Blutiges Erbe in Dresden

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Victoria Krebs

BLUTIGES ERBE

IN DRESDEN

Ein Maria-Wagenried-Thriller

Victoria Krebs

BLUTIGES ERBE

IN DRESDEN

Die Autorin

Es war Liebe auf den ersten Blick, die Victoria Krebs mit der Barockstadt an der Elbe verband. Die einzigartige Architektur, die malerische Landschaft und die liebenswerte Individualität der Menschen in dieser Region inspirierten sie zu ihrem ersten Thriller, der in Dresden spielt. Protagonisten mit Ecken und Kanten, abscheuliche Verbrechen und nicht zuletzt die Liebe mit ihren Irrungen und Wirrungen beherrschen ihre schriftstellerische Arbeit. Victoria Krebs ist in Oldenburg, Niedersachsen, geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Dresden.

Impressum


© DDV EDITIONSächsische Zeitung GmbHOstra-Allee 20, 01067 Dresdenwww.ddv-edition.de© Reihengestaltung und Umschlagillustrationwww.oe-grafik.de

Autorin: Victoria Krebs

Grafische Gestaltung: Thomas Walther, BBK

Satz: Ö GRAFIK agentur für marketing und design

Druck: CPI Moravia Books

Alle Rechte vorbehalten | Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-943444-82-7 (Print)

ISBN 978-3-948916-02-2 (Epub)

ISBN 978-3-948916-03-9 (Mobi)

PROLOG

Die elf Männer hatten sich in dem dunklen Gewölbe zu einem Halbkreis versammelt. Flackernder Kerzenschein warf die Schatten ihrer Konturen an das alte Gemäuer, dessen rote Ziegel im Laufe der Zeit gelitten und sich an einigen Stellen schwarz verfärbt hatten. Die Luft, kühl und feucht, atmete den Geruch von nahezu zwei Jahrhunderten und war angereichert mit würzigem Weihrauchduft, den eine kleine Messingschale auf dem Tisch am hinteren Ende des Raumes verströmte.

Hell leuchteten ihre langen, weißen, mit Kordeln geschnürten Kutten. Auf der linken Brust prangte jeweils ein rotes Kreuz. Schweigend und mit unbewegter Miene schauten die Männer auf den Großmeister. Er stand, von zwei mannshohen Kerzenleuchtern flankiert, am offenen Ende des Kreises. Zu seinen Füßen kniete ein zwölfter Mann, den Kopf demütig gesenkt.

Gemäß dem Ritual legte der Großmeister ihm die Hand aufs Haupt und ließ sie dort für einen Moment liegen, bevor er sie wieder zurückzog. Wie auf ein Zeichen hin hob der vor ihm kniende Mann sein Gesicht und richtete seinen Oberkörper auf. Er legte die rechte, geballte Faust auf das leuchtend rote Kreuz und begann, den Schwur zu rezitieren:

»Ich schwöre, meine Rede, meine Kräfte und mein Leben in die Verteidigung des Bekenntnisses des in den Mysterien des Glaubens gegenwärtigen Gottes zu heiligen. Ich gelobe dem Großmeister des Ordens Unterwerfung und Gehorsam. Sollten Unbill und Ungerechtigkeit herrschen, werde ich dem entgegentreten. Mein Kopf und mein Arm sollen der Wahrheit gehören. Niemals werde ich feige die Flucht ergreifen, sondern unsere Feinde bis zum Letzten bekämpfen.«

Ein Luftzug ließ die Flammen der Kerzen flackern, Totenstille hatte sich über die Anwesenden gesenkt.

Aller Augen waren auf den Großmeister gerichtet. Das warme Kerzenlicht milderte die Schatten seiner tiefen Furchen auf Wange und Stirn. Wie ein Glorienschein umgab das schlohweiße Haar sein Haupt und verlieh seiner Erscheinung eine mystische Aura. Er sah die Umstehenden der Reihe nach an. Sein Blick schien jeden von ihnen zu durchbohren, so als wolle er ihre geheimsten Gedanken ergründen, um sich ihres unbedingten Gehorsams und ihrer unverbrüchlichen Treue bis in den Tod zu versichern.

Dann wandte er sich langsam um, griff nach dem einfachen Holzkreuz, das auf dem Tisch hinter ihm lag, und hielt es dem Knienden entgegen.

