht

Arendts Kritiker: »Arendt-Kontroverse«

1. Die Anklagevertretung und ihre Strategie

2. Der Angeklagte und seine Rolle im Vernichtungsprozess

3. Die Judenräte und ihre Kooperation

4. Die Prozessbeobachterin und ihr Ton

Arendts Erfolg bei den Deutschen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Personenregister

»Ein Prozess ist nicht dazu da,

Geschichte zu machen,

sondern Recht zu sprechen.«1

Adolf Eichmann vor Gericht war für Hannah Arendt Gelegenheit und Herausforderung zugleich, die Reichweite ihrer Urteilskraft zu ermessen. »[P]olitisch denken und historisch sehen«2 hatte die Schülerin von Martin Heidegger und Karl Jaspers im bereits Mitte 1933 beginnenden Exil in Frankreich gelernt. Aus Deutschland musste Arendt fliehen, nachdem die Berliner Gestapo sie vorübergehend verhaftet hatte. Ins Visier der Geheimen Staatspolizei war sie geraten, weil sie im Auftrag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland in der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin eine »Sammlung aller antisemitischen Äußerungen auf unterer Ebene« anlegen wollte.3

Von Auschwitz, vom Mord an den europäischen Juden, erfuhr sie zehn Jahre später in New York.4 1941 war ihr zusammen mit ihrem Mann Heinrich Blücher die Flucht nach Amerika gelungen. Als bei der staatenlosen Exilantin die Erkenntnis reifte, dass geschehen war, was nicht hätte geschehen dürfen, so Arendt5 bereits 1948, stellte sie sich die Aufgabe, das präzedenzlose Ereignis zu verstehen. Das Unbegreifliche denkend zu durchdringen war eine existenzielle Herausforderung, denn es galt einen Zustand zu überwinden, den sie in einem Brief an Kurt Blumenfeld, bis 1933 Präsident der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, ergreifend beschrieb. Arendt meinte, sie könne sich nicht ausdrücken, »weil mir meist das Herz zu schwer ist und mir zu mies ist vor tout le monde. Sieh mal, es ist einfach so, daß ich über die Vernichtungsfabriken nicht wegkommen kann, und zwar in jener Region des brutal Tatsächlichen, in welcher diese neueste Fabrikationsart noch nicht einmal mehr etwas mit Juden zu tun hat oder mit Deutschen.«6

Arendts unbedingtes »Bedürfnis zu verstehen«, sich dem welthistorischen Ereignis denkend auszusetzen, den Zustand der Sprachlosigkeit zu überwinden, zeitigte das Totalitarismus-Buch von 1951.7 Der fortwährende Drang zum »Verstehenmüssen«8 führte sie eine Dekade später zum Prozess gegen Adolf Eichmann nach Jerusalem.

Arendts Grundüberzeugungen

Will man Arendt und ihr 1963 erschienenes, viel diskutiertes und umstrittenes Buch über den Eichmann-Prozess1 zutreffend bewerten, muss man sich vor Augen führen, mit welchen Grundüberzeugungen sie zur Prozessbeobachtung fuhr. Ihre wiederholt gebrauchte Rede vom Geschehen, das nicht sich hätte ereignen dürfen, erläuterte sie mit einem Hinweis auf Immanuel Kant. Der Königsberger Philosoph meinte, in einem Krieg solle kein Staat sich Feindseligkeiten erlauben, die »das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen«.2 Mit ihrem Rückgriff auf Kant verdeutlichte Arendt, dass das deutsche Verbrechen an der Menschheit, das sie in Ermangelung eines besseren Begriffs mit Al Carthill »›Verwaltungsmassenmord‹«3 nannte, in Dimension und Totalität ein beispielloses Ereignis darstellte, das aus keiner Tradition zu erklären war.

Für Arendt hatte sich in »Auschwitz […] der Boden der Tatsachen in einen Abgrund verwandelt, in den jeder hineingezogen werden wird, der nachträglich versucht, sich auf ihn zu stellen.«4 Anders gesagt: Es gab nach Auschwitz für Arendt keinen Denkstandort mehr in der Welt. Alle Tradition, die in der Vergangenheit Orientierung ermöglicht hatte, war an Auschwitz zuschanden geworden.

