Blutiges Erbe in Dresden

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»Maria? Kommst du?«



Als sie das Dessert auf dem Tisch sah, rief sie freudig: »Oh, lecker, das sieht einfach köstlich aus.«



Genüsslich löffelte sie ihr Eis und schlürfte den Espresso.



»Gar nicht so schlimm, dass wir nicht im

Canadian

 essen konnten«, meinte sie, »und auch erheblich bequemer.« Grinsend tippte sie auf den Jogginganzug. »Natürlich kein exquisites Drei-Gänge-Menü, aber es lässt sich aushalten.«



»Da bin ich froh«, meinte Dess lächelnd, stand auf und ging in Richtung Terrassentür. »Ich gehe eine rauchen. Du kommst sicherlich nicht mit, nehme ich an.«



»Nein, lieber nicht. Habe eben schon innere Kämpfe ausgetragen.«



Dess verschwand auf der Terrasse.



Als er von draußen wieder reinkam, setzten sie sich auf die Couch und tranken ein weiteres Glas Rotwein, während sie sich unterhielten. Doch das Gespräch wurde immer schleppender, weil sie beide müde wurden. Maria legte die Beine hoch und Dess hing mehr in dem Zweisitzer gegenüber, als dass er saß. Mit einem Mal fielen Maria die Augen zu und sie schlief ein.



Ein schrilles Läuten weckte sie. Im ersten Moment fiel es ihr schwer, sich zu orientieren. Doch dann erkannte sie im dämmrigen Morgenlicht Dess’ Wohnzimmer. Er selbst war auf die Seite gesackt und schnarchte wie ein Bär.



Wer, in drei Teufels Namen, ruft an einem Sonntag zu solch einer unchristlichen Zeit an?

 Das konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten. Vielleicht war jemandem aus seiner Familie etwas zugestoßen? Womöglich seiner betagten Mutter, die, wie Maria wusste, schon über neunzig war.



Mühsam rappelte sie sich hoch, stolperte zu Dess und rüttelte ihn unsanft an der Schulter. Schlaftrunken sah er sie an.



»Wach auf, Dess! Das Telefon. Es klingelt schon die ganze Zeit!«



»Was?«, murmelte er und schloss die Augen wieder.



»DAS TELEFON!!! Vielleicht gehst du besser ran. Ist bestimmt wichtig.«



»Herrgott noch mal! Wehe, das ist es nicht, ansonsten bringe ich denjenigen eigenhändig um. Satansbrut!«



Schwankend ging er zur Anrichte neben dem Esstisch und nahm den Hörer von der Basisstation.



»Ja?«, grunzte er mit belegter Stimme. »WAS? Das ist ja wohl ein schlechter Scherz! Ja, okay, aber fassen Sie um Gottes Willen nichts an!« Er sah rüber zu Maria, die sich bei seinen alarmierten Worten aufrecht hingesetzt hatte. »Haben Sie schon die Polizei verständigt? Gut. Ich bin in einer Dreiviertelstunde da.«



Langsam legte er den Hörer auf und sah Maria mit großen Augen an.



»Im Institut wurde eingebrochen. Jemand hat sich an einer Leiche zu schaffen gemacht.«



»Das ist nicht dein Ernst!«



»Ich befürchte, doch.«



»Ich komme mit!«, entgegnete Maria bestimmt. Sie war neugierig, was im Institut vorgefallen war. Außerdem wollte sie nach Hause, ihre Wohnung lag nicht weit entfernt, um sich umzuziehen und ihr Auto zu holen. Sie musste anschließend ins Präsidium fahren, obwohl Sonntag war. Mordermittlungen waren an den Wochenenden nun mal nicht auf Eis gelegt.



