Kreaturen des Todes, 2. Band

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Eine Prostituierte, die in aller Öffentlichkeit ihre Freier suchte, war eine beispiellose Provokation. Mit dem Gesetz wollte Nitribitt aber nicht mehr in Konflikt geraten. Der berüchtigte Kuppeleiparagraph verbot bis 1969 selbst Eltern noch bei Strafe, unverheiratete Paare im selben Zimmer schlafen zu lassen. Ihr damals hypermodernes, mit weißen Marmorplatten verkleidetes Mietshaus am Eschenheimer Turm schien Nitribitt der ideale unscheinbare Ort für ihr Gewerbe. Es war kein schmutziges Stundenhotel, nein: Rosemarie empfing ihre Kunden im bürgerlichen, fast spießigen Ambiente, das sie «Ernstl» Sachs’ Wohnung abgeschaut hatte.

Rosemarie Nitribitt war weder rasend schön noch klug. Diese kindliche blonde Person, deren Leibspeise Milchreis war, strahlte eine finstere Lebensweisheit aus. Sie war die Frau, die außer Geld keine Ansprüche stellte und für Geld Phantasien erfüllte. Sie sah Schwulen gerne beim Sex zu, liebte lesbisch und schlug auch «mit dem Rohrstock bis zur geschlechtlichen Befriedigung» zu. Andere Männer erinnerten sich an eine zärtliche Geliebte. Manche kauften sich Zeit, wollten Nähe und nur reden; sie selbst musste dabei kaum etwas sagen. Vom Rand der Gesellschaft aus entlarvte Nitribitt Doppelmoral und schlug daraus mächtig Kapital.

Eines Samstagabends tauchte Rosemarie Nitribitt im November 1956 im drei Stunden entfernten Bad Homburg auf dem feudalen Anwesen der milliardenschwere Industriellenfamilie Quandt auf. Sie trug ein hautenges Cocktailkleid, stellte sich dem 35 Jahre alte Harald Quandt auf der Geburtstagsparty von dessen 28-jähriger Frau als Rebecca Wolf vor, nippte am Sekt und ging wieder. «Im April oder Mai 1957» kam Quandt eines Abends «auf die Idee [...], die Nitribitt aufzusuchen», sagte er später aus. Nitribitt servierte eine Flasche Sekt, dann redeten sie ungelenk über «ein lustiges Buch», Quandt gab ihr 150 DM, sie zogen sich nackt aus und hatten «ein sexuelles Erlebnis».

In kürzester Zeit hatte sich die Frau, die große Mühe hatte, ihren eigenen Namen zu schreiben, einen Namen gemacht. «Die Nitribitt» sprach sich herum, in einem erstaunlich großen Einzugsgebiet zu den klangvollsten Namen.

Zu ihrer Laufkundschaft zählten bald Chefredakteure und Filmemacher, der Rennfahrer Fritz Huschke von Hanstein, Jazzmusiker Joe Zawinul, Prinzen, Fürsten, Barone. Auch Bundeskanzler Ludwig Erhard, Kurt-Georg Kiesinger und ein Bruder des Bundespräsidenten Gustav Heinemann sollen sich an «Rebecca» erfreut haben; angeblich besaß der US-Geheimdienst Fotos von Bonner Politikern auf Nitribitts Bettkante.

Harald Quandt nannte Nitribitt ihren «Harald den Ersten». «Harald der Zweite» schien Nitribitts bester Fang. Harald Georg Wilhelm von Bohlen und Halbach, Sohn der Stahlbaronin Bertha Krupp, war Junggeselle und laut Boulevard der «reichste Mann Deutschlands». Nitribitt sprach den 41-Jährigen im März 1957 «in der Nähe des Frankfurter Hofes» aus ihrem Cabrio heraus an. Nach einer kurzen Spritztour durch die Stadt hatten sie laut seiner späteren Aussage «G. V.», also Sex. 200 DM gab er ihr danach.

Die Nitribitt sei ihm einfach «sympathisch» gewesen, sagte von Bohlen und Halbach später. Die Anlagen des Vernehmungsprotokolls der «Spur 32» beweisen: «Harald der Zweite» war verliebt. Bei den «Korrespondenzunterlagen» handelt es sich um 19 stark romantisierte Liebesbriefe und Gedichte. Er schickte Blumen und Küsse und eine Christophorus-Plakette für ihr Mercedes-Cabrio, die sie erinnern sollte, vorsichtig zu fahren «und nicht so ganz plötzlich in die Kurve» zu gehen oder gar «frech» zu überholen. Er schrieb seiner «Sehnsucht» Postkarten mit Bergmotiven aus St. Moritz, aus Tirol, aus dem «Ritz Carlton» in Montreal, rief sie vom Apparat seiner Mutter Bertha aus an, oder besuchte sie in ihrer Wohnung.