»Stelle nun deinen Kampfesmut und den unbeug-samen Willen, dem Orden zu dienen, unter Beweis:

Spucke dreimal auf dieses Kreuz! Verleumde Jesus Christus!

Dieser Akt soll dich stärken und vorbereiten auf das, was der Feind dir abverlangt, solltest du ihm im heiligen Kampf unterliegen. Denn er wird dich zwingen, dem Herrn abzuschwören und ihn zu verhöhnen.«

Für einen Moment senkte der Kniende den Blick, er schien zu zögern. Doch dann hob er ihn wieder und sah dem Großmeister fest in die Augen.

Er neigte sich ein Stück nach vorn und spuckte dreimal hintereinander auf das Kreuz.

Der Großmeister legte das heilige Symbol zurück auf den Tisch und reinigte es mit einem weißen Tuch. Dann schritt er zu der dahinter liegenden Wand, die von einem dunklen Vorhang verborgen war. Mit einem Ruck zog er den Stoff beiseite und enthüllte ein Bild mit dem Antlitz Jesu Christi.

Der Kniende erhob sich und stellte sich neben den Großmeister, während sich die übrigen Männer erneut zu einem Halbkreis formierten.

Der Großmeister erhob seine Stimme:

»Erweist dem neuen Primus eure Ehre!«

Einer nach dem anderen kniete vor dem Zwölften nieder, hob den Saum seines Gewandes, führte ihn zum Mund und berührte ihn mit den Lippen.

Als der letzte der Ritter seine Ehrbezeugung kundgetan hatte, holte der Großmeister eine kleine, dunkelblaue Schachtel unter seiner Kutte hervor und öffnete den Deckel. Würdevoll überreichte er dem Primus das Kästchen und legte es in seine ausgestreckten Hände.

»Ich habe dich erkannt und auserwählt. Du bist der Richtige für diese Aufgabe«, sprach er zu ihm. »Zum Zeichen meiner Liebe und Anerkennung übereiche ich dir dieses wertvolle Kleinod.«

Der Primus sah auf das mit weißem Satin überzogene Kissen, in dessen Mitte ein rotes Kreuz eingestickt worden war. Darauf lag ein Siegel aus gehämmertem Silber.

Tränen traten ihm in die Augen, bevor er sie schloss und die Medaille inbrünstig mit seinen Lippen berührte.

Kapitel 1

Prasselnd schlug der Regen gegen die Windschutzscheibe ihres Autos. Die hektisch hin und her tanzenden Scheibenwischer kamen nur schwer gegen die Wassermassen an. Wie kleine Bomben zerplatzten die dicken Tropfen auf der Scheibe und nahmen Maria die Sicht.

Grauenvolles Wetter, dachte sie. Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen und leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper auf die Königstraße, in die sie gerade eingebogen war. Schon von Weitem sah sie die Einsatzwagen mit ihren blau flackernden Lichtern in der ansonsten grau in grau vor ihr liegenden Straße. Die Konturen der Häuser und Bäume zu beiden Seiten waren verschwommen wie auf einem Aquarellgemälde. Alles, die Gebäude, die vorbeieilenden Passanten, die Blumenkübel vor den Restaurants und Geschäften, schien in den Fluten zu versinken.

In Schrittgeschwindigkeit näherte sie sich den Polizeifahrzeugen. Schon jetzt schauderte ihr bei dem Gedanken daran, das warme, trockene Auto zu verlassen. Wie immer hatte sie ihren Schirm im Präsidium vergessen. Der Wolkenbruch würde sie innerhalb weniger Sekunden bis auf die Haut durchnässen. Fluchend hielt sie direkt neben einem Polizisten und ließ die Scheibe herunter.

»Sie haben nicht zufällig einen Schirm für mich?«, fragte sie und setzte das liebenswürdigste Lächeln auf, zu dem sie an diesem ungemütlichen Maimorgen in der Lage war.

»Einen Schirm?«, fragte der Mann begriffsstutzig.

»Sie könnten natürlich auch einfach den Regen abstellen. Ich wäre aber auch mit einem stinknormalen Schirm zufrieden.«

Der Beamte lächelte, als er begriff, dass Maria einen Scherz gemacht hatte.

