Canaris Abwehrchef unter Hitler

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Weil sich auf eine solche Dienstrang-Logik freilich keine historisch-juristische Wahrheitsfindung gründen lässt, bleibt das Ende um den Tod von Rosa Luxemburg weiter ungeklärt.

Lüttwitz-Kapp-Putsch

Nachdem am 29. Februar 1920 Noske einer Anweisung der Interalliierten Militärkontrollkommission folgend, die Marinebrigaden Ehrhardt und Loewenfeld aufgelöst hat und dieser Anordnung Reichswehrgeneral Walther von Lüttwitz widersetzte, wechselte Canaris den Dienstherrn und revoltierte er im Gefolge von Generallandschaftsdirektor Kapp und General von Lüttwitz gegen die Republik; Canaris blieb in der Adjutantur des Reichswehrministers.

Lüttwitz besetzt am 13. März mit der Marinebrigade Ehrhardt das Berliner Regierungsviertel und ernennt Wolfgang Kapp zum Reichskanzler.

Artikel 160 des Versailler Vertrags verfügte die Reduzierung des deutschen Heers auf 100.000 Berufssoldaten und die Auflösung der aus Freiwilligen bestehenden Freikorps. Putschbestrebungen frustrierter und von der Entlassung bedrohter Freikorpsoffiziere trafen mit Umsturzplänen der im Oktober 1919 gegründeten Nationalen Vereinigung, einer Nachfolgeorganisation der Deutschen Vaterlandspartei, zusammen. Einer der führenden Köpfe des gegen die Weimarer Republik gerichteten rechtsextremen Verschwörerkreises war der ostpreußische Generalland-schaftsdirektor Wolfgang Kapp, der intensiven Kontakt zum ranghöchsten General der Reichswehr, Walther von Lüttwitz, unterhielt.

Nach der Anweisung der Interalliierten Militärkontrollkommission, löste Reichswehr-minister Gustav Noske am 29. Februar 1920 die 6.000 Mann starke Marinebrigade von Hermann Ehrhardt und das Freikorps Loewenfeld auf. Dem widersetzte sich Reichswehrgeneral von Lüttwitz, der am frühen Morgen des 13. März an der Spitze der ihm unterstehenden Marinebrigade Ehrhardt, deren Angehörigen als Ausdruck ihrer völkischen Gesinnung häufig ein Hakenkreuz auf ihrem Helm trugen, das Berliner Regierungsviertel besetzte und Kapp zum Reichskanzler ernannte. Da die Reichswehr nicht bereit war, gegen die Putschisten militärisch vorzugehen, floh die Mehrzahl der Minister mit Reichskanzler Gustav Bauer und dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert aus Berlin. Noch im Laufe des 13. März erschien in allen größeren Städten ein von den sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern und vom Parteivorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) Otto Wels unterzeichneter Aufruf zum Generalstreik, der insbesondere in der Reichswehr so starke Irritationen auslöste, dass die Reichsregierung sich umgehend von diesem Aufruf distanzierte.

Lüttwitz leitete im Januar 1919 die Niederschlagung des Spartakusaufstandes. Ihm unterstellte Truppen sind an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beteiligt. Im Mai 1919 wurden für den Konfliktfall Lüttwitz alle militärischen Truppen im Reich unterstellt. Lüttwitz setzt sich jedoch nicht für eine loyale Haltung des Militärs gegenüber der neuen politischen Ordnung ein, sondern - mit konspirativen Kontakten - für den Sturz der Weimarer Republik. Am 12. März 1920 löst Lüttwitz mit Wolfgang Kapp zusammen den so genannten Lüttwitz-Kapp-Putsch aus, der jedoch militärisch unzulänglich vorbereitet ist. Die Reichsregierung sollte verhaftet werden und die Republik durch eine autokratische Militärherrschaft ersetzt werden.