Auf einem Foto sitzt er auf ihrem Chippendalesessel. «Seiner Seele Seligkeit» wollte von Bohlen und Halbach für eine Nacht auf ihren «mondscheinblassen» Brüsten dahingeben. Er schenkte Rosemarie Schmuck, Perlenohrringe, eine «Pferdegruppe aus Porzellan», einen Werkzeugkasten und einen Tirolerhut. Bald besass sie einen Schmuckkoffer aus Leder, Schweizer Uhren, Wein aus der Kruppschen Hauskellerei.

Aber was sie wirklich wollte, bekam sie nicht. Das Leben verläuft nicht nach «Pretty Woman»-Drehbuch. Nitribitts Spitzname «Gräfin Mariza» ließ sie in der Hierarchie unter ihresgleichen aufsteigen - aber die deutschen Familiendynastien waren moralische Instanzen. Und Nitribitt war keine, die man heiratet.

Sein «Fohlen», dem er «1000 Zuckerstücke ins Maul stecken» wollte, musste er auf «Rehchen» umtaufen, weil schon ein anderer sie «Fohlen» rief.

Schon Junggeselle Ernst Wilhelm Sachs, in den Nitribitt «sehr verliebt» war, wie sie ihrer Freundin Irene erzählte, ließ die Edelhure zwar ein paar Tage in seiner Schweinfurter Wohnung bleiben, wir erwähnten es schon, - länger aber nicht, obwohl er dort alleine lebte. Ihr Verhältnis beschrieb Sachs als «ohne jegliche ernste Absichten». 1957 heiratete er das echte Mannequin Model Eleonora Vollweiler.

Von dem alleinstehenden Krupp-Spross hatte Nitribitt wiederum ein silbern gerahmtes Foto auf ihrem Musikschrank stehen. Sie bezeichnete ihn als ihren festen Freund. Von Bohlen und Halbach machte sich kaum Illusionen. Einmal überredete Nitribitt ihn, mit ihr das Haus zu verlassen, sie gingen zu «Betten Raab», wo er ein Muster für Steppdecken und Kopfkissen ihres Doppelbetts aussuchen sollte. Klingt, als habe Nitribitt ein wenig Nestbau betrieben. Noch vor der Angst vor Aids und der Selbstverständlichkeit der Pille sorgte von Bohlen und Halbach immer für Präservative, damit Nitribitt ihm kein Kind anhängen konnte. Als sie ihn auf eine Ehe ansprach, meinte er, da müsse man «auf den Mond fahren». «Also gute Nacht, träume süss», schrieb er ihr einmal. Es gibt wenige Bilder von Rosemarie Nitribitt, die meisten sind gestellt. Für einen Freier schnuppert sie in Strapsen an einem enormen Strauß Gladiolen. Für alle Freier posierte sie an ihrem Mercedes.

Eine der seltenen Fotos, auf dem sie sich nicht inszeniert hat, entstand wenige Tage vor ihrer Ermordung. Gegenüber ihrer Wohnung in der Stiftstrasse befand sich das inzwischen abgerissene Redaktionsgebäude der «Frankfurter Rundschau». Der «FR»-Fotograf Kurt Weiner erkannte die Frau, die da alleine und scheinbar unbeobachtet tief in ihrem Ohrensessel versunken am Fenster schlief und die hohen Schuhe auf dem Sims ruhen ließ.

Wenige Tage vor ihrer Ermordung gelang dem damaligen Fotografen Kurt Weiner ein Schnappschuss von Rosemarie Nitribitt am Fenster ihrer Wohnung in der Stiftstrasse

Bekannte und Weggefährten beschrieben die Nitribitt als charmant, vulgär und verspielt; als knallhart und dominant; und als einsam und voller Ängste. Rosemarie Nitribitt hatte wenig Freunde, und selbst die waren eher Bekanntschaften.

Der Klarinettist Fatty George durfte ihren Mercedes fahren und machte sie mit dem Jazzpianisten Joe Zawinul bekannt, der ihr Kunde wurde. Heinz Pohlmann, damals Handelsvertreter und später Hauptverdächtiger, lud sie eines Tages zum Tee in seine Junggesellenwohnung ein und blieb ein «platonischer Freund». Das homosexuelle «Pohlmännchen», stellte Nitribitt einmal resigniert fest, konnte ihre «Liebe nicht erwidern».