»Moment, Frau Wagenried, ich schaue mal nach.«

Sie hatte nicht damit gerechnet, aber er kam wenige Augenblicke zurück, öffnete galant die Fahrertür und hielt beflissen den schützenden Regenschirm über sie.

»Danke sehr. Ich werde Sie befördern. Wie heißen Sie?«

»Wachtmeister Rohrig«, antwortete er mit einem breiten Lächeln und begleitete sie bis zur Eingangstür. Diesmal hatte er den Witz sofort begriffen.

Maria öffnete die Tür neben dem großen Schaufenster und betrat einen mit Antiquitäten, Silber und Ölgemälden vollgestopften Raum. Sie bahnte sich einen Weg durch mehrere Uniformierte, die grüßend Platz machten, als sie die Kommissarin erblickten.

»Wo?«, fragte sie einen Kollegen. Der wies auf eine offen stehende Tür im hinteren Bereich des Geschäfts.

Der Tote saß an einem großen, massiven Schreibtisch. Unzählige Verletzungen entstellten sein Gesicht. Die Augen weit aufgerissen, schien er Maria direkt anzustarren. Ein blutiger Einschnitt klaffte unterhalb des Kehlkopfes, die Vorderseite seines hellblauen Hemdes war blutdurchtränkt. Marias Blick glitt weiter nach unten. Etwas stimmte mit seinen Händen nicht. Sie lagen in einer unnatürlichen Position ausgestreckt nebeneinander, die Innenflächen nach oben gerichtet, so als wolle er einen Segen empfangen. Als sie näher herantrat, sah Maria, dass beide Hände auf der polierten Oberfläche des Schreibtisches festgenagelt waren.

»Bernhard Molberg«, hörte sie eine Stimme sagen. Es war die ihres Assistenten Hellwig Dreiblum, der plötzlich neben ihr stand. »Antiquitätenhändler und Ladeninhaber. Sein Sohn, Alexander Molberg, hat ihn hier vor circa einer halben Stunde gefunden.«

 

»Todesursache?«, fragte Maria weiter.

»Erdrosselung mit einer Garotte«, ertönte eine Stimme wie aus dem Nichts. Dr. Stein tauchte hinter dem Toten auf. »Ich grüße Sie, Frau Wagenried«, schnaufte er. »Das Tatwerkzeug passt irgendwie zu diesem Ambiente, finden Sie nicht?« Demonstrativ hielt er ein Plastiktütchen hoch.

»Eine Garotte?«, fragte sie ungläubig. »Hatte ich während meiner gesamten Dienstzeit noch nie.« Sie inspizierte den blutigen, an beiden Enden mit kleinen Holzgriffen versehenen Draht. Das dünne und harte Metall war so fest um den Hals des Opfers zusammengezogen worden, dass es die Haut unterhalb des Kehlkopfes und beide Aorten durchtrennt hatte. Maria hoffte für den Mann, dass er bereits vorher erstickt war.

»Kann man schon sagen, ob es ein Raubmord war?«

»Laut seinem Sohn scheint auf den ersten Blick nichts zu fehlen«, sagte Hellwig Dreiblum. »Genaueres kann er aber erst sagen, sobald er die Inventarliste mit dem aktuellen Bestand verglichen hat.«

»Wo ist der Sohn?«

»Auf der Toilette.« Dreiblum zupfte verlegen an seiner Wollmütze. »Musste sich übergeben. Ist allerdings schon fünfzehn Minuten da drinnen. Vielleicht sollte ich mal …«

»Gute Idee, Hellwig. Holen Sie ihn da raus!«

Er setzte sich in Bewegung.

»Beeilen Sie sich!«, rief Maria scharf. Und an die Umstehenden: »Wieso lassen Sie den Mann so lange allein? In einem Mordfall ist jeder verdächtig. Schlamperei!« Verlegenes Füßescharren und Räuspern waren die Reaktionen.

»Können Sie schon etwas zum möglichen Todeszeitpunkt sagen, Dr. Stein?«, wandte sie sich wieder an den Rechtsmediziner.

»Schätze, gestern Abend zwischen zehn und zwölf, aber …«

»Jaja, ich weiß, Genaueres erst nach der Obduktion.«

Dr. Stein zuckte lapidar mit den Schultern. Dann hockte er sich ächzend wieder hin und Maria hörte, wie er seine Instrumente klirrend zurück in den Koffer warf.