Walther Freiherr von Lüttwitz Wolfgang Kapp

Der Putsch war nach vier Tagen beendet. Entscheidend für das Scheitern des Staatsstreichs war die Weigerung der Ministerialbürokratie, den Anordnungen Kapps Folge zu leisten. Zudem zeigte auch der Generalstreik mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Dienstleistung verheerende Wirkung. In Sachsen, in Thüringen und im Ruhrgebiet versuchten linksgerichtete Kräfte jedoch, den Generalstreik zur "proletarischen Revolution" voranzutreiben. Gegen die Märzaufstände von 1920 setzte die Reichsregierung wiederum Freikorps ein, darunter auch die Marinebrigade Ehrhardt.


Teile der vorgewarnten Regierung mit dem Reichskanzler Gustav Bauer verlassen Berlin, bevor Lüttwitz mit der Marinebrigade Ehrhardt die Stadt kampflos einnimmt. Kapp setzt sich als Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ein und beruft Lüttwitz zum Reichswehrminister und Oberbefehlshaber der Reichswehr. In Verhandlungen mit der abgesetzten Regierung wird der Putsch friedlich beigelegt. Er scheitert zudem an dem Widerstand der Zivilbehörden, dem Generalstreik der Arbeiterschaft und der fehlenden militärischen Unterstützung. Kapp überlässt Lüttwitz die alleinige Führung und flieht ins Ausland. Lüttwitz selbst tritt am Abend zurück. Lüttwitz entzieht sich einer strafrechtlichen Verurteilung seines "Hochverratsdelikts", indem er zunächst nach Österreich übersiedelt.

Im April1922 stellt sich Kapp nach zweijährigem Exil in Schweden dem Reichsgericht, um seine Zielsetzung offen zu legen. Am 12. Juni stirbt er in der Untersuchungshaft in Leipzig an einer Krebserkrankung.

Das Scheitern des so genannten Spartacus-Aufstands sowie die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts durch Mitglieder eines Freikorps radikalisierten einen erheblichen Teil der Arbeiter. Sie fühlten sich verraten von der Politik der SPD, die ihre Kontakte zur Armeeführung, den bürgerlichen Parteien und zu Wirtschaftsführern stetig intensivierte. Die einstmals so geschlossene Front der Arbeiterschaft war tief gespalten. Bei Landtags- und Gemeindewahlen im Frühjahr 1919 gaben viele ehemalige SPD-Wähler ihre Stimme den Kommunisten oder der USPD, die in zahlreichen Orten die SPD überflügelte. Viele dieser Wähler beteiligten sich auch an Streiks und revolutionären Unruhen, die nach der Wahl zur Nationalversammlung und der Einsetzung des Kabinetts unter Philipp Scheidemann bis zum Frühsommer 1919 weite Teile des Deutschen Reichs erfassten. Im Ruhrgebiet und im mitteldeutschen Bergbaugebiet um Halle/Saale kam es zu Generalstreiks und blutigen Auseinandersetzungen mit Regierungstruppen. Bereitwillig beteiligten sich Freikorps im März 1920 am rechtsgerichteten Lüttwitz-Kapp-Putsch.

Mitglieder der Marinebrigade von Hermann Ehrhardt, die mit Walther Freiherr von Lüttwitz in Berlin einmarschiert waren und als Zeichen ihrer völkischen Gesinnung ein Hakenkreuz auf dem Stahlhelm trugen, wurden in geringer Zahl von der Reichswehr übernommen. Andere Freikorpsmitglieder fanden Unterschlupf in der von Ehrhardt gegründeten geheimen Organisation Consul (OC), die für die Ermordung führender republikanischer Politiker wie Matthias Erzberger oder Walther Rathenau verantwortlich war. Auch der Stahlhelm und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) rekrutierten Mitglieder aus Freikorpsverbänden, die gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrags im Frühjahr 1920 offiziell aufgelöst werden mussten.


Zahlreiche aufgelöste Freikorpseinheiten wurden im Mai 1921 noch einmal reaktiviert, um in den Monaten vor der Teilung Oberschlesiens den Kampf gegen polnische Übergriffe wiederaufzunehmen, für den der aus Freikorps rekrutierte "Grenzschutz Ost" in Schlesien bereits 1919 mit der Parole "Schützt die Heimat" geworben hatte.