Im Rahmen ihrer Möglichkeiten hatte Nitribitt viel erreicht. Aber die Grenzen ihrer Entfaltung waren deutlich. So war und ist es nun mal: Der Kunde hat das letzte Wort. Da es nach oben nicht weiterging und sie auf keinen Fall wieder nach unten wollte, kostete Nitribitt in vollen Zügen alles aus, was sie um sich herum zu fassen bekam: In ihrem dreiteiligen Kleiderschrank stapelten sich Spitzenwäsche und über 50 Paar Schuhe. Mitten im Sommer 1957 kaufte sie sich einen Wildnerzmantel für 11 000 DM und einen ebenso wertvollen Brillantring. Erspartes lagerte sie am Finanzamt vorbei in einer blauen Kassette im Wohnzimmerschrank.

Als der Mord an der Prostituierten Nitribitt bekannt wurde, empörte die Öffentlichkeit daran vor allem «die Tatsache, dass man damit reich werden konnte», schreibt Christian Steiger in seiner akribisch recherchierten «Autopsie eines deutschen Skandals». 1954 verdiente Nitribitt netto siebenmal mehr als ein durchschnittlicher Bundesbürger im Jahr brutto. Nitribitt vererbte ihrer Mutter 70 000 DM aus zehn Monaten Arbeit 1957. «Nur manche der Männer, die sie besuchen, verdienen mehr als Rosemarie Nitribitt», so Steiger.

Im Grunde hat Rosemarie Nitribitt nicht nur dem oberen Drittel Deutschlands Dienste erwiesen. Immerhin zeigte die Hure im Pelzmantel, dass «die Deutschen», alle Deutschen, wieder wer waren. Ein Callgirl nannte man in den Folgejahren eine Nitribitt, so wie man um ein Tempo bittet, wenn man ein Papiertaschentuch möchte.

Vielleicht ist es wahr, dass Rosemarie Nitribitt im Konsumrausch den Bogen auch mit ihren Kunden überspannt hat. Bis heute halten sich Gerüchte, dass sie sterben musste, weil sie zu viel wusste. Dass sie Spitzenpolitiker und Wirtschaftsbosse mit Scheinschwangerschaften oder deren Blossstellung erpresste.

Da der Mord an ihr nie aufgeklärt wurde, konnten düstere Legenden wuchern. «War die ‹blonde Rosemarie› eine Agentin des Ostens?», rätselte die Frankfurter «Abendpost». «Wurde Rosemarie Nitribitt telefonisch hypnotisiert?», fragte sich die «Welt» ernsthaft. Dass Nitribitt die Gespräche ihrer stöhnenden Besucher oft heimlich auf Tonband aufzeichnete, wussten diese nicht. Warum sie das überhaupt tat, wird man wohl nie wissen.

Eines der Gerüchte über Rosemarie Nitribitt klingt wie ein Ende, das man ihr alternativ gewünscht hätte. Angeblich wollte sie aussteigen, in eine Bar, eine Pension oder ein Gestüt investieren. Wollte sie doch noch ihren alten Traum von einem «großen Salon» erfüllen, nicht als Ehe-, sondern als Karrierefrau?

 

Die Wahrheit ist: Kurz vor ihrem Tod bestellte Nitribitt ein schwarzes Mercedes Coupé 300 S mit dunkelgrünen Sitzen für 34 500 DM, weil ihre Kunden sich über den unbequemen Einstieg des SL beschwert hatten. Am 29. Oktober war der Wagen abholbereit. Gegen 15 Uhr an diesem Tag empfing Nitribitt den letzten Freier, danach kaufte sie gegen halb fünf Uhr in Fritz Matthias Metzgerei ein Pfund Kalbsleber für Pudel Joe. Das Auto holte sie nicht mehr ab. Rosemarie Nitribitts Ende war wohl unausweichlich.

Am Nachmittag des 1. November 1957 fand die Polizeistreife «Frank 40» Rosemarie Nitribitt mit eingeschlagenem Schädel in ihrer Wohnung in der Stiftstrasse auf. Die Leiche der 24-Jährigen lag auf dem Perserteppich vor dem Sofa. Ihr anthrazitfarbenes Kostüm war hochgerutscht, ein Strumpfhalter sichtbar. Fenster und Gardinen waren geschlossen. Es war dunkel und stank bestialisch. Im Schlafzimmer winselte der eingesperrte Pudel. Die Fußbodenheizung lief auf Hochtouren, Nitribitts Gesicht war blutverkrustet und grotesk aufgedunsen, die Verwesung hatte in der Hitze bereits eingesetzt.