Das angesichts von Auschwitz empfundene sprachlose »Entsetzen« galt »nicht dem Neuen schlechthin, sondern der Tatsache, daß dies Neue den Kontinuitätszusammenhang unserer Geschichte und die Begriffe und Kategorien unseres Denkens sprengt. Wenn wir sagen: Dies hätte nicht geschehen dürfen, so meinen wir, daß wir dieser Ereignisse mit den großen und durch große Traditionen geheiligten Mitteln unserer Vergangenheit weder im politischen Handeln noch im geschichtlich-politischen Denken Herr werden können.«5 Und weiter: »In diesem Strudel haben schließlich die totalitären Bewegungen mittels einer höchst ingeniösen Verbindung von Terror und Ideologie eine neue Staats- und Herrschaftsform herauskristallisiert. Erst die totalitäre Herrschaft als ein Ereignis, das in seiner Beispiellosigkeit mit den überkommenen Kategorien politischen Denkens nicht begriffen, dessen ›Verbrechen‹ mit den traditionellen Maßstäben nicht beurteilt und mit Hilfe bestehender Gesetze nicht adäquat gerichtet und bestraft werden können, hat die in der Überlieferung so lange gesicherte Kontinuität abendländischer Geschichte wirklich durchbrochen.«6

Hitler und seine Mittäter und Gehilfen (ebenso wie Stalin) hatten nach Arendts Verständnis Verbrechen begangen, die weit mehr als nur eine Geschichtszäsur darstellten. »Die Gaskammern des Dritten Reiches und die Konzentrationslager der Sowjet-Union (die in Wahrheit ebenfalls Vernichtungslager sind, wenngleich mit anderen Methoden) haben die Kontinuität abendländischer Geschichte unterbrochen, weil niemand im Ernst die Verantwortung für sie übernehmen kann und man niemanden im Ernst für sie verantwortlich machen kann. Zugleich bedrohen sie jene Solidarität von Menschen untereinander, welche die Voraussetzung dafür ist, daß wir es überhaupt wagen können, die Handlungen anderer zu beurteilen und abzuurteilen.«7 Arendt sah den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1945/46 und fünfzehn Jahre später auch das Jerusalemer Bezirksgericht mit dieser Aporie konfrontiert.

Ein Prozess gegen einen deutschen Menschheitsverbrecher war für Arendt eine geistige Herausforderung. Ihr Interesse galt der Person Eichmann und ihrer von Arendt vehement behaupteten persönlichen Verantwortung für ihre im totalitären Staat verübten Taten8 sowie der juristischen und moralischen Frage, wie in einem rechtsstaatlichen Verfahren einem der Exekutoren der ihrer Ansicht nach gar nicht mehr justiziablen »Endlösung der Judenfrage« gleichwohl Recht und Gerechtigkeit widerfahren könne. Nicht justiziabel war für Arendt das präzedenzlose Menschheitsverbrechen, weil es weder ein positives Gesetz noch eine gesetzliche Strafe gab, die ihm angemessen gewesen wären (EJ, S. 323).9 Dennoch galt es, die Verbrecher persönlich zur Rechenschaft zu ziehen, sie wegen ihrer individuellen Schuld nicht straflos zu lassen. Arendt sah das Rechtsproblem mithin in der Tatsache, dass kein angemessenes gesetzliches, das heißt bereits kodifiziertes, gesetztes Recht vorhanden war und dennoch in einem fairen Prozess rechtsschöpferisch gerechtes Recht über einen Angeklagten gesprochen werden musste. Die Rechtfertigung für das Strafverfahren sah sie allein in der unabdingbaren Verpflichtung, Eichmann nach Recht und Gerechtigkeit zu richten. Ihre Erwartungen hinsichtlich richterlicher Rechtsschöpfung wurden in Jerusalem freilich enttäuscht.