Als sie sich nach dem Duschen wieder in der Küche trafen, beobachtete Maria ihn aus den Augenwinkeln. Sehr gesprächig schien er heute Morgen nicht zu sein. Nur zu gerne hätte sie mehr über die Ereignisse im Rechtsmedizinischen Institut erfahren, sie lechzte geradezu nach weiteren Einzelheiten. Aber Dess hatte eine verschlossene Miene aufgesetzt. Wenn er nicht darüber sprechen wollte, würde er es auch nicht tun, selbst wenn sie ihn danach fragte. So gut kannte sie ihn. Doch in wenigen Minuten würde sie mit eigenen Augen sehen, was genau passiert war. Schweigend frühstückten sie. Bevor sie aufbrachen, schluckten beide noch eine Aspirin.



Das Institut für Rechtsmedizin war in einem Gebäude auf dem weitläufigen Areal der Universitätsklinik untergebracht. Zwei Polizeiwagen standen im absoluten Halteverbot auf der Zickzacklinie direkt vor dem Haupteingang.



Dess stieg schnell aus, öffnete die Tür und stürmte mit weit ausholenden Schritten zu den Kellerräumen, in denen die Toten aufbewahrt und obduziert wurden. Maria hatte Mühe, ihm zu folgen und wäre beinahe in ihn hineingerannt, als er abrupt stehen blieb. In einer Ecke standen zwei Polizisten und ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes. Das kalte Neonlicht betonte hart und unbarmherzig die Müdigkeit auf ihren Gesichtern.



»Petermann«, stellte Dess sich vor. »Ich bin der leitende Rechtsmediziner und das ist Frau Hauptkommissarin Wagenried.«



Die Uniformierten sahen auf, der Jüngere von beiden wollte zu ihm gehen, aber Petermann hob abwehrend die Hand.



»Ich bin gleich bei Ihnen, ich möchte mir nur vorher selbst ein Bild machen.«



Es war kalt hier unten. Im Kühlraum stand ein Hubwagen vor dem offenen Lagerungssystem aus drei Etagen, auf ihm lag ein geöffneter Leichenplastikbehälter. Erst Sekunden später erfassten Marias Augen den nackten Mann, der bäuchlings dahinter auf dem Boden lag. Sie schlängelte sich an Dess vorbei und ging um den Toten herum, um ihn besser inspizieren zu können. In seinem Nacken leuchtete eine frische, rote Wunde. Sie hockte sich neben die Leiche, um die Verletzung zu inspizieren.



»An der gleichen Stelle herausgeschnitten wie bei Bernhard Molberg«, hörte sie Dess sagen. Verblüfft sah sie hoch zu ihm und dann wieder zum Toten, der mit seltsam abgewinkelten Armen und Beinen vor ihr lag. Der Rechtsmediziner bückte sich runter zu den Füßen und drehte das Etikett am großen Zeh des Mannes um. Anschließend wälzte er ihn auf die Seite und blickte ihm prüfend in das wächserne Gesicht. Er stutzte.



»Das ist Guido Brunner«, sagte er zu Maria und sah sie alarmiert an. »Der Mann, der gestern Abend im

Canadian

 erschossen wurde.«




Kapitel 5





Jerusalem, 1985





Das Taxi hielt direkt vor dem

Hotel Gloria

 am Jaffator, dessen Name von der Straße herrührte, die zur gleichnamigen Stadt führte, und das zu Zeiten der Kreuzritter den Namen Davidstor getragen hatte.



Drei Männer zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren stiegen aus. Unterschiedlicher konnten sie nicht aussehen. Andreas, der Größte unter ihnen, war die auffälligste Erscheinung. Hochgewachsen und schlank, mit schwarzem, welligem Haar, überragte er seine Begleiter fast um eine ganze Kopflänge. Der Kleinste und Kräftigste, Friedrich, hatte weiche, fast weibliche Gesichtszüge, war blond und trug ein Oberlippenbärtchen. Benedikt, der dritte Mann, hatte militärisch knapp gestutztes Haar und wirkte sportlich und durchtrainiert. Sie betraten die angenehm temperierte Hotellobby, die in einem Gewölbe untergebracht war.



