Philosophisches Taschenwörterbuch

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Philosophisches Taschenwörterbuch
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Voltaire

Philosophisches Taschenwörterbuch

Nach der Erstausgabe von 1764 zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übersetzt von Angelika Oppenheimer

Nachwort von Louis Moland

Herausgegeben von Rainer Bauer

Reclam

Herausgegeben im Auftrag der Voltaire-Stiftung, Bad Liebenwerda (www.voltaire-stiftung.org).

Die Arbeit an der vorliegenden Übersetzung wurde gefördert vom Deutschen Übersetzerfonds.

Durchgesehene Ausgabe 2021

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung nach einem anonymen Stich »Aux grands hommes la patrie reconnaissante«, um 1793. © akg-images

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961765-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011307-3

www.reclam.de

Inhalt

  Vorwort und Hinweise zur Benutzung

  Zwischenblatt

  ABRAHAM

  ÂME – Seele

  AMITIÉ – Freundschaft

  AMOUR – Liebe

  AMOUR NOMMÉ SOCRATIQUE – Sokratische Liebe (Homosexualität)

  AMOUR PROPRE – Eigenliebe

  ANGE – Engel

  ANTHROPOPHAGES – Menschenfresser

  APIS

  APOCALYPSE – Apokalypse

  ATHÉE, ATHÉISME – Atheist, Atheismus

  BAPTÊME – Taufe

  BEAU, BEAUTÉ – Schön, Schönheit

  BÊTES – Tiere

  BIEN. SOUVERAIN BIEN – Das Gute. Das höchste Gut

  TOUT EST BIEN – Alles ist gut

  BORNES DE L’ESPRIT HUMAIN – Die Grenzen des menschlichen Geistes

  CARACTÈRE – Charakter

  CERTAIN, CERTITUDE – Gewiss, Gewissheit

  CHAÎNE DES ÉVÈNEMENTS – Die Kette der Ereignisse

  CHAÎNE DES ÊTRES CRÉÉS – Die Kette der geschaffenen Lebewesen

  LE CIEL DES ANCIENS – Der Himmel in der Antike

  CIRCONCISION – Beschneidung

  CORPS – Körper

  DE LA CHINE – Über China

  CATÉCHISME CHINOIS – Chinesischer Katechismus

  CATÉCHISME DU JAPONAIS – Katechismus des Japaners

  CATÉCHISME DU CURÉ – Katechismus des Landpfarrers

  CHRISTIANISME – Christentum

  CONVULSIONS – Zuckungen

  CRITIQUE – Kritik

  DESTIN – Schicksal

  DIEU – Gott

  ÉGALITÉ – Gleichheit

  ENFER – Hölle

  ÉTATS, GOUVERNEMENTS – Staats- und Regierungsformen

  D’ÉZECHIEL – Über Ezechiel

  FABLES – Fabeln

  FANATISME – Fanatismus

  FAUSSETÉ DES VERTUS HUMAINES – Die Falschheit der menschlichen Tugenden

  FIN, CAUSES FINALES – Zweck und Zweckursachen

  FOLIE – Verrücktheit

  FRAUDE – Betrug

  GLOIRE – Ruhm

  GRÂCE – Gnade

  GUERRE – Krieg

  HISTOIRE DES ROIS JUIFS, ET PARALIPOMÈNES – Geschichte der jüdischen Könige und Paralipomena

  IDOLE, IDOLÂTRE, IDOLÂTRIE – Götzenbild, Götzendiener, Götzendienst

  JEPHTÉ – Jephta

  INONDATION – Überflutung

  JOSEPH – Josef

  DE LA LIBERTÉ – Über die Freiheit

  DES LOIS – Über die Gesetze

  LOIS CIVILES ET ECCLÉSIASTIQUES – Staatliche und kirchliche Gesetze

  LUXE – Luxus

  MATIÈRE – Materie

  MÉCHANT – Böse

  MESSIE – Messias

  MÉTAMORPHOSE, MÉTEMPSYCHOSE – Verwandlung, Seelenwanderung

  MIRACLES – Wunder

  MOÏSE – Mose

  PATRIE – Vaterland

  PIERRE – Petrus

  PRÉJUGÉS – Vorurteile

  RELIGION

  RÉSURRECTION – Auferstehung

  SALOMON

  SENSATION – Sinnliche Wahrnehmung

  SONGES – Träume

  SUPERSTITION – Aberglaube

  TIRANNIE – Tyrannei

  TOLÉRANCE – Toleranz

  VERTU – Tugend

  Anhang

  Zu dieser Ausgabe

  Literaturverzeichnis

  Personenverzeichnis

 