»Immer noch Probleme mit dem Rücken, trotz der neuen, ›schweineteuren‹ Matratze?« Das hatte sich Maria nicht verkneifen können. Das letzte Mal hatte sie Dr. Stein getroffen, als er im vergangenen Jahr zu den enthaupteten Frauenleichen gerufen worden war. Schon da hatte er über Rückenprobleme geklagt und den Kauf einer neuen Matratze erwähnt, die ihm allerdings nicht helfe. Unbelehrbar, wie er nun mal war, hatte er bisher alle Ratschläge, sich von einem Orthopäden untersuchen zu lassen, in den Wind geschlagen.

»Ich befürchte, es ist noch schlimmer geworden«, stöhnte er, als er wieder hinter dem Schreibtisch auftauchte.

»Nur so fürs Protokoll: Warum gehen Sie nicht endlich mal zum Arzt?«

»Der Einzige, zu dem ich gehen würde, ist Dr. Rothemund. Mit dem habe ich zusammen studiert, aber diesen Triumph gönne ich ihm nicht auch noch«, schnaubte er verächtlich. »Ich verliere schon regelmäßig beim Schach gegen ihn.«

Hellwig Dreiblum kam mit dem Sohn des Ermordeten zurück, ein blasser, dunkelhaariger Mann, der sich immer wieder nervös durch die Haare fuhr. Beim erneuten Anblick seines ermordeten Vaters schlug er die Hände vor den Mund, so als wolle er einen Schrei unterdrücken. Maria stellte sich ihm vor.

»Schildern Sie doch bitte, wann und wie Sie ihren Vater gefunden haben.« Auffordernd nickte sie ihm zu.

»Kann … kann ich mich setzen?«

»Natürlich«, erwiderte Maria und bemerkte den Schweißfilm auf seiner Oberlippe. Augenscheinlich hatte er auch geweint, denn Augen und Nase waren verquollen und gerötet.

Er wollte sich gerade den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch heranziehen, als zwei Männer mit einem Sarg hereinkamen, um den Toten abzutransportieren.

»Muss das jetzt sein?« Verärgert runzelte Maria die Brauen. Sie wandte sich an den Sohn des Opfers: »Warten Sie doch bitte so lange im vorderen Raum, Herr Molberg.«

»Wir brauchen eine Zange«, forderte Maria, als Alexander Molberg das Zimmer verlassen hatte, und wies mit dem Zeigefinger auf die festgenagelten Hände des Opfers. Ein Kollege von der Spurensicherung holte das Werkzeug aus seinem Metallkoffer und versuchte den Nagel aus der rechten Hand herauszuziehen, was ihm aber nicht gelang, weil er die Zange nicht richtig ansetzen konnte. Ein Polizeibeamter kam schließlich auf die Idee, unter dem Schreibtisch nachzuschauen, ob die Nagelspitze das Holz durchstoßen hatte: »Ich brauche einen Hammer, mit dem ich gegen die Spitze schlagen kann. Der Kollege von der Spusi zieht von oben mit der Zange.«

Schließlich gelang es den Männern, die langen Nägel Stück für Stück herauszubefördern. Sie verwahrten sie, wie die Garotte, in einem Beweismittelsicherungstütchen.

Ein unterdrücktes Schluchzen entwich Alexander Molbergs Kehle, als sein Vater im Sarg zu dem vor dem Geschäft wartenden Leichenwagen getragen wurde.

»Wo bringen Sie ihn hin?«, fragte er leise und sah Maria voller Verzweiflung an.

»Es ist üblich, dass eine Leiche nach einem Mord in die Rechtsmedizin gebracht wird«, sagte Maria so ruhig und sachlich wie möglich. »Dort wird eine Obduktion durchgeführt.«

Molberg sackte sichtlich in sich zusammen. »Dann wird er von oben bis unten aufgeschnitten. Alle Organe werden herausgenommen, wie bei einem Tier, das ausgeweidet wird«, flüsterte er tonlos.

»Herr Molberg, die Organe müssen untersucht werden, das ist Vorschrift. Aber natürlich werden sie wieder zurückgelegt.«

Er schluckte krampfhaft.