Hier, in dieser geschichtsträchtigen Stadt, in der sich die Kulturen der Antike und der Moderne treffen, sollte ihre dreitägige Pilgerreise beginnen, die sie lange geplant und nun endlich in Angriff genommen hatten. Den Tag ihrer Ankunft wollten sie für einen Bummel durch das christliche und das muslimische Viertel der historischen Altstadt nutzen.



Nachdem sie sich frischgemacht, bequemes Schuhwerk und leichte Sachen angezogen hatten, machten sie sich auf den Weg. Ihr Ziel war der Tempelberg, der nicht mehr als zwanzig Minuten Gehzeit entfernt lag. Andreas schob sich eine Sonnenbrille in seine Haare und hängte sich eine Schultertasche um, in der er drei kleine Flaschen Mineralwasser und eine Kamera verstaut hatte.



Sie bogen in die Omar-Ben-el-Hatab-Straße ein, die, wie üblich um diese Uhrzeit, von Hunderten Touristen bevölkert wurde. Das hellgraue Pflaster und die fast weißen Fassaden der Häuser, aus dem Jerusalemer Kalkstein Meleke errichtet, reflektierten das Licht, sodass Andreas und seine Begleiter gezwungen waren, ihre Sonnenbrillen aufzusetzen. Die Straße mündete in die berühmte Davidstraße, eine schmale Gasse, in der sich Massen von Menschen aneinander vorbeischoben. Hier begann der arabische Basar, der Suq, ein Labyrinth aus verzweigten Gassen, Stiegen und Passagen, von denen viele mit Steingewölben überdacht waren. Von Zeit zu Zeit wurde der Strom der Touristen unterbrochen, sobald eine Gruppe vor einem der unzähligen Geschäfte stehenblieb, mit ausgestreckten Fingern auf die bunten Auslagen wies und sofort von einem geschäftstüchtigen Ladenbesitzer mit einem Schwall der Überredungskunst zum Kauf angehalten wurde. Auch die drei Männer ließen ihre Blicke neugierig umherschweifen und lugten durch die geöffneten Türen der vielen Läden, Kaffeebars und Restaurants.



Mittlerweile hatte Andreas seine Kamera aus der Tasche genommen, um die vielfältigen Eindrücke auf Polaroid zu bannen. Gemächlich schlenderten sie im Pulk der Massen weiter, bis die ebene Gasse in Stufen überging, deren rechteckige Steine im Laufe der Jahrhunderte durch Millionen Füße blank gescheuert worden waren. Eine faszinierende Mischung aus Gerüchen, Geräuschen und bunten Eindrücken überwältigte Andreas und seine beiden Begleiter. Sie bogen links in die Muristan-Straße ein und befanden sich wenige Schritte weiter in dem von Kreuzfahrern angelegten ältesten Teil des historischen Zentrums, im Suq el Lahhamin, der »Straße der Metzger«. Die mittelalterlichen Stände und winzig kleinen Restaurants übten eine Faszination aus, der sich die drei Männer nur schwer entziehen konnten.



Doch Andreas, der wie selbstverständlich die Führung übernommen hatte, lotste sie mit einer Karte in der Hand auf die Davidstraße zurück. Auch hier zwängten sich die Läden und Gewölbe oftmals nur in Nischen oder schmale Alkoven in den Mauern der eng zusammengedrängten Häuser. Neben Lebensmitteln, vor allem das Obst wurde in verschwenderischer Pracht und beeindruckenden Aufbauten zur Schau gestellt, wurden vor allem Lederwaren, Kleidung, Teppiche und Keramik angeboten.



Sie hätten noch Stunden hier verbringen können, aber sie hatten ein klares Ziel vor Augen. Am Ende der schmalen Gasse stiegen sie eine Eisenleiter hinauf, die auf eine Plattform über den Dächern führte. Sobald sie oben angelangt waren, bot sich ihnen ein überwältigender Anblick. Vor ihnen erstreckte sich der Tempelberg, ein künstlich angelegtes Plateau, in dessen Mitte sich die riesige, goldene Kuppel des Felsendoms erhob. Daneben lag die al-Aqsa-Moschee.