  Nachwort von Louis Moland

  Alphabetisches Verzeichnis der deutschen Stichwörter

Vorwort und Hinweise zur Benutzung

Voltaires Philosophisches Wörterbuch enthält Beispiele, Probestücke für aufgeklärtes Denken. Am Anfang steht dabei nicht das Wort, sondern die Beobachtung und die Erfahrung. Von diesen ›Eingangspforten‹ der Erkenntnis aus blicke man auf das, was unsere Vielwisser behaupten, die Autoritäten aus Wissenschaft, Politik und Kirche – und lache. Denn oft genug ist nur lächerlich, was sie ihren Schäfchen in voller Inbrunst der eigenen Machtvollkommenheit ein- und als bare Münze in vielen, Bibliotheken füllenden Büchern ausgeben, was doch, bei Licht betrachtet, oft wenig Wert besitzt – heute genauso wie vor 250 Jahren. Jeder einzelne der 73 Artikel ist ein Prüfstein auf diese Methode Voltaires – die Methode der Aufklärung. Hier ist sie am Werk und leitet uns an, Althergebrachtes und Traditionen wegzuräumen, wahr und falsch ganz alleine an der unmittelbar aufgefassten Wirklichkeit abzulesen.

Kurz müssen die Artikel sein, kurz und scharf – wie eine Waffe zum Schuss bereit, auf den Feind zielend, dabei zufällig den Buchstaben des Alphabets folgend, auf einen Feind, der einen einzigen Namen trägt: »l’Infâme«, die Kirche, deren Jahrhunderte altes Monopol auf die menschlichen Gehirne nach langer Zeit endlich verdient, gebrochen zu werden.

Handlich und preiswert musste ein Wörterbuch mit dieser Zielsetzung sein, denn: »Niemals werden zwanzig großformatige Bücher eine Revolution bewirken; es sind die kleinen Taschenbücher zu 30 Sous, die man fürchten muss. Das Christentum würde sich niemals durchgesetzt haben, wenn das Evangelium 1200 Sesterzen gekostet hätte.«*

Wenn Kant empfiehlt: Gebrauche deinen Verstand – würde ihm Voltaire entgegnen: ja, aber wie, wenn die Köpfe voller Unsinn stecken? Und er hat die Lösung bereit: Zurück zu den Quellen unseres Wissens, zur Beobachtung der ungetauften Natur und zur kritisch-historischen Quellenanalyse. Nicht: »Ich denke, also bin ich« ist sein Credo, sondern: »je suis corps et je pense«* – »ich bin Körper und ich denke«, das ist eine Verlagerung des philosophischen Schwerpunkts vom Kopf auf die Füße. Die Körper werden zwar, folgt man der kosmotheistischen Konzeption Voltaires*, von einer allgemein aufgefassten göttlichen Kraft angetrieben und »beseelt«, einer Kraft, über die jedoch aus Prinzip nichts Näheres ausgesagt werden kann, schon gar nicht von selbsternannten Predigern.

So lauten einige Anweisungen Voltaires für den Leser: Geht es um Liebe, beobachte die Natur; stellt sich die Frage, was es mit der geheiligten Beschneidung auf sich hat, vergleiche die Geschichte der Völker, die sie ausüben und erfanden, und willst Du etwas über die Herkunft der ehrwürdigen Vorväter der drei gefährlichen und stets zum Fanatismus neigenden monotheistischen Religionen erfahren, konsultiere die Quellen, vergleiche etwa die Textstellen der Bibel zum Leben Abrahams, erlaube Dir, dabei nachzurechnen, und: wundere Dich!

Diese Ausgabe folgt der Erstausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs von 1764*, die damit erstmals vollständig in deutscher Übersetzung vorliegt.