»Sie wollen doch, so wie wir auch, dass der Mörder Ihres Vaters gefunden wird. Eine Obduktion ist unerlässlich, weil eventuell Spuren des Täters am Körper des Toten nachgewiesen werden können oder sonstige Beweismittel, die vielleicht Rückschlüsse auf den Tathergang zulassen. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«

Jetzt nickte er schwach.

»Ich möchte jetzt noch einmal auf meine Frage von vorhin zurückkommen. Wann und wie haben Sie Ihren Vater gefunden?«

»Also, ich …« Molberg räusperte sich und schluckte hart. »Ich bin gegen halb elf heute Morgen hierhergekommen. Zu meiner Verwunderung hatte mein Vater das Geschäft noch nicht geöffnet. Normalerweise öffnet er um zehn. Da habe ich dann mit meinem Schlüssel die Tür aufgeschlossen und ihn dort«, er blickte kurz zum Stuhl hinter dem Schreibtisch, »kurze Zeit später gefunden. Es war einfach schrecklich, ihn da so … so zugerichtet sitzen zu sehen. Mir war natürlich sofort klar, dass er tot war. Ich habe dann gleich die Polizei gerufen.«

Maria nickte und wandte sich an die Umstehenden.

»Wurde der Schlüssel des Toten gefunden?«, fragte sie.

Ein Kollege der Spurensicherung verneinte und auch die Polizeibeamten schüttelten den Kopf.

»Das bedeutet, dass der Mörder ihn vermutlich mitgenommen hat, denn er hat die Tür von außen wieder verschlossen. Hing der Schlüssel an einem Bund oder Etui?«

»Ja, an einem braunen Lederetui, zusammen mit den anderen Schlüsseln.«

»Welchen Schlüsseln?«, hakte Maria alarmiert nach.

»Die Wohnungsschlüssel … Oh mein Gott!« Alexander Molberg schlug sich die Hände vors Gesicht. »Bedeutet das etwa, dass der Mörder meines Vaters auch in sein Haus eingedrungen ist?« Entsetzt starrte er Maria aus weitaufgerissenen Augen an.

»Das werden wir feststellen. Wir fahren sofort dort hin. Wie ist die Adresse?«

»Goetheallee 59 A, in Blasewitz. Soll ich vielleicht mitkommen?«

»Natürlich«, antwortete Maria bestimmt, »Sie können uns bei der Klärung der Frage behilflich sein, ob etwas fehlt, falls sich tatsächlich jemand Zugang zu der Wohnung verschafft hat. Das würde Ihnen doch bestimmt auffallen, nicht wahr?«

Molberg nickte und schwankte für einen kurzen Moment. Halt suchend griff er die Lehne eines neben ihm stehenden Stuhls.

»Sie fahren mit den Kollegen.« Sie gab den betreffenden Beamten einen Wink und schickte auch die Spurensicherung zu der angegebenen Adresse.

Kapitel 2

Obwohl der starke Regen mittlerweile aufgehört hatte und es nur leicht nieselte, war der Himmel noch immer grau und verhangen. Wie ein schweres Tuch lag er über dem Elbtal. Als Maria über die Albertbrücke fuhr, schaute sie in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihre Kollegen hinter ihr waren, und seufzte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, an diesem Freitag früh Feierabend zu machen, um den Einkaufsbummel zu unternehmen, den sie schon seit Langem vor sich her geschobenen hatte. Sie brauchte unbedingt neue Kleidung fürs Frühjahr und den Sommer. Den größten Teil ihrer Sachen hatte sie bereits aussortiert, in blaue Müllsäcke verpackt und in die Kleiderspende gegeben. Symbolisch hatte sie damit auch ihr altes Leben hinter sich gelassen – und mit diesem die schrecklichen Ereignisse des vergangenen Jahres, Nihats Tod, ihre eigene Schuld. Zumindest hatte sie es versucht.