In perverser Fürsorglichkeit hatte der Täter den Kopf der Toten auf ein rosafarbenes Frottee-Handtuch gebettet. In der Geldkassette fehlte das Bargeld. Rosemarie Nitribitt wurde von hinten erwürgt, ihr Mörder drückte so heftig zu, dass sich seine Fingernägel in ihren Kehlkopf gruben. «Vor der Tat hat ein kurzer Kampf stattgefunden», vermerkten die Ermittler. Auf dem im Übrigen defekten Tonband vom Tattag hört man Nitribitt dreimal hintereinander undeutlich sagen: «Lass mich los.»

Bis zuletzt kämpfte Rosemarie Nitribitt. Bis zuletzt war sie von Scheinheiligkeit umgeben. Der Pfarrer verweigerte ihr das letzte Geleit. Ein anonymer Auftraggeber spendete ihr, dem Freudenmädchen, den Grabstein mit der biblischen Inschrift: «Nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein im Leben». Noch nach über 60 Jahren ist Nitribitts Grab gepflegt, manchmal stehen frische Blumen darauf.

Der Kindermörder aus der Schweiz

Mit der Verhaftung von Werner Ferrari endete 1989 eine unheimliche Serie von Kindermorden. Der Hilfsarbeiter wurde 1995 in einem Indizienprozess wegen fünffachen Mordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Im April 2007 wurde er in einem Fall freigesprochen.

Es wird gezeigt, wie der Serienmörder ermittelt wurde und ergründet, was Werner Ferrari angetrieben hat. Warum hat er vier Geständnisse abgelegt und später widerrufen? Wie viele Kinder hat er umgebracht? Läuft ein anderer Täter noch frei herum?

In den 80er-Jahren hält eine unheimliche Serie von elf Kindermorden die Schweiz in Atem. Groß ist die Erleichterung, als Ende August 1989 mit der Verhaftung von Werner Ferrari der vermeintliche Täter endlich gefasst wird. Der Hilfsarbeiter legt in vier Fällen ein Geständnis ab - widerruft dieses jedoch bei Prozessbeginn. Aufgrund von Indizien wird er 1995 wegen fünffachen Mordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Beweise aufgrund von neuen kriminaltechnischen Ermittlungen haben unterdessen Zweifel an der Täterschaft Ferraris im Fall Ruth Steinmann - dem Mord, den er immer bestritten hat - aufkommen lassen. Der Revisionsprozess fand Mitte April 2007 vor dem Bezirksgericht Baden statt.

Was hat Werner Ferrari angetrieben, warum hat er vier Geständnisse abgelegt und dann doch widerrufen? Hat er auch andere Kinder auf dem Gewissen? Oder läuft der wirkliche Täter noch frei herum? Dieses Buch rollt die traurige Geschichte der verschwundenen Kinder auf und zeigt, wie die Angehörigen mit dem unfassbaren Leid umgehen. Er versucht zu ergründen, warum Werner Ferrari zum Mörder wurde und deckt auf, wie die Justiz gegen den Serientäter ermittelt hat - und welche Fragen und Taten bis zum heutigen Tag ungeklärt geblieben sind.

Werner Ferrari wurde am 29. Dezember 1946 geboren. Als fünffacher Kindermörder ist er einer der bekanntesten Gefängnisinsassen der Schweiz. Er entführte oder lockte die Kinder zum Beispiel von Volksfesten weg, missbrauchte einige der Opfer und erdrosselte sie.

Ferraris Kindheit war alles andere als glücklich. Bei seiner Geburt war seine Mutter gerade mal 18 Jahre alt, und gab das Kind in ein Heim. Ferrari sagte später: „Ich wurde von meiner Mutter nie geküsst, in den Arm genommen oder getröstet. Ich wurde nur hin- und hergeschoben. Die Mutter heiratet. Nachdem Ferrari kurze Zeit wieder bei ihr lebt, kam er mit 12 Jahren wieder ins Heim. Ihm wird, nach ärztlicher Begutachtung, eine schizoide Persönlichkeitsstörung bescheinigt. Mit 16 Jahren zieht er wieder zu seiner Mutter, legt Brände und begeht Diebstähle. Mit 18 Jahre kommt er in eine Erziehungsanstalt und mit 19 wird er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Ferrari übte verschiedene Tätigkeiten als Hilfsarbeiter aus.