In deutscher Sprache hat man meist ausgewählte Artikel des Dictionnaire mit anderen Artikeln Voltaires, etwa aus der Encyclopédie oder dem Werk L’Opinion en alphabet, gemeinsam veröffentlicht, nach dem Geschmack des jeweiligen Herausgebers. Dadurch ging aber der Charakter dieser antichristlichen und antikirchlichen Kampfschrift der Aufklärung verloren.

Um zu zeigen, wie das Philosophische Wörterbuch bei seiner Erstveröffentlichung, als es europaweit erhebliches Aufsehen erregte, genau aussah, wird hier auch auf die zum Teil sehr ausführlichen Ergänzungen, die Voltaire selbst in den Folgeausgaben des Dictionnaire (1765, 1767, 1769) an den Artikeln der Erstausgabe vorgenommen hat, verzichtet. Manche dieser Ergänzungen waren den Diskussionen der damaligen Zeit geschuldet, bei einigen wollte Voltaire ein Thema aus einer anderen Perspektive beleuchten, niemals hat er jedoch eine vorher gefasste Position widerrufen oder weggelassen.

Die Reihenfolge der Artikel folgt, mit Ausnahme des Artikels Guerre, der dort falsch eingeordnet ist, der französischen Erstausgabe. (Dabei sind I und J nach alter, aus dem klassischen Latein stammender Tradition derselbe Buchstabe.) Im Inhaltsverzeichnis werden die französischen Stichwörter, sofern erforderlich, mit ihrer deutschen Übersetzung aufgeführt. Am Ende des Buches befindet sich zur besseren Orientierung ein Verzeichnis, das die Stichwörter nach ihrer deutschen Übersetzung alphabetisch geordnet auflistet.

Die Anmerkungen bieten Informationen, die für das Verständnis des Textes notwendig sind, Quellennachweise und Hintergrundinformationen*. Dazu ergänzend befindet sich im Anhang ein alphabetisches Verzeichnis all der Personen, deren Kenntnis heute nicht mehr, wie zur Zeit Voltaires, vorausgesetzt werden kann bzw. bei denen es interessante Querverweise zu anderen Werken Voltaires gibt. Namen, die in diesem Verzeichnis enthalten sind, werden im Text in Fettdruck wiedergegeben.

Das Nachwort gibt einen Überblick über die Entstehung des Dictionnaire philosophique und die Verfolgungen, denen die, die das Buch besaßen, ausgesetzt waren.

Die Artikel Abraham; Âme; Amitié; Amour; Amour nommé Socratique; Amour propre; Ange; Apis; Circoncision, Fanatisme, Luxe, Miracles, Préjugés und Tolerance wurden vom Herausgeber übersetzt, bei allen anderen stammt die Übersetzung von Angelika Oppenheimer.

Ausführliche Erklärungen und Informationen, auch zum historischen Hintergrund, werden nach dem Erscheinen dieser Ausgabe fortlaufend auf den Internetseiten der Voltaire-Stiftung (www.correspondance-voltaire.de) veröffentlicht.

Der Herausgeber dankt insbesondere Frau Angelika Oppenheimer für ihre langjährige Arbeit an der Übersetzung des Dictionnaire philosophique und für ihre Bereitschaft, bei den immer wieder sich ergebenden Fragen zur Übersetzung geduldig das Für und Wider einer vorgeschlagenen alternativen Formulierung zu erörtern. Von den Personen, die ihr hilfreich zur Seite gestanden haben, seien hervorgehoben: Professor Dr. theol. Heinz-Josef Fabry, Professor Dr. theol. Hubertus Mynarek, Professorin Dr. Christiane Mervaud von der Voltaire Foundation, Oxford, und vor allem die Germanistin Ingeborg Malivet aus Nantes. Satzstruktur und Sprachstil der einzelnen Artikel prüfte kritisch die Germanistin Heike Monien von der Voltaire-Stiftung, Bad Liebenwerda, die Aufnahme der Grafikelemente besorgte das Fotostudio Chrysoula Limpitaki aus Sitia, Kreta.

Rainer Bauer, Voltaire-Stiftung


Titelseite der Erstausgabe des Dictionnaire philosophique portatif aus der Bibliothek des Grafen Johannn Eustach von Goertz (1737–1821). Zur Geschichte der Bibliothek siehe Norbert Leithold, Graf Goertz. Der große Unbekannte: Eine Entdeckungsreise in die Goethe-Zeit, Osburg, 2010.