 

In einem Brief an Leni Yahil machte Arendt ihre Sicht auf die überaus schwierigen, von ihr selbst nicht beantwortbaren Rechtsfragen, klar. So meinte sie, in einem Fall wie Eichmann müssten »selbst Juristen einsehen«, »dass man mitunter Recht sprechen muss ohne eine Gesetzesvorlage zu haben«.10 Die Lage war für die Richter Arendt zufolge »peinlich, aber […] schon darum nicht zu vermeiden, weil dies ja die einzige wirkliche Rechtfertigung des Kidnapping war«. Neben der paradoxen Situation, Recht ohne angemessenes positives Gesetz und ohne Präzedenzfälle sprechen zu müssen, kam für Arendt noch »die Unzulänglichkeit« des »Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law« (1950) hinzu, das die Rechtsgrundlage des Prozesses darstellte (EJ, S. 321). Zutreffend stellte sie fest, der israelische Gesetzgeber habe zwei Jahre nach der Staatsgründung »ja offenbar nur mit Juden gerechnet, die den Nazis Dienste geleistet hatten«.11

In ihrem Denktagebuch sinniert Arendt 1952 über die Begründetheit des Rückwirkungsverbots. Das rechtsstaatliche Prinzip »Nullum crimen sine lege« geht von der Auffassung aus, der Tat, soll sie geahndet werden können, müsse ein Gesetz vorausgehen, das den zu subsumierenden Straftatbestand klar bestimmt. Doch Auschwitz, die neue Art von Verbrechen, geschah und musste nach Arendt im Namen der Gerechtigkeit und im Namen der Opfer judiziert werden, obgleich kein angemessenes Gesetz und keine adäquate Strafe existierten. Die Rede, es gebe kein Verbrechen ohne Gesetz hielt sie deshalb für wenig haltbar.12 Gesetze mit rückwirkender Kraft betrachtete sie nicht als Problem (EJ, S. 303). Folglich verwarf sie das Verbot retroaktiver Gesetze angesichts des neuen Verbrechens.

Die Schwierigkeit lag für Arendt in der Bestimmung der Straftatbestände, in der angemessenen Darstellung der präzedenzlosen Verbrechen, die sie ein Verbrechen gegen die Menschheit, nicht gegen die Menschlichkeit nannte. Anders gesagt: Die Subsumierbarkeit von Auschwitz in Anbetracht von unzulänglichen Gesetzen stellte die Arendt interessierende Schwierigkeit dar, mit der sich ihrer Auffassung nach das Jerusalemer Gericht zu befassen hatte.

Für die bundesdeutsche Praxis, Sondernormen mit Blick auf das im Grundgesetz verankerte Verbot rückwirkender Strafgesetze13 auszuschließen und die NS-Verbrechen nach dem geltenden deutschen Strafrecht zur Tatzeit (§ 211 Strafgesetzbuch von 1871 und 1941)14 zu judizieren, hatte Arendt nur Unverständnis übrig. An Karl Jaspers schrieb sie: »In Deutschland, wo man kein Sondergesetz gemacht hat, tut man so, als ob das Strafgesetzbuch nicht allgemein für bestimmte Kategorien von Menschen aufgehoben war, an denen Mord entweder erlaubt oder sogar befohlen war.«15 Eichmann vor einem Schwurgericht der Bundesrepublik Deutschland wäre für Arendt wohl ein uninteressanter Fall gewesen.

Mit Blick auf den Nürnberger Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher meinte sie im Kontext von Jaspers Schrift16 Die Schuldfrage: »Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat.«17 In einer Buchbesprechung hatte sie gleichfalls 1946 dargelegt: »The Jewish people is indeed entitled to draw up this bill of indictment against the Germans, but provided it does not forget that in this case it speaks for all the peoples of the earth. It is as necessary to punish the guilty as it is to remember that there is no punishment that could fit their crimes.«18