1971 beging Ferrari seine erste Kindstötung: In Reinach BL ermordete er den 10-jährigen Daniel Schwan. Ferrari wurde zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe verurteilt und nach acht Jahren Haft aus der Zürcher Strafanstalt in Regensdorf vorzeitig entlassen.

Zwischen 1980 und 1989 verschwanden in der Schweiz 21 Kinder, 14 davon wurden missbraucht und ermordet aufgefunden. Von 7 Kindern, darunter Peter Roth (8) aus Mogelsberg SG, Sarah Oberson (5) aus Saxon VS und Edith Trittenbass (9) aus Gass-Wetzikon TG, fehlt trotz intensiver Suchaktionen bis heute jede Spur.

Am 30. August 1989, vier Tage nach der Ermordung Fabienne Imhofs, meldete sich Werner Ferrari telefonisch bei der Polizei – und erklärte, er habe mit ihrem Tod nichts zu tun. Kurz darauf wurde er in seiner Wohnung in Olten verhaftet, und er legte in vier Fällen Geständnisse ab. Ferrari bestritt jedoch vehement den Mord an der 12-jährigen Ruth Steinmann, die am 16. Mai 1980 in einem Waldstück bei Würenlos aufgefunden wurde.

1995 wurde Ferrari vom Bezirksgericht Baden AG wegen fünffachen Mordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt, darunter auch für die Tat an Ruth Steinmann. Sieben Jahre später wurden durch die Recherchen des Journalisten und Buchautors Peter Holenstein von der Schweizer Zeitung „Weltwoche“ Hinweise entdeckt, die zeigten, dass Ferrari für den Mord an Ruth Steinmann nicht verantwortlich sein konnte. Unter anderem ergab eine vom Journalisten veranlasste DNA-Analyse, dass ein Schamhaar, welches auf der Leiche von Ruth Steinmann gesichert werden konnte, nicht von Ferrari stammte.

Opfer, chronologisch nach Tatzeitpunkt:

06.08.1971 – Daniel Schwan (10) aus Reinach

27.10.1983 – Benjamin Egli (10) aus Kloten

10.09.1985 – Daniel Sutter (7) aus Rümlang

17.10.1987 – Christian Widmer (10) aus Windisch

26.08.1989 – Fabienne Imhof (9) aus Hägendorf

Zwischen 1980 und 1989 wurden in acht Kantonen elf Kinder im Alter zwischen 6 und 14 Jahren entführt. Während sieben ermordet aufgefunden wurden, gelten vier bis heute als vermisst. Die Handschrift der Verbrechen wies auf einen psychisch abnormen Täter mit sadistischen Zügen hin. Die Fahndung nach ihm lief fast zehn Jahre ins Leere, denn von einer Ausnahme abgesehen, hatte er keine verwertbaren Spuren hinterlassen. Und diese Ausnahme führte zu dem bereits erwähnten Revisionsprozess.

Der Name des Kindermörders wurde bereits 1982 erstmals aktenkundig. Nach der Ermordung des 14-jährigen Stefan Brütsch in Büttenhardt SH wiesen die Kripos Bern und Basel auf den 36-jährigen Werner Ferrari hin. Dieser hatte am 6. August 1971 in Reinach BL den 10-jährigen Daniel Schwan ermordet und war 1979 vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Doch man unterließ es, Ferrari genau zu überprüfen.

Während der Untersuchungshaft in Solothurn schrieb Ferrari detaillierte Geständnisse in vier Fällen nieder. Neben dem Mord an Fabienne Imhof gab er zu, 1983 den 10-jährigen Benjamin Egli aus Kloten, 1985 den 7-jährigen Daniel Suter aus Rümlang sowie 1987 den 10-jährigen Christian Widmer aus Windisch entführt und umgebracht zu haben.

In diesem Waldstück bei Würenlos fand Felix Steinmann am 16. Mai 1980 die Leiche seiner Tochter.

Was folgte, waren zwei aufsehenerregende Prozesse. Der erste im Jahr 1994 platzte nach einem Eklat: Am zweiten Prozesstag zog Ferrari seine Geständnisse zurück, worauf sein amtlicher Verteidiger, ein 81-jähriger Zürcher Scheidungsanwalt, das Handtuch warf. Im zweiten Verfahren, das 1995 vor dem Bezirksgericht Baden stattfand, amtierte der Aargauer Martin Ramisberger als neuer Pflichtverteidiger. Am 8. Juni 1995 wurde Ferrari wegen fünffachen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, darunter auch für jene Tat, die er immer bestritten hatte: den Mord an Ruth Steinmann.