ABRAHAM

Abraham ist einer jener in Kleinasien und Arabien berühmten Namen, wie Thot bei den Ägyptern, der ehrwürdige Zarathustra bei den Persern, Herkules in Griechenland, Orpheus in Thrazien, Odin bei den Völkern des Nordens und so viele andere, die man mehr dem berühmten Namen nach kennt als durch eine gesicherte Geschichtsschreibung. Ich spreche hier nur von weltlicher Geschichtsschreibung, denn was jene der Juden, unsere Meister und unsere Feinde, betrifft, denen wir glauben und die wir verachten,* so haben wir ihr gegenüber die Empfindungen, die wir haben müssen, da die Geschichte dieses Volkes ganz offensichtlich vom Heiligen Geist selbst geschrieben wurde. Wir gehen an dieser Stelle nur auf die Araber ein; sie rühmen sich, durch Ismael von Abraham abzustammen, sie glauben, dass dieser Patriarch Mekka erbaute und in dieser Stadt verstarb. Tatsache ist, dass das Geschlecht Ismaels unendlich stärker von Gott bevorzugt wurde als das Geschlecht Jakobs. Um die Wahrheit zu sagen, hat der eine wie der andere Stamm Diebe hervorgebracht, aber die arabischen Diebe sind den jüdischen haushoch überlegen gewesen. Die Nachfahren Jakobs eroberten nur ein sehr kleines Land und haben es verloren; die Nachfahren Ismaels haben einen Teil Asiens, Europas und Afrikas erobert, ein Imperium aufgebaut, das größer war als das der Römer, und die Juden aus ihren Höhlen verjagt, die diese das gelobte Land nannten.

Beurteilt man diese Dinge allein nach den Beispielen, die unsere modernen Geschichtsschreiber geben, so erscheint es schwer vorstellbar, dass Abraham der Vater zweier so unterschiedlicher Völker gewesen sein soll. Man sagt uns, er sei in Chaldäa geboren worden und Sohn eines armen Töpfers gewesen, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, kleine Götterfiguren aus Ton herzustellen. Es ist kaum wahrscheinlich, dass der Sohn dieses Töpfers aufgebrochen ist und unwegsame Wüsten durchquert hat, um dreihundert Meilen davon entfernt unter dem Wendekreis Mekka zu gründen. War er ein Eroberer, wandte er sich zweifellos dem schönen Land der Assyrer zu; war er nur der arme Mann, als den man ihn uns beschreibt, hat er außerhalb seiner Heimat keine Königreiche gegründet.

Die Genesis* berichtet, er sei 75 Jahre alt gewesen, als er nach dem Tod seines Vaters Terach, dem Töpfer, das Land Haran verließ. Aber dieselbe Genesis sagt auch, dass Terach Abraham mit 70 Jahren zeugte, selber bis zum Alter von 205 Jahren lebte, und dass Abraham Haran erst nach dem Tode seines Vaters verließ.* Nach dieser Berechnung erhellt aus der Genesis selbst, dass Abraham 135 Jahre alt war, als er Mesopotamien verließ. Er ging von einem götzendienerischen Land in ein anderes götzendienerisches Land namens Sichem in Palästina. Warum ging er dorthin? Warum verließ er die fruchtbaren Ufer des Euphrat für eine so weit entfernte, so unfruchtbare, so steinige Gegend wie die von Sichem? Das Chaldäische muss sich von der Sprache Sichems stark unterschieden haben, es war kein Handelsplatz; Sichem ist von Chaldäa mehr als hundert Meilen entfernt, und man muss Wüsten durchqueren, um dorthin zu gelangen; aber Gott wollte, dass er diese Reise unternahm, er wollte ihm das Land zeigen, das seine Nachkommen einige Jahrhunderte nach ihm bewohnen würden. Nur schwerlich begreift der menschliche Geist den Sinn einer derartigen Reise.

Kaum ist er in dem kleinen bergigen Sichem angekommen, zwingt ihn eine Hungersnot, es zu verlassen. Er geht mit seiner Frau nach Ägypten, um dort eine Lebensgrundlage zu finden. Von Sichem nach Memphis sind es zweihundert Meilen. Ist es normal, dass man so weit entfernt um Korn bittet, in einem Land, dessen Sprache man überhaupt nicht versteht? Dies sind seltsame Reisen, unternommen im Alter von fast 140 Jahren.