Allerdings sah es im Moment gar nicht nach Frühjahr aus. Sie schaute von der Brücke aus nach rechts. Dunkel erhoben sich der hohe Turm der Hofkirche und links, ein Stück nach hinten versetzt, die helle Spitze der Frauenkirche. Die langgestreckte Fassade der Kunstakademie auf der Brühlschen Terrasse wirkte in dem trüben Licht seltsam starr und leblos. Sie verließ die Brücke, umfuhr das Karree, das auf das Käthe-Kollwitz-Ufer führte, und passierte wenig später die drei Elbschlösser, die sich auf dem gegenüberliegenden Ufer aneinanderreihten, stumme steinerne Zeugen einer vergangenen Epoche. Am Vogesenweg bog sie rechts ab und stieß wenig später auf die Goetheallee. Nach wenigen Metern tauchte links vor ihr das Standesamt mit seinen Türmchen, Erkern und Loggien auf. Die elektronische Stimme des Navigationssystems teilte ihr mit, dass sie ihr Ziel auf der rechten Seite erreicht hatte.

Sie warf durch die Frontscheibe einen Blick auf das Anwesen. Natürlich, wie konnte es anders sein? Als Alexander Molberg ihr die Adresse genannt hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass sein Vater in einer stilvollen Villa residiert hatte. Neorenaissance, vermutete sie, war sich aber nicht sicher, als sie das große, herrschaftliche Haus eingehender betrachtete. Vor einigen Jahren hatte sie an einer Führung durch den Stadtteil Blasewitz teilgenommen. Neben Anekdoten über wohlhabende Persönlichkeiten aus der Vergangenheit waren auch die unterschiedlichen Baustile der Villen erläutert worden.

Aber ob nun Jugendstil oder Neorenaissance, sie mussten dort hinein. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Kollegen rückten ebenfalls an und stellten ihre Fahrzeuge nacheinander hinter ihrem BMW ab.

Alexander Molberg stürmte an ihr vorbei, riss die Pforte zum Grundstück auf, hastete eine kleine Treppe hoch und öffnete die Haustür. Sie und die Kollegen folgten ihm bis in eine kleine Eingangshalle. Ein riesiger Messinglüster hing von der mit dunklem Holz vertäfelten Decke und erhellte den fensterlosen Raum. Molberg öffnete eine schwere Holztür und blieb im selben Moment wie angewurzelt stehen. Maria drängte sich neben ihn, um selbst zu sehen, was ihn so erschreckt hatte. Das Bild, das sich ihr bot, war verstörend. Schränke standen offen, Schubladen waren herausgerissen, Dokumente, Akten und aus Umschlägen herausgerissene Briefe lagen überall verstreut auf dem Boden. Eine Grünpflanze lag vor einer schlanken Blumensäule am Boden. Unter dem Wurzelballen häuften sich schwarze Erde und Scherben des zerbrochenen Topfes, daneben lag, umgekippt auf dem Rücken, ein zierlicher, mit dunkelgrünem Samt bezogener Sessel.

Ein Ruck ging durch Alexander Molberg. Entschlossen durchquerte er das heillose Chaos, sodass einzelne Blätter aufwirbelten. Er ging zur gegenüberliegenden Wand, die mit Kassetten verkleidet war. Marias Augen folgten ihm. Selbst von dort, wo sie stand, konnte sie sehen, dass sich eine der kastenförmigen Vertiefungen von den anderen unterschied. Ein kleines Türchen stand offen. Molberg öffnete es komplett, sodass dahinter ein Safe sichtbar wurde. Auch der war geöffnet. Gähnende, schwarze Leere tat sich vor ihnen auf.

Alexander Molberg wandte sich um, einen hilflosen, ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht.

»Alles weg«, presste er hervor.

»Was war in dem Safe?«, wollte Maria wissen und folgte ihm durch das Durcheinander.

Aber Molberg gab keine Antwort, sondern starrte nur abwechselnd zum Safe und zum Chaos auf dem Fußboden.

»Was war in dem Safe?«, fragte sie erneut.

»Schmuck meiner Mutter aus Familienbesitz, Expertisen und Geld«, gab er schließlich zögernd Auskunft. »Wie viel genau, weiß ich allerdings nicht.«

»Gut, das werden wir später im Protokoll aufnehmen. Hat Ihr Vater die Villa alleine bewohnt?«

 

»Ja, aber er hat nur die untere Wohnung benutzt. Die obere Wohnung hat er Gästen von außerhalb zur Verfügung gestellt. Ein Zimmer davon hat er genutzt, um Kleinmöbel, Bilder und allen möglichen Krimskrams unterzustellen.«

Maria gab ihren Kollegen ein Zeichen, mit der Arbeit zu beginnen und die übrigen Zimmer zu untersuchen.