Der Weg zu Hitler

Nach dem gescheiterten Putschversuchs von Walther von Lüttwitz und Wolfgang Kapp im März 1920, den Canaris aktiv unterstützte, wird er inhaftiert, kommt aber bald wieder frei und wird im Juli desselben Jahres Erster Offizier auf dem Kreuzer „Berlin“.


Der Kreuzer „Berlin“

Vier Jahre später ist er Mitglied der Marineleitung, 1930 Stabschef der Nordseestation. 1932 übernimmt er als Kapitän das Kommando über das Linienschiff „Schlesien“.

Als im Jahr darauf die Nationalsozialisten an die Macht kommen, steht der erklärte Anti-Kommunist der neuen Regierung wohlwollend gegenüber. Er ist sogar der Meinung, dass „der Offizier den Nationalsozialismus vorzuleben hat“.


Die „Schlesien“

Die Machtergreifung Hitlers

Von entscheidender Bedeutung für den starken Zulauf der Nationalsozialisten und der Kommunisten war die Weltwirtschaftskrise, die Deutschland weit härter traf als andere europäische Staaten. Nach dem dramatischen Kurseinbruch vom 25. Oktober 1929 an der New Yorker Wall Street wurden die kurzfristigen Auslandskredite aus Deutschland abgerufen. Der vor allem mit ausländischen Krediten finanzierte Wirtschaftsaufbau brach in sich zusammen, die ohnehin hohe Arbeitslosenzahl stieg bis auf über sechs Millionen, Armut und Verzweiflung griffen um sich. Über den Umfang der notwendigen Beitragserhöhung für die Arbeitslosenversicherung gerieten SPD und Deutsche Volkspartei (DVP) in der Großen Koalition in heftigen Streit.

Am 27. März 1930 trat das Kabinett unter Hermann Müller, die letzte von einem Sozialdemokraten geführte Reichsregierung, zurück. Der Übergang zu den verfas-sungsrechtlich problematischen "Präsidialkabinetten" begann. Da es keine parlamentarische Mehrheit für eine arbeitsfähige Regierung gab, beauftragte Hindenburg den Zentrumspolitiker Heinrich Brüning mit der Bildung einer Minderheitsregierung, deren eigentliche Machtbasis das Recht des Reichspräsidenten zum Erlass von Notverordnungen und zur Auflösung des Reichstags war. Mehr als zwei Jahre betrieb Brüning eine energische Sparpolitik, bevor die "ostelbische" Kamarilla es schaffte, den Reichspräsidenten auf den Rücktritt Brünings festzulegen.

 

Am 1. Juni 1932 ernannte Hindenburg das "Kabinett der nationalen Konzentration" mit Franz von Papen als Reichskanzler. Durch eine staatsstreichartige "Reichsexekution" setzte die Regierung Papen die von dem Sozialdemokraten Otto Braun geführte Preußische Regierung am 20. Juli 1932 ab. Mit dem "roten" Preußen war die letzte demokratische Bastion des Reichs gefallen. Ein Generalstreik gegen den "Preußenschlag" schien angesichts der sechs Millionen Arbeitslosen wenig Erfolg versprechend.

Wie sehr sich die innenpolitischen Gewichte verschoben hatten, war schon bei der Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten deutlich geworden. Im Frühjahr 1932 wurde er vor allem von den demokratisch-republikanischen Parteien unterstützt. Sein schärfster Konkurrent war Adolf Hitler, für den im zweiten Wahlgang über 13 Millionen Wähler stimmten. Bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 erhielt die NSDAP dann über 37 Prozent aller Stimmen, die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) kam auf über 14 Prozent.

Die Wähler hatten den "bürgerlichen" Parteien und der parlamentarischen Demokratie auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise eine klare Absage erteilt. Den "böhmischen Gefreiten" zum Reichskanzler zu ernennen, scheute Hindenburg sich zwar, doch Hitler stellte nicht nur die mit Abstand größte Reichstagsfraktion, sondern seine SA hatte in blutigen Kämpfen inzwischen auch "die Straße" erobert. Die während der Revolution 1918/19 noch unüberhörbaren Stimmen der Vernunft aus dem demokratisch-pazifistischen Lager waren 1932/33 im Getöse der "Sieg-Heil"- und "Rot-Front"-Rufe untergegangen. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war das Ende der Weimarer Republik am 30. Januar 1933 besiegelt.