Nach Memphis nahm er seine Frau Sara mit, die im Vergleich zu ihm äußerst jung und fast noch ein Kind war, zählte sie doch nur 65 Jahre. Da sie sehr schön war, beschloss er, sich ihre Schönheit zunutze zu machen: »Tue so, als wärst du meine Schwester«, sprach er zu ihr, »damit man mir deinetwegen Gutes tut.« Er hätte ihr vielmehr sagen sollen: »Tue so, als wärst du meine Tochter.« Der König verliebte sich in die junge Sara und gab dem angeblichen Bruder viele Schafe, Rinder und Esel, Eselinnen, Kamele, Diener, Dienerinnen: was beweist, dass Ägypten damals ein sehr mächtiges und zivilisiertes Land war, also schon sehr lange bestand, und dass man Brüder großartig belohnte, wenn sie ihre Schwestern den Königen von Memphis anboten.

Die junge Sara war der Heiligen Schrift zufolge 90 Jahre alt, als Gott ihr versprach, dass Abraham, mittlerweile 160 Jahre alt, ihr binnen Jahresfrist ein Kind machen werde.

Abraham, der gern umherzog, begab sich in die schreckliche Wüste Kadesch, zusammen mit seiner schwangeren, immer noch jungen, immer noch schönen Frau. Es blieb nicht aus, dass sich ein Wüstenkönig dort, ebenso wie der König Ägyptens, in Sara verliebte. Der Vater aller Gläubigen griff zu derselben Lüge wie in Ägypten: Er gab seine Frau als seine Schwester aus, und dieses Geschäft erbrachte ihm wiederum Schafe, Rinder, Diener und Dienerinnen. Man kann sagen, dass dieser Abraham dank seiner Frau sehr reich wurde. Die Kommentatoren haben eine erstaunliche Anzahl von Bänden verfasst, um das Verhalten Abrahams zu rechtfertigen und die zeitliche Abfolge ins Reine zu bringen. Wir müssen also den Leser auf diese Kommentare verweisen. Sie sind alle von scharfsinnigen und feinfühligen Geistern verfasst worden, von ausgezeichneten Metaphysikern, vorurteilsfreien Leuten und keinesfalls Pedanten.

 

ÂME – Seele

Könnte man in seine Seele blicken, so wäre dies eine gute Sache. Erkenne dich selbst ist eine vortreffliche Verhaltensregel, doch Gott allein vermag sie anzuwenden, denn wer außer ihm ist in der Lage, sein eigenes Wesen zu erkennen?

Als Seele bezeichnen wir, was beseelt. Weil unser Verstand beschränkt ist, wissen wir davon kaum mehr. Drei Viertel der Menschheit kommen darüber nicht hinaus und scheren sich nicht um das denkende Wesen, das letzte Viertel sucht, doch hat niemand jemals etwas gefunden, noch wird jemals irgendjemand etwas finden.

Armer Philosoph, du siehst eine Pflanze wachsen und sagst Wachstum oder sogar vegetative Seele.* Du bemerkst, dass Körper sich bewegen und Bewegung erzeugen, und sagst: Kraft; du siehst, wie dein Jagdhund durch dich zu jagen lernt, und da entfährt dir Instinkt, fühlende Seele; du verbindest Vorstellungen miteinander und du sagst Geist.

Aber mit Verlaub, was verstehst du unter den Worten: »Diese Blume wächst«? Aber gibt es ein reales Wesen, das Wachstum heißt? Jener Körper stößt einen anderen an, aber hat er ein von ihm unterschiedenes Wesen in sich, das sich Kraft nennt? Jener Hund bringt dir ein Rebhuhn, aber gibt es ein Wesen namens Instinkt? Würdest du nicht auch über einen Klugschwätzer lachen (und sei er auch der Lehrmeister Alexanders des Großen gewesen), der zu dir sagte: »Alle Tiere leben, also gibt es in ihnen ein Sein, eine substantielle Form, die das Leben ist?«

Wenn nun eine Tulpe sprechen könnte und zu dir sagte: »Mein Wachstum und ich, wir sind offensichtlich zwei miteinander verbundene Wesen« – würdest du die Tulpe da nicht auslachen?