 



Für einen Moment schwiegen sie andächtig, dann holte Andreas einen kleinen Reiseführer aus seiner Tasche und verteilte die Flaschen mit dem Mineralwasser an seine Freunde.



»Ich habe das Wichtigste markiert, keine Sorge, es wird keine Vorlesung«, meinte er lächelnd und trank einen Schluck. »Ich werde mich auf das Wesentliche beschränken«, versprach er und begann laut vorzulesen.



»Vom ursprünglichen Tempel ist heute nur noch die westliche Stützmauer, die sogenannte Klagemauer, erhalten. Nach der Eroberung Jerusalems wurde am Ort der heutigen al-Aqsa-Moschee das erste Moscheegebäude aus Holz errichtet. Von der christlichen Belagerung Jerusalems im Jahr 1099 bis zu ihrer Niederlage 1187 war der Tempelberg im Besitz der Kreuzfahrer, die den Felsendom ›Templum Domini‹ nannten und in ihm eine Kapelle einrichteten. In der al-Aqsa-Moschee befand sich der Hauptsitz des Templerordens. Der König von Jerusalem, Balduin II., überließ den Templern im Jahre 1119 die Gebäude seines ehemaligen Palastes auf dem Tempelberg. Der Orden nannte sich daraufhin ›Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis‹, was, wie ihr wisst, nichts anderes als ›Arme Ritter Christi und des Tempels von Salomon zu Jerusalem‹ bedeutet, woraus sich dann die heute üblichen Bezeichnungen Tempelritter, Templer und Templerorden ableiten.«



Zufrieden klappte Andreas das schmale Büchlein wieder zu. »Obwohl ich euch nichts Neues vorgelesen habe, fand ich es jetzt gerade passend. Erhebend, oder nicht?« Bestätigend nickten Friedrich und Benedikt. »So, liebe Freunde. Auf geht’s!« Er wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Tempelberg. »Da liegt unser Ziel.«



Keiner der drei bemerkte die Gestalt, die ihnen unauffällig folgte.



Auch viel später, als sich die Männer bereits auf dem Rückweg befanden, folgte ihnen der Schatten. Geschickt hielt er sich im Verborgenen und nutzte die vielen Nischen und Winkel, um ihnen unerkannt zu folgen. Er behielt sie im Auge und wartete geduldig, bis sie nach einer Stunde aus dem dunklen Innern der Grabeskirche erschöpft wieder ins gleißend helle Sonnenlicht traten. Sie beschlossen, in einem Restaurant, das man ihnen empfohlen hatte, eine Kleinigkeit zu essen. Nicht mehr als eine leichte Mahlzeit, denn es war trotz der späten Nachmittagsstunde noch immer drückend heiß. Das Lokal lag in einer schmalen Seitengasse unmittelbar neben der Davidstraße und empfing sie mit einem köstlichen Duft von Gebratenem, Knoblauch und Gewürzen. Hungrig und voller Vorfreude betraten sie den kleinen Raum, nahmen an einem der wenigen Tische Platz und vertieften sich in die Speisekarte. Noch immer hatten sie keine Ahnung von dem huschenden Schatten, der gerade in einem gegenüberliegenden Café verschwunden war und von dort aus den Eingang des Restaurants mit Argusaugen überwachte.



Während Andreas und seine beiden Begleiter aßen, sprachen sie über die schier überwältigenden Sinneseindrücke. Sie waren sich darüber einig, dass sie sich als unauslöschliche Erinnerung in ihr Gedächtnis prägen würden und eine wertvolle Bereicherung für ihr Leben darstellten, obwohl sie den eigentlichen Zweck ihrer Reise, das Pilgern, noch gar nicht erfüllt hatten. Eine Wallfahrt nach Jerusalem bedeutete für Christen eine Reise zum Ursprung des Christentums. Die Stätten, an denen Jesus gepredigt, gewirkt und das Abendmahl gefeiert hatte und wo er gestorben war, waren das Ziel jeden Pilgers. Auch der Kreuzweg Jesu, die Via Dolorosa, wurde bis zu der Kreuzigungsstätte auf dem Felsen Golgatha abgeschritten.