Für Arendt war die totale Herrschaft eine neue Staatsform, die den »staatlich organisierte[n] Verwaltungsmassenmord« (EJ, S. 22), das »Verbrechen gegen die Menschheit, begangen am jüdischen Volk« (EJ, S. 30), in die Welt gebracht hatte. Dabei handelte es sich um eine neue Art von Verbrechen (EJ, S. 328), verübt von Menschen wie Adolf Eichmann, die einen neuen Verbrechertypus verkörperten.19 In diesen Verbrechen und in seinen willigen Vollstreckern zeigte sich für Arendt ein ungelöstes philosophisches Problem, dessen Erörterung in ihrem Prozessbericht einer der Gründe für die Arendt-Kontroverse war. Philosophisch betrachtet war Arendt nach Auschwitz der Auffassung, dass »the problem of evil will be the fundamental question of post-war intellectual life in Europe«.20 Vor Jerusalem ging sie von der in ihrem Totalitarismus-Buch ausgeführten Ansicht aus, dass es das »radikal Böse« gebe, dass es aber weder bestraft noch vergeben werden könne.21 Das Verbrechen, das nicht hätte geschehen dürfen, das ganz und gar »Unmögliche«, war ihr vor Jerusalem identisch »mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verzeihen, kein Gesetz bestrafen.«22 Im Denktagebuch heißt es 1950: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen, d.h. das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf. Es ist das, wofür man die Verantwortung nicht übernehmen kann, weil seine Folgerungen unabsehbar sind und weil es unter diesen Folgerungen keine Strafe gibt, die adäquat wäre. Das heisst nicht, dass jedes Böse bestraft werden muss; aber es muss, soll man sich versöhnen oder von ihm abwenden können, bestrafbar sein.«23

Der unbestrafbaren Tat stand das legitime Gerechtigkeitsverlangen nicht nur der Opfer entgegen. Arendt wollte in Jerusalem einerseits eine exemplarische Figur wie Adolf Eichmann ergründen, sie wollte andererseits sehen, wie das Bezirksgericht »the difficulties of judging crimes committed by a sovereign state« bewältigt, wie die Richter »the uncertainties of ›political justice‹«24 im Fall Eichmann meistern. Die neue Art von Verbrechen und der neue Verbrechertypus waren somit die besonderen Herausforderungen, die das Gericht, nach Arendt mit unzureichendem Instrumentarium ausgestattet, zu bewältigen hatte.

Einen klaren Begriff vom radikal Bösen hatte Arendt nach Auschwitz nicht bilden können. Ob es ontologisch oder anthropologisch zu deuten war, blieb in den 1950er Jahren offen.25 Da sie aber nach Auschwitz viele Jahre lang »about the nature of evil«26 nachgedacht hatte, wollte sie in Jerusalem, mit Eichmann konfrontiert, ihre Denkergebnisse auf den Prüfstand stellen. Über ihre für ihr Denken und ihr Leben so überaus folgenschwere Entscheidung, zur Prozessbeobachtung zu fahren, schrieb sie im Rückblick: »[…] the wish to expose myself – not to the deeds, which, after all, were well known, but to the evildoer himself – probably was the most powerful motive in my decision to go to Jerusalem«.27

Ebenso wichtig wie Arendts hier nur kurz skizzierten Grundannahmen ist die Entstehungsgeschichte des Eichmann-Buches. Sie lässt sich anhand ihrer Korrespondenz gut rekonstruieren. Die Genese des Prozessberichts erhellt auch seine Form und seinen Inhalt.

Arendts Versuchung

Gut einen Monat nach der Mitteilung von Premierminister David Ben Gurion in der Knesset Ende Mai 1960, Eichmann befinde sich in israelischem Gewahrsam1 und werde vor Gericht gestellt, schrieb Arendt an ihre Freundin Mary McCarthy, sie »spiele so halb mit dem Gedanken«, als Berichterstatterin nach Jerusalem zu gehen, und sprach von der »Versuchung«, die sie empfinde.2 Sie wandte sich an die Redaktion des auflagenstarken und finanzkräftigen Wochenmagazins The New Yorker, »eine in Amerika sehr angesehene Zeitschrift« (EJ, S. 12). In dem Hochglanzmagazin hatte sie bis dahin nicht publiziert.3 Die Tatsache aber, dass der New Yorker gelegentlich fundierte, gut recherchierte Reportagen veröffentlicht hatte, brachte Arendt auf die Idee, der Redaktion zu schreiben. Eine Rolle spielte fraglos auch der Umstand, dass die Zeitschrift in der Lage war, Arendts Aufenthalt in Jerusalem zu finanzieren.