Sehen wir uns zunächst einmal an, was du weißt und worüber du dir sicher bist: nämlich, dass du mit deinen Füßen gehst, mit deinem Magen verdaust, mit deinem ganzen Körper fühlst und mit deinem Kopf denkst. Dann wollen wir sehen, ob allein dein Verstand dir genügend Einsicht verschafft hat und dich – ohne Rückgriff auf Übernatürliches – zu dem Schluss gelangen lässt, dass du eine Seele besitzt.

Die ersten Philosophen, ob es sich nun um Chaldäer oder um Ägypter handelte, sagten: »Es muss in uns etwas geben, das unsere Gedanken hervorbringt, dieses Etwas muss sehr fein sein, es ist ein Hauch, es ist Feuer, es ist Äther, es ist die Essenz von allem, es ist ein flüchtiges Trugbild, es ist eine Entelechie*, es ist eine Zahl, es ist eine Harmonie.« Schließlich, dem göttlichen Platon zufolge,* ist es die Verbindung des Selbst mit dem Anderen. Es sind die Atome, die in uns denken, hat nach Demokrit auch Epikur gesagt. Aber, mein Freund, wie denkt ein Atom? Gib zu, dass du darüber nichts weißt.

Gewiss muss man sich der Ansicht anschließen, dass die Seele ein immaterielles Wesen ist. Doch worin dieses immaterielle Wesen besteht, versteht ihr bestimmt nicht. »Nein«, antworten die Gelehrten, »aber wir wissen, dass es ihrer Natur entspricht, zu denken.« Und woher wisst ihr das? »Wir wissen es, weil sie denkt.«* O ihr Gelehrten! Ich fürchte wohl, ihr seid ebenso unwissend wie Epikur: es entspricht der Natur eines Steins, zu fallen, weil er fällt – aber ich frage euch, was bewirkt, dass er fällt?

»Wir wissen«, fahren sie fort, »dass ein Stein keine Seele hat.« Einverstanden, davon bin ich genauso überzeugt wie ihr. »Wir wissen auch, dass eine Negation und eine Affirmation nicht teilbar, also nicht materiell sind.«* Da bin ich ganz eurer Ansicht. Aber die Materie, die uns im Übrigen unbekannt ist, besitzt auch nicht-materielle Eigenschaften, die nicht teilbar sind. So wird sie von der Schwerkraft gegen ein Zentrum hingezogen, das Gott ihr gegeben hat. Nun hat diese Gravitation keine Teile und ist in keiner Weise teilbar. Die Kraft, die Körper bewegt, ist kein aus Teilen zusammengesetztes Wesen. Das Wachstum belebter Körper, ihr Leben, ihr Instinkt, sind ebenfalls keine Einzelwesen, Wesen, die man teilen kann. Das Wachstum einer Rose, das Leben eines Pferdes, den Instinkt eines Hundes könnt ihr ebenso wenig zerteilen wie eine Empfindung, eine Negation, eine Affirmation. Euer schönes Argument, das ihr aus der Unteilbarkeit des Denkens gewinnt, beweist folglich gar nichts.

Was also nennt ihr eure Seele? Welche Vorstellung habt ihr davon? Ohne Offenbarung könnt ihr in euch nichts anderes annehmen als eine euch unbekannte Kraft, zu fühlen und zu denken.

Und nun sagt mir ehrlich, ob diese Kraft zu fühlen und zu denken dieselbe ist, die euch die Fähigkeit verleiht, zu verdauen und zu gehen? Ihr gebt zu, dass das nicht der Fall ist, denn es wäre vergeblich, wenn euer Verstand zu eurem Magen sagte: verdaue – er würde nichts dergleichen tun, wenn er krank ist; vergebens würde euer immaterielles Wesen den Füßen befehlen, zu gehen – wenn sie die Gicht haben, verharren sie an Ort und Stelle.

Den Griechen war sehr wohl bewusst, dass das Denken oftmals nichts mit dem Zusammenwirken unserer Organe zu tun hat. Den Organen haben sie eine animalische Seele zugewiesen und dem Denken eine feinere, subtilere Seele, ein nous.*

Doch da ist nun diese denkende Seele, die bei tausend Gelegenheiten über die animalische Seele die Aufsicht führt. Die denkende Seele befiehlt ihren Händen zu greifen, und sie greifen. Doch befiehlt sie ihrem Herzen nicht, zu schlagen, dem Blut nicht, zu fließen, dem Verdauungsbrei nicht, sich zu bilden, all dies geschieht ohne ihre Einwirkung: da wären nun zwei recht verlegene Seelen, die recht wenig Herr im eigenen Hause sind.