Als am Abend des 30. Januar 1933 Anhänger der Nationalsozialisten den lang ersehnten "Tag der Machtübernahme" mit Fackelzügen durch das Brandenburger Tor feierten, markierten die triumphierenden Kundgebungen auch symbolisch das Ende der Weimarer Republik. Wenige Stunden zuvor hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg den Vorsitzenden der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler, zum neuen Reichskanzler ernannt. Hitlers Absicht, eine von jeder Kontrolle durch den Reichstag befreite, autoritäre Regierung zu etablieren, die das von vielen Deutschen empfundene "demokratische Chaos" der Weimarer Jahre überwinden sollte, verwirklichten die Nationalsozialisten innerhalb kürzester Zeit. Unter Wahrung des Anscheins verfassungsmäßiger Legitimität verstanden sie es, politische Gegner auszuschalten und sich der staatlichen Machtinstrumente zu bemächtigen. Als diese "nationale Erhebung" im Sommer 1934 ihren Abschluss fand, waren Demokratie und Pluralismus in Deutschland zerstört, ohne dass es zu nennenswerter Gegenwehr gekommen wäre.


Fackelzug 1933

1934 wird der sich zum Nationalsozialismus und zu Hitler bekennende Canaris zum Festungskommandant von Swinemünde berufen. Swinemünde ist eine Stadt mit mehr als 41.000 Einwohnern im Nordwesten Polens auf den Inseln Usedom (Uznam), Wollin (Wolin) und Kaseburg (Karsibór) an der Ostsee. Sie bildet einen eigenen Stadtkreis in der Woiwodschaft Westpommern und ist der Vorhafen von Stettin. Die Stadt liegt in dem etwa drei Kilometer breiten Landstreifen der Insel Usedom, der nach dem 2. Weltkrieg zu Polen kam. Der Stadtkern wird im Osten von der Swine begrenzt, die die Inseln Usedom und Wollin voneinander trennt. Am Ostufer befinden sich die Stadtteile Osternothafen und Ostswine. 1852 wurde Swinemünde Garnisonsstadt.


Ostseebad Swinemünde um 1930 (Postkarte)

Eigentlich plant man, den Kapitän zur See und jetzigen Festungskommandanten Canarsi 1935 in den Ruhestand zu versetzen, doch als sich der amtierende Chef der Abwehr, Patzig, mit Reichskriegsminister von Blomberg überwirft, nennt er der Marineleitung ausgerechnet Canaris als möglichen Nachfolger. Da man befürchtet, den Posten ohne Amtsnachfolger aus den eigenen Reihen an die Heeresführung abgeben zu müssen, lässt sich die Admiralität schließlich überzeugen. Am 01. Januar 1935 wird Canaris Chef der Abwehr.

Als Chef der Abwehr

Nach der Niederlage im ersten Weltkrieg wurde mit dem Reichsheer auch der deutsche militärische Geheimdienst aufgelöst. In den Jahren 1919 und 1920 gab es keinen militärischen deutschen Geheimdienst. Im Frühjahr 1920 begannen einige ehemalige Mitarbeiter unter Major Friedrich Gempp, dem ehemaligen Stellvertreter Walter Nicolais, im Rahmen der „vorläufigen Reichswehr“, eine Abwehrdienststelle einzurichten. Als offizielles Gründungsdatum der Abwehr kann der 1. Januar 1921 genannt werden – Der Tag der Bildung des Reichswehrministeriums. Organisatorisch war die Abwehr eine Gruppe im Reichswehrministerium. Zum 1. April 1928 ordnete Reichswehrminister Groener auf Vorschlag Kurt von Schleichers die Zusammenlegung der Gruppe Abwehr mit dem Marinegeheimdienst an und erhöhte die neue Dienststelle zur Abteilung. Gleichzeitig verbot er jeder anderen Dienststelle jede konkurrierende Abwehrtätigkeit.