Die Leitung des New Yorker war mit Arendts Vorhaben einverstanden. McCarthy teilte sie mit: »Ich habe entschieden, daß ich beim Eichmann-Prozeß dabei sein möchte, und an den New Yorker geschrieben. (Nur drei Zeilen, nichts Ausgearbeitetes.)« Der Herausgeber William Shawn habe sie angerufen und »schien einverstanden, daß ich für sie fahre – mit der Vereinbarung, daß er, was immer ich vielleicht produziere, nicht drucken muß, daß sie aber meine Kosten übernehmen oder zumindest den größeren Teil davon. Das paßt mir gut.«4 Im Brief an Kurt Blumenfeld heißt es im Oktober 1960: »Der New Yorker will es mit mir versuchen, d. h. mir meine Spesen zahlen, auch wenn sich herausstellen sollte, daß was ich schreibe für das Blatt doch nicht geeignet ist. Aber wir hoffen – nämlich New Yorker und ich –, es könnte klappen.«5 Die in Kritiken wiederholt vorgebrachte Meinung, Arendt sei vom New Yorker beauftragt worden, ist mithin unzutreffend. Gänzlich abwegig ist auch die Behauptung, das Magazin habe Arendt Vorgaben bezüglich ihrer Schreibweise und der Darstellungsform des Reports gemacht.

Durchaus bewusst war Arendt, mit der beabsichtigten Prozessberichterstattung ein Wagnis einzugehen. Doch die wiederholt hervorgehobene »Versuchung«6 war zu groß. Wie ambivalent sie ihrem Vorhaben gleichwohl gegenüberstand, geht aus ihrer Korrespondenz hervor: Einerseits graute ihr »vor der ganzen Sache«7, andererseits schrieb sie von der recht frivol anmutenden Absicht, sich »auf dem Eichmann-Prozess zu ›amuesieren‹«.8 Auch gestand sie ein, »absolut – und vielleicht wie vom Teufel geritten – zum Eichmannprozess nach Israel«9 zu wollen. Nürnberg, den Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher, und die zwölf Nachfolgeverfahren vor amerikanischen Militärgerichten (1946/49) hatte sie bedauerlicherweise verpasst. Sie hatte »diese Leute nie leibhaftig gesehen«.10 Dezember 1960 schrieb sie an Jaspers, sie wolle Eichmann, dieses »Unheil in seiner ganzen unheimlichen Nichtigkeit in der Realität […] besehen«, denn sie würde es sich »nie verziehen haben, nicht zu fahren«.11

Auf die Fragen eines Journalisten nannte Arendt im Rückblick (September 1963) einige Gründe für ihre Reise nach Jerusalem. Sie habe unbedingt »one of the chief culprits with my own eyes as he appeared in the flesh«12 sehen wollen. Arendt interessierte der Fall Eichmann, weil es in einem Gerichtsverfahren um den Angeklagten als Person und ihre individuelle Schuld und Verantwortung gehen musste. In Arendts Antwort heißt es weiter: »It is the great advantage of court procedure that it inevitably confronts you with the person and personal guilt, with individual motivation and decisions, with particulars, which in another context, the context of theory, are not relevant.« Und: »In other words, I wanted to know: Who was Eichmann? What were his deeds, not insofar as his crimes were part and parcel of the Nazi system, but insofar as he was a free agent?«13

In einem Mitte 1963 geschriebenen Brief meinte sie: »Warum ich dieses Buch geschrieben habe[,] ist schwer zu beantworten. Ich wollte mir einen der Hauptbeteiligten ganz aus der Nähe begucken; hatte aber auch das Gefühl, dass ich bei diesem Prozess, gerade weil er von Juden gemacht wurde und ich ja schliesslich Jüdin bin, unbedingt dabei sein musste.«14

Der Jerusalemer Prozess bot Arendt die Möglichkeit, das nach 1945 Versäumte nachzuholen. Zudem glaubte sie noch im Jahr 1960 in dem Angeklagten eine wichtige, eine entscheidende Figur des NS-Vernichtungsapparats auf der Anklagebank beobachten und erleben zu können.15 So schrieb sie: »When I decided to go to Jerusalem, I myself had been under the impression that he had been much more important than he actually was.«16 In ihrer Besprechung des Buches von Léon Poliakov hatte sie in Übereinstimmung mit dem Autor 1952 dargelegt, Eichmann sei »the organizer of the deportations of Jews from all parts of Europe«17 gewesen. Entsprechend enttäuscht war sie daher gewesen, als sie einem verschnupften, recht unscheinbaren Angeklagten im Glaskasten begegnete. Im Gespräch mit Joachim Fest spricht sie sogar davon, sie sei ob der so wenig außergewöhnlichen Erscheinung Eichmanns »sehr schockiert«18 gewesen.