Diese erste, animalische Seele existiert somit gewiss nicht, denn sie ist nichts anderes als die Bewegung eurer Organe. Gib Acht, o Mensch, denn deine schwache Vernunft liefert dir auch nicht mehr Beweise dafür, dass die andere Seele existiert. Du kannst es allein durch den Glauben wissen. Du wirst geboren, du lebst, du handelst, du denkst, du wachst, du schläfst, ohne zu wissen, warum. Gott hat dir die Fähigkeit zu denken gegeben, wie er dir auch alles Übrige gab, und wäre er nicht gekommen, dich zu der Zeit, die er vorherbestimmt hatte, zu lehren, dass du eine immaterielle und unsterbliche Seele besitzt, so hättest du keinen einzigen Beweis dafür.

Lasst uns nun die großartigen Systeme betrachten, die deine Philosophie über diese Seelen verfertigt hat.

Das eine besagt, dass die menschliche Seele Teil des göttlichen Wesens selbst ist,* das andere, dass sie ein Teil des großen Ganzen ist,* ein Drittes, dass sie seit eh und je erschaffen ist,* ein Viertes, dass sie gemacht und nicht erschaffen ist.* Andere wiederum versichern, dass Gott die Seelen in dem Maße anfertigt, wie man es benötigt, und dass sie zum Zeitpunkt der Begattung eintreten.* »Sie lassen sich in den Samentierchen nieder«, ruft dieser. – »Nein«, sagt jener, »sie bewohnen den Eileiter.« – »Ihr habt alle unrecht«, meint einer, der zufällig dazukommt, »die Seele wartet sechs Wochen, bis sich der Fötus herausgebildet hat, dann besetzt sie die Zirbeldrüse, stößt sie aber auf eine Fehlgeburt, zieht sie sich zurück und wartet auf eine bessere Gelegenheit.« Die letzte Meinung ist, dass das Corpus callosum* ihre Behausung ist, dies ist der Ort, den ihr La Peyronie zuweist; man musste Erster Chirurg des Königs von Frankreich sein, um solcherart über den Aufenthalt der Seele bestimmen zu können. Jedoch war seinem Corpus callosum nicht die gleiche Karriere beschieden wie dem Chirurgen selbst.

Der heilige Thomas sagt in der 75. und den folgenden seiner Quaestiones, dass die Seele eine für sich selbst existierende Form ist, dass sie das Ganze selbst ist, dass sich ihr Wesen von ihrer Kraft unterscheidet; dass es drei vegetative Seelen gibt, nämlich die ernährende, die vermehrende, die erzeugende; dass die Erinnerung an geistige Dinge geistig ist, die an körperliche körperlich; dass die vernünftige Seele ein Gebilde ist immateriell hinsichtlich der Handlungen und materiell hinsichtlich des Seins. Der heilige Thomas hat mit solcher Kraft und Deutlichkeit 2000 Seiten geschrieben, und deshalb ist er auch der Engel der Scholastik.*

Nicht weniger Systeme hat man über die Art gemacht, wie diese Seele fühlt, wenn sie ihren Körper, mit dem sie fühlte, verlassen hat; wie sie hört ohne Ohren, riecht ohne Nase und berührt ohne Hand; welchen Leib sie dann wieder annehmen wird, ob es derjenige ist, den sie im Alter von zwei, oder jener, den sie im Alter von achtzig Jahren hatte; wie das Ich, die Identität der Person, überdauern wird. Wie die Seele eines Mannes, der mit fünfzehn Jahren schwachsinnig wurde und im Alter von siebzig Jahren schwachsinnig starb, an die Gedanken anknüpfen wird, die sie hatte, als er in der Pubertät war. Durch welchen geschickten Kniff findet eine Seele, deren Bein in Europa abgetrennt wurde und die einen Arm in Amerika verlor, dieses Bein und diesen Arm wieder, welche, da sie sich unterdessen in Gemüse verwandelt haben, ins Blut irgendeines anderen Tieres übergegangen sind? Man würde nie ein Ende finden, wollte man von all den Narrheiten berichten, die sich die arme Menschenseele über sich selbst eingebildet hat.