Die Abwehr der 20er Jahre war zu klein, um ihre Aufgaben erledigen zu können. Sie kann erst unter Conrad Patzig als funktionsfähiger Geheimdienst angesehen werden. Mit der Wiederaufrüstung unter Hitler erhielt die Abwehr deutlich mehr Geld und Personal. Doch die Aufgaben wuchsen schneller als der Mittelzufluss. So war die Abwehr zu jeder Zeit ihres Daseins dem Gegner deutlich unterlegen. Besonders in den ersten Jahren des Dritten Reiches nahm die Abwehr auch Aufgaben wahr, die eigentlich der Gestapo zustanden, da diese erst im Aufbau begriffen war.

Der erste Tag als Abwehrchef

Um acht Uhr kam der neue Chef. Pförtner Gallmüller, Urberliner und seit Jahren Türhüter in dem geheimnisumwitterten Haus 72-76 am Tirpitz-Ufer, nahm so etwas wie stramme Haltung an, als der kleine, weißhaarige Mann in der blauen Marineuniform an ihm vorbeiging.

Gallmüller schaute auf das Kalenderblatt; es zeigte den 2. Januar 1935 an. Er wusste nicht, dass es ein historischer Tag war: Kapitän zur See Wilhelm Franz Canaris, Leiter der Abwehrabteilung des Reichswehrministeriums trat sein neues Amt an.

Canaris ging weiter; den Weg zu dem altersschwachen Fahrstuhl, der ihn in die Abwehrabteilung bringen sollte, kannte er nur allzu gut. Das verwahrloste, enge Etagenhaus am Berliner Landwehrkanal, wegen seiner ebenso dunklen wie winkligen Gänge, Mauerdurchbrüche und Zimmer von den Berlinern „Fuchsbau“ genannt, war einst Sitz des Reichsmarineamtes gewesen, in dem auch der Kapitänleutnant Canaris kurz nach Kriegsende gedient hatte.

Im dritten Stock hielte der Fahrstuhl. Canaris stieg aus und ließ sich das eiserne Scherengitter öffnen, das die Abwehrabteilung vor unwillkommenen Besuchern schützte. Die meisten Zimmer der Abteilung waren zu dieser Stunde noch unbesetzt, so früh erschien das Personal nicht.

Beim Vorübergehen warf Canaris einen Blick in die Räume; es war ein armselige und düstere Quartier. Ein ehemaliger Abwehrangehöriger beschreibt sie so: „Schreibtisch, Tisch, einige Stühle, dazu Kleiderspind, Waschtisch und Feldbett, alles Typ Kaserne, sowie ein Panzerschrank – das war die normale Ausstattung eines Zimmers. Bei Gruppenleitern bildeten ein oder zwei zerschlissene Sessel, oft nur auf drei Beinen, vielleicht auch ein Sofa und ein Radio den Inbegriff des Luxus.“

Am Ende des Ganges lagen die Räume des Abteilungschefs; ein kleines Vorzimmer, in dem bereits Chefsekretärin Wera Schwarte und eine Kollegin warteten, daran anschließend das Chefzimmer, das auch eine Terrasse mit Blick auf den Landwehrkanal besaß. Als Canaris sein künftiges Büro betrat, erschrak er – sein Vorgänger, Kapitän zur See Conrad Patzig, hatte sein gesamtes Mobiliar mitgenommen. Doch bald brachten Packer Möbel für Canaris: ein Ledersofa, einen Schreib- und einen Konferenztisch, Aktenböcke, das unvermeidliche Feldbett, dazu viele Bücher, ein Tischmodell des Kleinen Kreuzers „Dresden“ und die drei aus China stammenden bronzene Affenfiguren, die die wichtigsten Geheimnistugenden („Sehen, Hören, Schweigen“) symbolisieren sollten.

Kurz darauf hatte es sich Canaris einigermaßen wohnlich eingerichtet. Er saß in einer Ecke an seinem Schreibtisch, als die herbei befohlenen Gruppen- und Untergruppenleiter zum ersten Mal ihren neuen Chef aus der Nähe sahen. Sie kamen nicht ohne Beklemmung, denn fast allen war die Abschiedsfeier für den beliebten, von dem NS-hörigen Reichswehrminister vom Blomberg gestürzten Abwehrchef Platzig an die Nieren gegangen. Gespannt blickten sie auf den Kapitän, der sich langsam von seinem Platz hinter dem Schreibtisch erhob.