Doch mit einem Mal wurde die Miene von Andreas ernst. Er legte das Besteck auf den Teller und sah seine Freunde eindringlich an: »Ich werde mich noch heute Nacht mit dem Mittelsmann treffen, um ihm die Dokumente zu übergeben.« Seine Stimme klang fest und entschlossen.



Die beiden anderen sahen sich schweigend an.



»Willst du es dir nicht doch noch überlegen, Andreas?«, warf schließlich Friedrich, der älteste der drei Männer, ein. »Die Sache kann gefährlich werden.«



»Dessen bin ich mir absolut bewusst. Aus diesem Grund nehme ich das Risiko auch allein auf mich. Aber die Papiere zu übergeben, ist zwingend notwendig. Ihr seid doch derselben Meinung?!«



Zögernd nickte der kleine, kräftige Mann mit dem blonden Oberlippenbärtchen. Benedikt hingegen kniff die Lippen zusammen und zog zweifelnd die Stirn in Falten.



»Es wird nicht lange dauern, höchstens eine Stunde, dann bin ich wieder da. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen«, beendete Andreas das Gespräch. Sein Entschluss stand fest.



Es war bereits nach Mitternacht, als er das Hotel verließ. Er rief ein Taxi herbei und nannte dem Fahrer die Adresse. Die Fahrt dauerte länger, als er angenommen hatte.



»Ist es noch sehr weit?«, fragte er den Fahrer auf Englisch. »Ich habe in fünf Minuten eine Verabredung. Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange dauert. Es sind doch nur zwölf Kilometer.«



»Nein, wir sind gleich da«, antwortete der Mann und lenkte den Wagen um eine Ecke. Ein wenig wunderte sich Andreas schon, dass die Gegend, durch die sie gerade fuhren, noch immer vom Sechs-Tage-Krieg gezeichnet war, obwohl der schon fast zwanzig Jahre zurücklag. Sie fuhren an Ruinen vorbei, deren Umrisse bizarr in den Nachthimmel ragten. Dazwischen standen verlassene Häuser ohne Scheiben, deren Fenster wie schwarze, leblose Augen die Fassaden durchbrachen. Nur eine einzige Laterne beleuchtete die trostlose Straße, in die sie gerade einbogen. Beklommen sah Andreas sich um. Hier stimmte etwas nicht! Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, um den Fahrer erneut zu fragen, hielt der Wagen mit einem Ruck an. Blitzschnell drehte der Chauffeur sich um und richtete eine Pistole auf ihn. Verblüfft starrte Andreas in den offenen Lauf der Schusswaffe. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, traf ihn der tödliche Schuss mitten in die Stirn.



Der Taxifahrer stieg aus und öffnete die Tür zum Fond. Er riss die Tasche an sich, die neben seinem Fahrgast auf dem Rücksitz lag, zog die Papiere heraus und blätterte sie durch. Er hatte, was er wollte. Nein, noch nicht ganz, noch fehlte etwas!



Er zerrte den Toten aus dem Auto und schleppte ihn zu einer verlassenen Ruine. Dann machte er sich an sein blutiges Werk. Mit einem langen Messer öffnete er den Brustkorb, bis das Herz dunkelrot und glänzend vor ihm lag. Sorgfältig schnitt er es heraus, trug es zum Taxi und legte es in eine Schachtel im Kofferraum. Anschließend reinigte er sich die Hände mit einem in Essig getränkten Lappen, setzte sich in sein Auto und fuhr davon. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er daran dachte, dass ihm der anerkennende Dank der Assoziierten gewiss war, sobald er die für sie überaus wichtigen Dokumente und das Herz eines Feindes übergeben hatte.