Was allerdings sehr bemerkenswert ist: In den Gesetzen des auserwählten Volkes wird nicht ein einziges Wort über die Geistesnatur oder die Unsterblichkeit der Seele verloren, weder in den Zehn Geboten noch im Levitikus und auch nicht im Deuteronomium.*

Es ist absolut unbezweifelbar, dass Mose den Juden nirgendwo Belohnungen oder Strafen in einem anderen Leben in Aussicht stellt, er spricht nie zu ihnen von der Unsterblichkeit ihrer Seelen, er macht ihnen keine Hoffnung auf den Himmel, droht ihnen nicht mit der Hölle: alles ist vergänglich.

Bevor er stirbt, sagt er zu ihnen in seinem Deuteronomium: »Wenn ihr Kinder und Kindeskinder gezeugt haben werdet und vergesst eure Pflichten, werdet ihr aus dem Land ausgetilgt und werdet unter den Völkern zerstreut werden.«

»Ich bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter bis in die dritte und vierte Generation heimsucht.«

»Ehret euren Vater und eure Mutter, damit ihr lange lebt.«

»Ihr werdet zu essen haben, ohne jemals Mangel zu leiden.«

»Wenn ihr fremden Göttern dient, werdet ihr zerstört …«

»Wenn ihr gehorcht, werdet ihr Regen im Frühjahr, Weizen im Herbst haben, Öl, Wein, Heu für euer Vieh, damit ihr esst und satt werdet.«

»Tragt diese Worte im Herzen, an euren Handgelenken, auf eurer Stirn, schreibt sie über eure Türen, damit sich eure Tage vermehren.«

»Tut, was ich euch befehle, ohne etwas hinzuzufügen noch wegzunehmen.«

»Wenn sich ein Prophet erhebt, der Wunderdinge weissagt, und wenn seine Weissagung wahrhaftig ist und was er gesprochen hat, eintritt, und er sagt zu euch: ›Lasst uns fremden Göttern folgen‹, tötet ihn auf der Stelle, und das ganze Volk schlage ihn nach euch.«

»Wenn der Herr euch Völker ausgeliefert hat, erwürgt jeden, ohne einen einzigen Mann zu verschonen, und habt mit niemandem Mitleid.«

»Esst keine unreinen Vögel wie den Adler, den Greif, den Ixion.«

»Esst keine Tiere, die wiederkäuen und deren Klauen nicht gespalten sind wie das Kamel, den Hasen, das Stachelschwein usw.«

»Befolgt ihr all die Gebote, werdet ihr gesegnet sein in der Stadt und auf dem Land, die Früchte eures Leibes, eurer Erde, eures Viehs werden gesegnet sein.«

»Wenn ihr nicht alle Gebote und alle Zeremonien befolgt, werdet ihr in der Stadt und auf dem Land verflucht sein, ihr werdet Hunger und Armut erleiden, werdet an Elend, Kälte, Armut, Fieber sterben. Ihr werdet den Grind, die Krätze, Fisteln bekommen, ihr werdet Geschwüre an Knien und Schenkeln bekommen.«

»Der Fremde wird euch zu Wucherzinsen leihen, ihr werdet ihm nicht auf Wucherzinsen leihen können, weil ihr dem Herrn nicht gedient habt.«

»Und ihr sollt die Frucht eures Leibes essen und das Fleisch eurer Söhne und eurer Töchter«, usw.

Ganz offensichtlich handeln alle diese Verheißungen und Drohungen von nichts als Vergänglichem, und man findet darin kein Wort über die Unsterblichkeit der Seele oder das zukünftige Leben.

Mehrere hochberühmte Kommentatoren haben geglaubt, dass Mose über diese beiden wichtigen Dogmen bestens Bescheid wusste, und sie beweisen dies mit den Worten Jakobs, der, als er seinen Sohn von Tieren verschlungen glaubte, in seinem Schmerz ausrief: Ich werde mit meinem Schmerz in die Grube fahren, ins Inferno, in die Hölle; das heißt: Ich werde sterben, da mein Sohn tot ist.