Was die Offiziere sahen, schockierte sie. Statt des munteren und zupackenden Patzig trat ihnen ein scheinbar abgeschlaffter Mann entgegen, gebeugt gehend, fast schüchtern und mit leiser Stimme sprechend. Keiner hatte die Abwehroffiziere auf diesen Anblick vorbereitet, niemand von ihnen kannte damals schon die Wahrheit des Spruchs, mit dem später der Canaris-Freund Hartmut Plaas seine Bekannten vor Besuchen bei dem Abwehrchef aufklärte: „Der Admiral sieht nach gar nicht viel aus, aber er hat es faustdick hinter den Ohren.“

Canaris wirkte in der Tat farblos, unpersönlich und „hatte nichts besonderes Eindrucksvolles an sich“ wie ein Abwehroffizier notierte. Die Gruppen- und Untergruppenleiter prägten sich jede Äußerlichkeit ihres neuen Chefs ein: etwa 1,60 Meter groß, weiße Haare, rotes Seemannsgesicht mit buschigen Augenbrauen, müder, matter Blick, gebrechlich wirkende Schlankheit, unmilitärisches Auftreten, abgewetztes Uniformjackett mit EK 1, zurückhaltend, Fragen meist mit Gegenfragen beantwortend, zuweilen lispelnd. War das der energische, kompromisslose Mann, den sich die Abwehroffiziere nach dem demütigenden Abgang Patzigs als neuen Chef erhofft hatten?

Keiner mochte die Frage bejahen, fast alle waren enttäuscht. „Er erschien uns“, erinnert sich der ehemalige Abwehroffizier Gerhard Henke, „im Vergleich zu den frischen und drahtigen Kapitän Patzig für diese Stellung schon reichlich alt und verbraucht.“ Bei der ersten Begegnung mit den führenden Männern der Abwehr gebärdete sich der 48jährige Canaris sogar „ein wenig salopp“. Henke: „Seine Ansprache, die deutlich den neuen nationalsozialistischen Geist verriet, las er ab. Dann ließ er sich von uns berichten. Ich hatte dabei den Eindruck, dass ihm das Gähnen näher war als mein Bericht.“

Der Hauptmann Will Grosse hielte ihn später „eher für ein Impresario einer weltumspannenden Varite’-Agentur…als für einen hohen deutschen Militär“, dem Leiter der Abwehrgruppe III, Major Rudolf Barnler, galt er als schlechthin unmöglicher Abteilungschef, und ein frisch aktivierter Abwehr-I-Leutnant, zur Einarbeitung in die Abwehr-Zentrale versetzt, gratulierte sich, mit dem „blassen, undurchsichtigen Canaris“ nicht zusammenarbeiten zu müssen.

Vor allem die NS-Sprüche des neuen Abwehrchefs irritierten die Offiziere, solche Propagandasprache war man im internen Dienstbetrieb der Abwehr nicht gewohnt. Patzig hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihm das nationalsozialistische Regime herzlich zuwider war – Canaris aber gab sich als Repräsentant eben dieses Regimes. Er hatte ein klares Programm, das kaum zu den alten Patzig-Maximen passte: konfliktfreie Tuchfühlung mit allen Organen der braunen Staatspartei, „kameradschaftliche Zusammenarbeit zwischen Abwehr und Gestapo, dabei aber nüchterne, emotionslose Verteidigung der Abwehrkompetenzen gegenüber allen SS-Organen (Canaris: „Mit diesen Jungs werde ich schon fertig“).

Verwirrt, zum Teil bedrückt kehrten die Gruppen- und Untergruppenleiter in ihre Büros zurück. Was sie in den folgenden Tagen und Wochen über Canaris erfuhren, befreite sie nicht von dem bohrenden Verdacht, einen ungeeigneten Chef bekommen zu haben.

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