In ihrem Haus in Würenlos warteten die Eltern Steinmann am Nachmittag des 16. Mai 1980 vergeblich auf ihre Tochter Ruth. Die 12-Jährige, ein selbst- und pflichtbewusstes Mädchen, galt als absolut zuverlässig. Ihren Weg zum Bezirksschulhaus in Wettingen legte sie mit dem Fahrrad zurück. Um der stark frequentierten Kantonsstrasse auszuweichen, nahm sie jeweils eine Abkürzung, die entlang des Waldstückes «Chefihau» führt. Als Ruth um 18 Uhr noch immer nicht zu Hause eingetroffen war, machten sich ihre Eltern auf die Suche.

Während Felix Steinmann zum Schulhaus nach Wettingen fuhr, machte sich seine Frau zu Fuß auf den Weg. Beim Waldstück «Chefihau» entdeckte sie ein Moped, das an einen Baum gelehnt war. Auf dem Benzintank konnte sie das Wort «Caravelle» lesen. Kurze Zeit später traf auch Felix Steinmann beim «Chefihau» ein. Ihre Rufe nach Ruth verhallten im Wald.

Während seine Frau weiter Richtung Bahnhof Würenlos lief, sah Felix Steinmann plötzlich, wie ein Mann auf dem Moped sitzend aus dem Wald kam. Er beschrieb ihn später als «schlanken, etwa 20-jährigen Burschen mit blondbraunen, vorne etwas abstehenden Haaren, der eine markante Brille und eine braune Lederjacke trug». Als der Unbekannte Steinmann erblickte, wendete er sein Fahrzeug und fuhr in entgegengesetzter Richtung davon.

Auf einem Trampelpfad durchquerte Vater Steinmann darauf das Waldstück. Zunächst fand er Ruths Fahrrad und wenig später die nackte Leiche seiner Tochter. Der Mörder hatte ihr den Pullover um den Hals verknotet, und tief in ihrem Mund steckte eine Socke. Bei der linken Brustwarze waren blutunterlaufene Abdrücke einer Zahnspur sichtbar: Der Täter musste mit aller Kraft zugebissen haben.

Werner Ferrari

Eine vielversprechende Spur fand die Kripo auf dem Gesäß des Opfers: ein Haar. Die kriminaltechnische Untersuchung ergab, «dass es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um ein Schamhaar handelt, welches dem Täter zugeordnet werden muss». Ebenfalls gesichert wurden Abdrücke von kleinen Schuhsohlen einer Person, «die in Richtung Würenlos gerannt sein muss». Und nahe dem Tatort wurde ein Schüleretui gefunden, welches nicht Ruth gehörte.

Ein weiteres Fundstück war ein 33 Zentimeter langes Aststück, das neben dem Opfer lag. Obwohl ein direkter Zusammenhang mit dem Mord nicht erkannt werden konnte, erschien die Lage des Holzstückes doch wichtig genug, dass es gerichtlich sichergestellt wurde, zumal zwischen dem Standort des Mofas und dem Tatort die passenden Gegenstücke des Astes gefunden wurden. Damit stand fest, dass das Aststück frisch abgebrochen worden war.

Nach Ferraris Verhaftung erhielt das sichergestellte Aststück einen neuen Stellenwert. Denn auch andere Kinder, die zwischen 1980 und 1989 ermordet wurden, waren mit einem frisch abgebrochenen Ast geschändet worden. Aus diesem Grund kontaktierten die Untersuchungsbehörden im September 1989 den damaligen Pathologen des Kantonsspitals Aarau und ersuchten ihn, die Verletzungen bei Ruths Genitalbereich nochmals zu beurteilen. Das Gutachten kam zum Schluss, «dass die Verletzungen von der Manipulation mit einem Aststück herrühren können».

Nachdem die Medien ausführlich über die schreckliche Tat im «Chefihau» berichteten, meldete sich bei der Polizei ein Zeuge. Auslöser war der Hinweis im veröffentlichten Signalement des unbekannten Mofafahrers, wonach der Gesuchte eine braune Lederjacke trug.

Der Nachtwächter Emil Hiestand (Name geändert) hatte am Abend des Tattages eine ungewöhnliche Beobachtung gemacht: «Gegen 21 Uhr beobachtete ich in Regensdorf einen zirka 20- bis 23-jährigen Mann, der eine Brille sowie eine braune Lederjacke trug. Er schaute sich nach allen Seiten um und warf dann die Jacke in die Wiese.» Während sich der Unbekannte mit schnellen Schritten entfernte, las Hiestand die Jacke auf und nahm sie mit nach Hause. Ferrari, der zum Zeitpunkt der Tat einen markanten Schnauzbart trug (ein solcher war beim «Unbekannten» weder Vater Steinmann noch dem Nachtwächter aufgefallen!), bestritt immer, jemals eine braune Lederjacke besessen zu haben. Am Prozess ersuchte ihn der Gerichtspräsident, das Kleidungsstück probehalber anzuziehen. Dabei stellte sich heraus, dass Ferrari die Jacke viel zu groß war.