Kapitel 6



Am Montagmorgen saß Maria bereits kurz nach acht wieder am Schreibtisch. Heute würde der Bericht der Spurensicherung über die Untersuchung des Hotelzimmers von Guido Brunner eintreffen. Die ballistische Untersuchung, die ebenfalls noch ausstand, würde Aufschluss über die Tatwaffe und das Kaliber geben. Außerdem war für um zehn die Obduktion von Bernhard Molberg angesetzt.



Vorher wollte sie jedoch Notar Dr. Hübscher anrufen. Sie musste Alexander Molbergs Aussage überprüfen, dass sein Vater schon vor längerer Zeit ein Testament gemacht hatte, das ihn begünstigte.



Und dann war da noch das Stück Haut, das beiden Ermordeten im Nacken herausgeschnitten worden war. Deutlicher konnte es nicht sein: Diese Morde hingen zusammen. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte eine interne Nummer. Wenig später klopfte es an die Tür und Hellwig Dreiblum trat ein.



»Guten Morgen, Frau Wagenried, da bin ich.« Lächelnd trat ihr Assistent näher.



Maria sah ihn an. Irgendetwas war anders an ihm. Sie musterte ihn von oben bis unten, bis ihr ein Licht aufging.



»Mensch, Hellwig, ich wusste gar nicht, dass Sie blond sind.«



Er errötete.



»Endlich haben Sie mal diese bekloppte Mütze abgenommen.«



Hellwig Dreiblum wurde noch einen Ton dunkler im Gesicht.



»Ich möchte, dass Sie mir einen Termin bei Notar Dr. Hübscher machen. Möglichst zeitnah. Und wo ist die Ermittlungsakte Guido Brunner?«



»Ich hole sie.« Er zog wieder ab. Als Maria ihm hinterher sah, bemerkte sie, dass er auch eine neue Hose trug, nicht so einen Schlabbersack wie sonst. Sie vermutete, dass diese positive Verwandlung auf eine Frau zurückzuführen war.



Ihr fiel ein, dass sie Dess noch danach fragen musste, für wann er die Obduktion der Leiche von Guido Brunner angesetzt hatte. Gerade hatte sie ihr Handy gezückt, als Hellwig Dreiblum wieder ins Büro kam und die Akte auf den Schreibtisch legte.



»Setzen Sie sich, Hellwig. Sie können mir helfen.« Sie wies mit der Hand auf den freien Platz vor sich. Unsicher blickte ihr Assistent auf Gerd Wechters ehemaligen Schreibtischstuhl, setzte sich dann aber doch. Sie warf ihm die Hälfte der im

Canadian

 handschriftlich angefertigten und von den Zeugen unterschriebenen Vernehmungsprotokolle über den Tisch.



»Lesen Sie die Aussagen durch und achten Sie darauf, ob jemand zu Protokoll gegeben hat, dass er den Täter etwas hat rufen hören, bevor er geschossen hat.«



Maria ging ihren Stapel ebenfalls durch. Nach der Durchsicht der achten Aussage war sie noch nicht fündig geworden.



»Sind Sie auf etwas gestoßen, Hellwig?«



Ihr Assistent sah kurz hoch und schüttelte den Kopf.



»Weitermachen«, forderte sie ihn auf und tat das Gleiche.



Nur das Rascheln der Blätter unterbrach von Zeit zu Zeit die Stille.



»Hier!«, rief ihr Assistent plötzlich, »hier steht was. Ein Herr Stemmer hat ausgesagt, dass der Täter etwas gerufen hat, bevor die Schüsse knallten. Er konnte sich aber nicht mehr erinnern, was es gewesen war, weil die Ereignisse sich dann überschlagen haben.«



»Lesen Sie noch die restlichen Aussagen durch. Anschließend laden Sie diesen Herrn Stemmer vor. Vielleicht können wir seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.«



Es dauerte eine weitere Dreiviertelstunde, bis sie alle Dokumente geprüft hatten. Es blieb bei diesem einen Zeugen, niemand sonst hatte etwas gehört.