 

Eine Prozessreporterin im herkömmlichen Sinne, mit deskriptiven Darstellungen der einzelnen Verhandlungstage, wollte und konnte Arendt natürlich nicht sein. Dennoch betonte sie, einzig als »bescheidener Berichterstatter«19 fungieren zu wollen. Von vornherein war klar, dass sie in Jerusalem nicht schreiben20 und ihr Aufenthalt höchstens drei21 bis vier Wochen22 dauern werde, gleichviel wie lange sich der Prozess hinziehen würde. Auch der Umfang ihres Prozessberichts war vollkommen offen. In einem Brief an Jaspers vom Februar 1961 hob sie nochmals ihre vom Magazin eingeräumten Freiheiten hervor: »Ich habe« seitens der Redaktion des New Yorker »ausgezeichnete Bedingungen, kann schreiben so viel oder so wenig wie ich will, und vor allem kann abliefern, wann immer ich fertig bin«.23

Der väterliche Lehrer und Freund bewies ein gutes Gespür, als er warnend meinte, der Prozess werde Arendt »keine Freude machen«. Das Jerusalemer Verfahren könne »eigentlich gar nicht gut gehen« und er fürchte ihre Kritik. Weitsichtig und zugleich vergeblich riet der in Basel lebende Philosoph der streitbaren Autorin, sie solle ihre wohl unvermeidliche Prozess-Kritik »möglichst weitgehend für sich behalten«.24 Mit seinen »Bedenken«25 sollte Jaspers Recht behalten.26

Zur Entstehungsgeschichte ihres Buches ist gleichfalls wichtig, dass Arendt über den Umfang ihrer Berichterstattung selbst keine klaren Vorstellungen hatte. Dass aus dem Report für das Wochenmagazin fünf umfangreiche Artikel (Februar/ März 1963 erschienen)27 und sodann ein Buch (Mai 1963) werden würden, hatte sie zu Beginn ihrer Arbeit mit den umfangreichen Materialen im Frühsommer 1962 nicht im Sinn. An Dolf Sternberger schrieb sie, »das Ganze« werde nach der Erstveröffentlichung im New Yorker »bei Piper als Broschüre erscheinen«.28 Am Anfang ihres Studiums der Prozessunterlagen meinte sie gegenüber McCarthy: »Ich bin mitten im Eichmann und ziemlich verzweifelt, weil ich es nicht so kurz machen kann, wie ich wollte. Ich schwimme in enormen Materialmengen, versuche immer, das aussagekräftigste Zitat zu finden, und werde eine zweite Fassung schreiben müssen (was ich normalerweise hasse, aber wegen zu vieler Dokumente geht es nicht anders). Wahrscheinlich wird der ganze Sommer draufgehen, um wirklich fertig zu werden, aber au fond bin ich darüber nicht unglücklich. Im Gegenteil, irgendwie macht mir der Umgang mit Tatsachen und konkreten Dingen Spaß.«29 Im Verlauf der Arbeit teilte sie kurze Zeit später aber mit, es werde »doch ein Buch«30 werden. Wie immer selbstironisch merkte sie im August 1962 an, sie widme sich »eifrigst dem Eichmann-Prozess, der ein Buch« werde und ihr »trotz allem Spass« mache.31 Auch im Brief an Jaspers heißt es, sie könne nicht leugnen, dass »die Eichmanngeschichte« ihr Spaß bereite.32

Mitte September 1962 war Arendt bis auf den Epilog fertig. Sie hatte nunmehr das Buch im Auge, denn sie wusste nicht, wie umfangreich der Vorabdruck im New Yorker ausfallen werde. Durchaus zu ihrer Überraschung war die Redaktion bereit, nahezu den gesamten Text zu veröffentlichen. An Jaspers heißt es: »Es ist ein Buch geworden, aber der ›New Yorker‹, der ganz außergewöhnlich begeistert ist, will versuchen, das Ganze zu drucken – was wegen Geld sehr angenehm wäre.«33 Ende Oktober 1962 hatte sich die Sache endgültig geklärt: »Der Eichmann-Artikel ist auch ein Buch geworden, und zur Verwunderung aller wurde er fast in ganzer Länge von The New Yorker angenommen.«34