 

Nach Ferraris Verhaftung schlug Professor Walter Bär, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich (IRM), vor, das auf der Leiche sichergestellte Schamhaar einer Untersuchung zu unterziehen, die in Europa noch weitgehend unbekannt war: einer DNA-Analyse. Bärs amerikanischer Kollege, Professor George F. Sensabaugh von der University of California, Berkeley, anerbot sich, vom Haar ein DNA-Profil zu erstellen, das mit jenem von Ferrari hätte verglichen werden können.

Anfang April 1990 wurde das Haar Professor Sensabaugh zugestellt. Fünf Jahre lang blieb es in seinem Institut archiviert, ohne dass sich jemand für seinen Verbleib interessierte. Erst als sich Ferraris Verteidiger vor Prozessbeginn nach dem Resultat der Analyse erkundigte, erinnerte man sich wieder daran. Doch diese war nie durchgeführt worden, und der Prozess fand 1995 ohne dieses Beweismittel statt. Einige Wochen später erhielt Professor Bär Post aus den USA: Das versiegelte Schamhaar wurde ihm wieder zugestellt. Er legte es zur entsprechenden Fallakte im IRM, wo es für weitere sechs Jahre liegen blieb. Die Untersuchungsbehörden hielten es offenbar nicht mehr für nötig, sich weiter um diese Sache zu kümmern. Beim Studium der Gerichtsakten, in die ich für mein Buch über das Leben und die Taten von Werner Ferrari integral Einsicht hatte, stieß ich im Frühjahr 2001 auf die verpasste DNA-Analyse. Auf meine Anfrage, ob sich das Schamhaar vielleicht noch immer im IRM befinde, teilte mir Professor Bär mit: «Das seinerzeit asservierte Einzelhaar befindet sich tatsächlich noch bei uns, da wir vom Gericht nie instruiert wurden, wie mit diesem Asservat weiter zu verfahren sei.»

Mit dem Einverständnis der Aargauer Justizbehörden wurde Peter Holenstein erlaubt, am Institut für Rechtsmedizin der Universität Lausanne die verpasste DNA-Vergleichsanalyse auf eigene Kosten durchzuführen. Am 11. September 2001 stand fest: «Werner Ferrari kann mit Sicherheit als Spurengeber ausgeschlossen werden», so das IRM Lausanne. «Zwischen dem Haar und Werner Ferrari besteht keine Identität.»

Die Frage, weshalb Ruth Steinmann vom Fahrrad gestiegen und ihrem Mörder freiwillig zum Tatort gefolgt war, beschäftigt die Eltern bis heute. «Ich bin überzeugt», so Felix Steinmann, «dass sich das Verbrechen niemals so zugetragen hat, wie das vom Gericht angenommen wurde. Ich schließe nicht aus, dass Ruth von einer Person, die sie gekannt hat, unter irgendeinem Vorwand in den Wald gelockt wurde.»

Diese Vermutung wurde genährt, als Mitte Februar 2000 die 32-jährige Hanna Utz (Name geändert) bei der Opferhilfe Aarau vorsprach und von einer schrecklichen Erfahrung erzählte, die sie als Kind gemacht habe. Damals sei sie von ihrem Onkel, der 1998 im Kantonsspital Baden an Krebs gestorben sei, sexuell missbraucht worden. Ein besonders traumatisches Erlebnis würde sie jedoch noch mehr belasten: Als 12-Jährige habe sie nämlich vor 20 Jahren beim Mord an Ruth Steinmann als Lockvogel für die Täterschaft gedient. Und zu dieser habe neben ihrem Onkel auch Werner Ferrari gehört. Sie habe damals die mit dem Fahrrad herannahende Ruth angehalten und dazu bewogen, mit ihr in den Wald hineinzugehen. Dort habe sie mit ansehen müssen, wie Ruth von ihrem Onkel malträtiert wurde und schliesslich erstickt sei. Ferrari sei erst am Tatort aufgetaucht, als das Mädchen schon tot war. Als sie gehört habe, wie die Eltern von Ruth nach ihrer Tochter riefen, sei sie vom Tatort weggeflüchtet. Seit sie sich des schrecklichen Geschehens wieder bewusst sei, leide sie unter starken Schuldgefühlen und habe Angst vor der Reaktion von Ruths Eltern. Seit einiger Zeit sei sie deswegen bei einem Psychologen in Behandlung, und dieser habe ihr geraten, sich an die Opferhilfe zu wenden.