Hellwig Dreiblum stand auf, um den Notar anzurufen. Sobald er ihr Büro verlassen hatte, griff Maria nach ihrem Handy und rief Desmond Petermann an, der sich nach wenigen Freizeichen meldete.



»Schaffst du es nicht bis zehn?«, fragte er ohne Umschweife.



»Doch, natürlich. Ich wollte nur fragen, ob du nicht gleich im Anschluss Guido Brunner obduzieren kannst.«



»Moment, ich schaue mal nach.«



Sie hörte Papier rascheln und unterdrücktes Stimmengemurmel.



»Ja, geht klar. Aber du musst Staatsanwalt Schmücke überzeugen, dass er noch ein oder zwei Stündchen länger bleiben muss.«



Verdammt!

 Daran hatte sie nicht gedacht. Aber zur Not würde es auch ohne ihn gehen, falls er keine Zeit mehr haben sollte. Sie warf einen Blick auf die Uhr und fasste einen Entschluss. Hellwig Dreiblum würde sie begleiten. Sie wählte seine Nummer.



»Sie kommen mit zur Obduktion von Molberg und Brunner. In fünfzehn Minuten fahren wir los.«



Schweigen am anderen Ende.



»Ich habe das noch nicht mitgemacht, also ich meine …«



»Dann wird es höchste Zeit. Haben Sie Dr. Hübscher erreicht?«



»Ja, heute Nachmittag um halb drei, wenn es Ihnen recht ist.«



»Das ist mir sogar sehr recht«, sagte sie, bevor sie auflegte. Eine Sekunde später klingelte das Telefon. Sie verdrehte die Augen, als sie die interne Nummer erkannte. Kriminaloberrat Rottge! Der hatte ihr gerade noch gefehlt.



»Ja, Wagenried«, meldete sie sich.



»Guten Morgen«, dröhnte er. »Ich wollte Ihnen mitteilen, dass das Auswahlverfahren für die vakante Stelle abgeschlossen ist. Nächste Woche haben Sie wieder einen neuen Kollegen. Herrn Hauptkommissar Laschkow, er wechselt aus Leipzig zu uns. Er wird am Montag kommender Woche seinen Dienst antreten.«



»Großartig«, entgegnete Maria indifferent.



»Scheint Sie ja nicht sonderlich zu interessieren.«



»Papier ist geduldig. Die offiziellen Voraussetzungen erfüllt er, sonst hätte er den Posten nicht bekommen. Ich werde mir im Laufe der Zusammenarbeit selbst ein Bild machen.«

 



»Ich wollte Sie nur informieren. Schon irgendwas Neues in unseren Fällen?«



»Absolut nichts, wir sind ja gerade erst am Anfang. Heute Nachmittag werden wir Dr. Hübscher aufsuchen. Das ist der Notar, bei dem Bernhard Molberg sein Testament hinterlegt hat.«



»Sehr gut. Wann findet denn die Obduktion statt?«



»Heute Morgen, gleich um zehn. Um ehrlich zu sein, deswegen bin ich ein bisschen in Eile.«



»Natürlich, grüßen Sie Dr. Petermann von mir.« Damit knallte er den Hörer auf.



Maria verließ ihr Büro, um Hellwig Dreiblum abzuholen.



»Ist Ihnen nicht gut?« Maria sah ihren Assistenten an, der auffällig blass und schweigsam auf dem Beifahrersitz saß.