»Ich muss Sie bitten, mich aufs Präsidium zu begleiten, wo wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen werden«, wandte sie sich wieder an den Sohn des Ermordeten.

»Ist es möglich, dass ich mich vorher selbst davon überzeugen kann, ob noch weitere Sachen gestohlen wurden?«

»Ja, selbstverständlich«, sagte Maria. »Ich komme mit.«

Zusammen verließen sie das Zimmer und gingen zurück in den Flur, von dem aus sie die übrigen Räume betraten. Aber wie sich herausstellte, hatte der mutmaßliche Mörder von Bernhard Molberg nur diesen einen Raum gezielt durchsucht.

Eine Stunde später saß Alexander Molberg in Marias Büro. Er sah noch immer blass aus und wirkte zutiefst niedergeschlagen. Der Tod seines Vaters hatte ihm augenscheinlich einen schweren Schlag versetzt. Nachdem sie die Formalitäten erledigt und Molberg ihr zugesichert hatte, den Bestand im Geschäft mit der Inventarliste zu vergleichen und eine Aufstellung über den Inhalt des Safes, soweit er davon Kenntnis hatte, anzufertigen, fragte Maria ihn:

»Sie haben angegeben, dass Sie im Geschäft Ihres Vaters mitarbeiten. Worin genau besteht Ihre Tätigkeit denn?«

»Ich akquiriere Kunstgegenstände, im Prinzip im gesamten Bundesgebiet. Das bedeutet, dass ich relativ oft unterwegs bin. Außerdem liefere ich auch Objekte an Käufer aus.«

Maria nickte.

»Ihr Vater war gestern Abend noch lange im Geschäft und hat ganz offensichtlich seinem Mörder die Tür geöffnet. Wissen Sie, ob er eine Verabredung mit jemandem hatte?«

Nachdenklich schüttelte Molberg den Kopf.

»War es üblich, dass Ihr Vater zu so später Stunde noch Kunden empfing?«

»Soviel ich weiß, kam das durchaus vor. Aber Genaues hat er mir nie erzählt. Jeder von uns hatte seinen eigenen Arbeitsbereich.«

»Was könnte es gewesen sein, das der Mörder unbedingt aus dem Safe an sich bringen wollte? Den Familienschmuck oder eine Expertise?«

»Ich weiß es nicht. Bringt man jemanden wegen einer Expertise um?«

»Wenn die Expertise, sagen wir mal, nicht echt ist, vielleicht? Oder einen viel höheren als den tatsächlichen Wert ausweist?«

»Was wollen Sie damit andeuten?« Molberg hatte seine Stimme erhoben. »Mein Vater ist … war ein absolut integrer Geschäftsmann und Kunstkenner mit einem einwandfreien Leumund. Denken Sie, dass sich jemand in diesem Bereich über fünfundzwanzig Jahre lang halten kann, wenn er Kunstgegenstände mit gefälschten Expertisen verkauft? Das ist ja geradezu lächerlich, was Sie da sagen!«

»Ich tue nur meine Arbeit, Herr Molberg«, entgegnete Maria ruhig.

Sein Blick traf sie wie ein eisiger Lufthauch.

»In dem Safe muss sich etwas befunden haben, das für den Mörder von größter Wichtigkeit war und das er unbedingt in seinen Besitz bringen wollte«, fuhr sie ungeachtet seiner Reaktion fort. »Ihr Vater wurde vor seinem Tod misshandelt und so wahrscheinlich zur Herausgabe des Schlüssels und der Nummernkombination für den Safe gezwungen.«

»Ich kann Ihnen nicht mehr sagen als das, was ich bereits genannt habe: Schmuck meiner Mutter, sie ist vor fünf Jahren gestorben, Expertisen und andere Dokumente. Und Bargeld, das er immer parat haben wollte. In dieser Branche ist Barzahlung üblich.«

»Wie viel war es normalerweise?«, hakte Maria nach.