Der Leiter der Opferhilfe empfahl Hanna «mit viel Vorbehalt», sie solle sich der Polizei anvertrauen, und informierte die zuständigen Behörden über den Vorfall.

Nachdem im März 2000 im Tages-Anzeiger-Magazin ein Artikel erschienen war, in dem ich mich mit der schizoiden Persönlichkeitsstruktur Werner Ferraris auseinander setzte, erhielt ich einen Anruf der mir bis dahin nicht bekannten Hanna. Sie erklärte, dass sie Ruth aus dem Schulhaus in Wettingen gekannt habe und sich an ihrem Tod mitschuldig fühle. In der Folge kam es zu einigen persönlichen Treffen, bei denen sie mir bezüglich des Tatablaufs von Umständen berichtete, die nie in den Medien veröffentlicht worden waren, so zum Beispiel, dass Ruth an einer Socke erstickt sei und in welcher Lage das Opfer tot liegen geblieben war.

Fragen stellten sich: Weshalb hat Hanna zwanzig Jahre lang geschwiegen? Warum hat sie sich nie jemandem anvertraut? Ihre Erklärung: Nach der Tat habe sie die Erinnerung an das schreckliche Geschehen vollständig verdrängt: «Es hat einfach plötzlich nicht mehr existiert.» Erst vor drei Monaten sei die Erinnerung wegen eines ungewöhnlichen Ereignisses «wieder durchgebrochen».

Dieses Ereignis schien den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen zu bekräftigen: «Als Ende Dezember 1999 der Sturm ‹Lothar› wütete», erzählte Hanna, «hörte ich fast die ganze Nacht das Knacken von Ästen. Das Geräusch von brechendem Holz rief mir plötzlich wieder jenes Bild wach, wie das Stück Holz aus einem Ast herausgebrochen wurde, mit dem man Ruth zu schänden versucht hatte.» Zumindest dieses Detail konnte praktisch nur jemand wissen, der beim Mord an Ruth dabei war. Denn dass es sich um ein Aststück handelte, das frisch abgebrochen worden war, wurde nie öffentlich bekannt.

Da sich Hanna vor einer polizeilichen Untersuchung fürchtete, versprach ich ihr, mich dafür einzusetzen, dass sie zunächst nicht polizeilich befragt werde, sondern vom bekannten Gerichtspsychiater Mario Etzensberger. Dieser erklärte sich Anfang Mai 2000 dazu bereit, und auch der Aargauer Kripo-Chef Urs Winzenried zeigte Verständnis für mein Anliegen. Dennoch musste auf die Befragung verzichtet werden. Staatsanwalt Erich Kuhn hatte nämlich inzwischen verfügt, dass nicht ermittelt werde, weil der von Hanna bezeichnete Täter gestorben sei. Am 15. Juni 2000 meldete sich Hanna noch einmal: Sie telefonierte der Aargauer Kripo und erklärte erneut, dass sie sich an Ruths Tod mitschuldig fühle und Angst vor der Reaktion von Ruths Eltern habe. Im Übrigen habe sie sich entschlossen, keine Aussagen mehr zu machen.

Dass im Fall Ruth Steinmann 24 Jahre nach der Tat nun doch neu ermittelt wird, hängt weniger mit der verpassten DNA-Analyse oder mit Hannas Aussagen zusammen.

Aufgrund von Holensteins Recherchen hob das Obergericht des Kantons Aargau 2004 das Urteil gegen Ferrari im Fall Ruth Steinmann auf und wies es zur Neubeurteilung ans Bezirksgericht Baden zurück. In der Folge wurde ein der Tat an Ruth Steinmann Verdächtigter exhumiert, der im März 1983 in Wolfhalden AR Suizid begangen hatte. Ein zahnmedizinisches Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich ergab, dass die Bissspuren am Körper des Mädchens mit Sicherheit nicht von Ferrari, sondern von jenem 1983 verstorbenen Mann stammten, der Ferrari sehr ähnlich sah. In einem landesweit beachteten Revisionsprozess wurde Werner Ferrari daraufhin am 10. April 2007 vom Bezirksgericht Baden für den Mord an Ruth Steinmann für unschuldig befunden und freigesprochen; er bleibt jedoch wegen der vier anderen Fälle inhaftiert.

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