Gerade hatten sie die St. Petersburger Straße überquert und fuhren nun die Pillnitzer Straße entlang, weil das Terrassenufer mal wieder gesperrt war. Das bedauerte sie, denn sie liebte es ganz besonders, an der Elbe entlangzufahren, ob mit dem Fahrrad oder mit dem Auto. Insbesondere in den frühen Morgenstunden, wenn die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war, aber ihr Erscheinen mit einem blassrosa Schimmer am Himmel ankündigte und die prachtvollen Villen und die drei Elbschlösser am gegenüberliegenden Elbhang in ein geradezu märchenhaftes Licht tauchte. Auch der Morgennebel, der wie feenhafte Schleier aus den Wiesen am Fluss hochstieg, verzauberte Maria immer wieder aufs Neue.



»Ich bin ein bisschen nervös, muss ich zugeben.« Hellwig Dreiblum presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und räusperte sich.



»Das sind wir alle beim ersten Mal«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Ist halb so schlimm. Etwas anderes wäre es, wenn wir eine Wasserleiche hätten. Der Gestank ist unbeschreiblich.«



Hellwig Dreiblum sah sie von der Seite an, klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber dann wieder.



»Wollten Sie was sagen?«



Er schüttelte den Kopf.



»In fünf Minuten sind wir da.«



Sie waren pünktlich und die ganze Meute hatte sich schon versammelt. Staatsanwalt Schmücke, Dr. Stein als zweiter Mediziner, mehrere Ärzte in Ausbildung, vielleicht waren es auch noch Studenten, und schließlich Desmond Petermann, der alle ein großes Stück überragte. Maria sah in ihre Gesichter, die durch das harte, helle Licht der Neonröhren blass und konturlos wirkten.



Bernhard Molbergs Leiche lag nackt auf einem Seziertisch. Desmond Petermann begann mit der Obduktion. Zunächst untersuchte er den tiefen Schnitt im Hals, der bei der Strangulation mit der Garotte herbeigeführt worden war. Beide Aorten waren fast vollständig durchtrennt. Dann wandte er sich den Händen zu, durch die der Mörder dicke, lange Nägel getrieben und die er damit an den Tisch fixiert hatte.



»Warum hat der Mörder das getan? Was meinen Sie, Dr. Petermann?« Maria und Dess hatten sich darauf geeinigt, bei offiziellen Terminen das formelle ›Sie‹ zu benutzen. Es sollte nach außen nicht der Eindruck einer Vertrautheit zwischen ihnen entstehen, die die Objektivität beeinträchtigen könnte.



»Auf mich hatte es am Tatort so gewirkt, als sollte er gezwungen werden, einen Segen zu empfangen«, fuhr Dr. Stein schnell dazwischen, bevor Dess antworten konnte. »Oder es sollte an Jesus Christus erinnern. Ihm wurden die Hände ans Kreuz genagelt.«



Maria kommentierte keine der beiden Äußerungen, von denen ihr weder die eine noch die andere plausibel erschien.



Dess fuhr mit der Untersuchung fort und inspizierte akribisch die Hautoberfläche mit einer starken Lupe. Doch hier war nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches festzustellen. Dann wurde der Leichnam auf den Bauch gedreht, sodass alle Anwesenden die Wunde im Nacken sehen konnten.



»Im Bereich des vierten und fünften Nackenwirbels wurde ein Stück Haut, circa fünf mal drei Zentimeter, entfernt«, erläuterte Desmond laut, während er die Wundränder genauer inspizierte. »Mit einem Messer herausgeschnitten. Post mortem. Keine Nachblutungen an der Wunde erkennbar.«



Der Tote wurde wieder auf den Rücken gelegt und der Obduktionsassistent begann, den Schädel von Bernhard Molberg mit einer Handsäge zu öffnen. Das dabei entstehende Geräusch verursachte nicht nur bei Maria Unbehagen, sondern auch bei den Umstehenden, wie sie an deren Mienen ablesen konnte. Desmond entnahm das Gehirn und legte es sogleich auf eine Platte, die am Fußende des Stahltisches angebracht war. Dort schnitt er es fein säuberlich in Scheiben, um innere Blutungen auszuschließen. Seine Beobachtu

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