»Unterschiedlich. Aber ich glaube, er hatte immer eine Summe von fünfzehn- bis zwanzigtausend Euro verfügbar.«

»Gut. Wissen Sie, ob Ihr Vater Feinde hatte?«

»Nicht, dass ich wüsste. Neider, ja. Aber Neid ist auch eine Form der Anerkennung für jemanden, der erfolgreich ist.«

»Wer wird das Geschäft übernehmen, jetzt, da Ihr Vater tot ist?«

»Ich nehme an, dass ich der Alleinerbe bin, sollte mein Vater sein Testament nicht geändert haben.« Undurchdringlich sah er sie an. »Und schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf, dass ich meinen eigenen Vater ermordet und zuvor gefoltert habe, um an die Kombination für den Safe zu kommen. Ich habe auch kein neu aufgesetztes Testament vernichtet, das mich benachteiligen würde. Wenden Sie sich an den Notar Dr. Hübscher, wenn Sie mir nicht glauben. Meines Wissens hat mein Vater seinen letzten Willen dort hinterlegt.«

Molberg stand auf. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gerne gehen. Ich möchte ein wenig allein sein.«

»Ja, das war’s fürs Erste«, sagte Maria.

Bevor Molberg das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal um.

»Ich habe meinen Vater geliebt. Der Tod meiner Mutter hat uns noch enger zusammengeschweißt. Ich hoffe sehr, dass Sie das Schwein finden, das ihn auf dem Gewissen hat.« Dann ging er grußlos.

Maria warf den angeknabberten Bleistift, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Schreibtisch. Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass Alexander Molberg nicht gelogen hatte. Wieder griff sie nach dem Bleistift und fing an, das Ende mit ihren Zähnen zu bearbeiten. Nachdenklich runzelte sie die Stirn, aber noch war es viel zu früh, um irgendwelche Vermutungen anzustellen. Ihr Blick blieb an dem leeren Schreibtisch ihr gegenüber hängen. Bis vor knapp einem Jahr hatte dort ihr Kollege, Hauptkommissar Gerd Wechter, gesessen. Jetzt konnte sie sich unmittelbar nach der Besichtigung eines Tatorts nicht mehr mit ihm austauschen. Das war für Gerd und sie eine Art Ritual gewesen und hatte hervorragend funktioniert. Sie hatten die Gedanken frei und ungehindert fließen lassen und Intuitionen und Gefühle verbalisiert, um sie greifbar zu machen, ihnen Form und Gestalt zu verleihen. Nie wieder würde er sie eindringlich mit seinen grauen Augen mustern, denn sie selbst hatte ihn erschossen, hier, in ihrem gemeinsamen Büro.

Zum tausendsten Mal blitzten die Bilder des Schusswechsels vor ihrem geistigen Auge auf. Sie hatte ihn mit eindeutigen Beweisen für einen von ihm begangenen, brutalen Mord konfrontiert und ihn damit in die Enge getrieben. Er hatte nichts mehr zu verlieren gehabt und seine ungesicherte Dienstwaffe auf sie gerichtet. Maria war es gewesen, die den ersten Schuss abgefeuert und ihn am Oberschenkel verletzt hatte. Er hatte sofort zurückgeschossen. Mit einem Hechtsprung zur Seite war sie der Kugel ausgewichen und hatte ihn noch im Fallen mit einem zweiten, tödlichen Schuss außer Gefecht gesetzt.

Noch immer hatte sie das Geschehene nicht verarbeitet und es hörte einfach nicht auf, sie nachts in ihren Träumen heimzusuchen. Sie quälte sich mit Selbstvorwürfen, denn sie hatte diese Situation heraufbeschworen. Zwar war ihr von Seiten der Staatsanwaltschaft nach der Untersuchung eine Notwehrsituation bestätigt worden, aber Kommissarin Maria Wagenried wusste, dass dies nur die halbe Wahrheit war.

Seitdem saß sie alleine hier in diesem Büro. Wie sie am Rande mitbekommen hatte, wurden mehrere Kandidaten für die Neubesetzung der Stelle gehandelt, aber die Mühlen in Behörden mahlten eben langsam, auch in Personalfragen. Hin und wieder hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, sich versetzen zu lassen, ihn jedoch stets gleich wieder verworfen. Sie hing an Dresden, hatte schon immer hier gelebt, geliebt und gelitten und dabei Blessuren davongetragen, von denen manche so tief waren, dass sie gedacht hatte, dass sie sich nie mehr davon erholen würde. Hier hatte sie das Leben von seiner erbarmungslosen Seite kennengelernt. Aber auch von seiner schönsten.

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