Buch lesen: «tali dignus amico», Seite 11

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iii) Großzügigkeit mit Hintergedanken: Erfolg und Absichten einer üppigen cena
1) Langweilige recitationes

Großzügigere Gastgeber werden auch bei Martial dargestellt. Allerdings beruht diese Großzügigkeit i.d.R. auf bestimmten Interessen. Im dritten Buch kann man ein gutes Beispiel in der sog. Ligurinus-Gruppe vorfinden (3,44; 3,45; 3,50).

Selbst wenn dabei das patronus-cliens-Verhältnis nicht explizit thematisiert wird, kann man die drei Epigramme dennoch für die typische Thematik der cena auswerten. Hier kann man aber v.a. aus der Betrachtungsweise des Ganzen vonseiten des Sprechers, der sich öfter als Eingeladener inszeniert, eine Parallele zu expliziteren Darstellungen ziehen, die das Verhältnis zwischen patronus und cliens problematisieren, wie im Abschnitt 2) gezeigt wird.

Im ersten EpigrammMartial3,44 wird Ligurinus und dessen Störung, der Rezitationswahn, dem Leser vorgestellt: nimis poeta es, | hoc valde vitium periculosum est, 4f. In den zwei letzten Epigrammen findet der Leser dann eine Selbstinszenierung des Sprechers selbst als Gast bei dem Dichterling. Der Sprecher habe nämlich die Einladung des Ligurinus angenommen und genieße anscheinend die großzügige cena, die ihm angeboten wird. Diese aber wird dennoch zu einer Qual. Wörtlich wird Ligurinus zwar nicht als patronus bezeichnet, seine Lage als wohlhabender Mann und Gastgeber erlaubt es dem Leser aber, ähnlich wie in den vorherigen Epigrammen, eine Parallele zu dem patronus-cliens-Verhältnis zu ziehen.

In 3,44 wird die Manie des Ligurinus noch als tragisch inszeniert: Er wird von allen gemieden, um ihn herum entstehen eine fuga sowie eine solitudo ingens (2f.). Die überraschende Wirkung des Ligurinus auf seine Umwelt wird anschließend überzeugend erklärt: Seine unablässigen und gnadenlosen Rezitationen in allen Lebenssituationen (10‑16) bedeuten solche labores für alle Zuhörer, dass alle wie vor lebensgefährlichen Tieren fliehen (6‑9). Die Tragik des Falls betont der Schlussvers: Obwohl Ligurinus ein guter Mensch ist, wird er gemieden (vir iustus, probus, innocens timeris, 18).1

Im direkt anschließenden Epigramm (3,45)Martial3,45 versucht Ligurinus offensichtlich, Zuhörer durch eine großzügige cena anzulocken. Aber schon der Einleitungsvers desillusioniert: Wie der Sonnengott vor der Atreus-cena für Thyestes geflohen ist, so meiden alle Eingeladenen den rezitierenden Ligurinus. Dabei inszeniert sich der Sprecher im zweiten Vers aus einer „Wir“-Gäste-Perspektive (fugimus nos, Ligurine, tuam [cenam], 2). Zwar serviert Ligurinus seinen Gästen köstliche Delikatessen (dapibus… superbis, 3), diese werden jedoch vom Sprecher als gezwungenem Hörer abgelehnt; er will nur, dass Ligurinus schweigt (nolo mihi ponas rhombos mullumve bilibrem, | nec volo boletos, ostrea nolo: tace, 5‑6).

In Epigramm 3,50Martial3,50 wird erneut die cena des Poetasters durchgespielt: Pro Gang eine Rezitation im Umfang von mehr als einem Buch müssen die Gäste bis zum Überdruss aushalten. Die reiche cena wird damit zu einem unerträglichen Ereignis und das köstliche Essen verliert an Wert (8). Der Sprecher empfiehlt daher, die scelerata poemata (9), die den Hörern so viel Leid zufügen, als Einwickelpapier für die Fische auf dem Markt zu verwenden, und droht dem Dichterling an, in Zukunft allein speisen zu müssen, da die Gäste keine Einladungen mehr annehmen würden.

Obwohl Ligurinus an sich ein aufrichtiger Mann (vir iustus, probus, innocens, 3,44,18) und großzügiger Gastgeber (3,45; 3,50) ist, gelingt es ihm nicht, gut vor seinen Gästen dazustehen, und zwar wegen seines unverschämten Verhaltens – so stellt es der Sprecher zumindest dar. Doch es ist nicht die einzige Beschreibung anscheinend großzügiger Gastgeber, die Martial anbietet, denn aus Profitinteresse lassen sich die Eingeladenen doch gelegentlich gerne korrumpieren – dabei wird übrigens das eigentliche patronus-cliens-Verhältnis expliziter.

2) Sozialer Gewinn und sexuelle Ausbeutung

Dass die cena in der Kaiserzeit vielfach dazu diente, die soziale Stellung des patronus zu demonstrieren und zu bestätigen, ist auch aus den bisher besprochenen Gedichten schon deutlich hervorgegangen, in denen sich der Patron von den Klienten demonstrativ abzusetzen versucht. Bei Martial findet sich aber auch eine Reihe von Patronen, die sich als großzügig repräsentieren, dies aber mit bestimmten unseriösen Absichten tun und trotzdem (anders als Ligurinus) damit bei ihren Gästen Erfolg haben, ohne an Sympathie Einbußen zu erleiden (so jedenfalls suggeriert es Martials ironische Darstellung).

In 6,48 wird ein Patron vorgestellt, der die turba togata zu Bravo-Rufen bewegt. Martial stellt klar, dass nicht die Eloquenz des Pomponius, sondern seine cena den Applaus bewirkt. Der Ausdruck turba togata hat sich für die Klienten eingebürgert, die zu diesem Anlass (wie auch für die salutatio am Morgen) in Toga gewandet erschienen.1 Die clientes nehmen also die recitationes bzw. declamationes des Patrons in Kauf, um an der cena teilzunehmen.2 Diese sind jedoch vermutlich nicht so unerträglich wie die des Ligurinus, denn das köstliche Essen verlor immerhin nicht an Wert. Sie verhalten sich damit wie Parasiten-Typen der Komödie: um ein prandium zu erlangen, schmeicheln sie gerne. Der Sprecher aber schweigt hier ironisch darüber3 und wendet sich dagegen nur an den patronus, der das wohl nicht erkennen kann.4

Bemerkenswert ist die Benennung der Eingeladenen/clientes: War im Caecilianus-Epigramm 1,20 von einer turba spectans vocata die Rede, was zwar im Allgemeinen auf die Gäste bzw. Eingeladenen, aber auch auf die Klienten hindeutet (denn die Teilnahme an der cena stellte, wie gezeigt wurde, einen wichtigen Teil des patronus-cliens-Verhältnisses in der Kaiserzeit dar),5 so wird hier in 6,48 ausdrücklicher mit turba togata auf die clientes hingewiesen: Die für einen freien Römer typische Kleidung, die Toga, steht häufig metonymisch für die Klienten, die diese bei Treffen mit dem Patron trugen,6 wie man noch an anderen Stellen und bei anderen Autoren feststellen kann (und wie noch gezeigt werden wird). Mit turba wird andererseits die Perspektive des Patrons entlarvt, der die Masse der clientes nur anonymisiert wahrnimmt, d.h. nicht mehr den einzelnen Schutzbefohlenen, sondern nur die Masse der Claqueure oder der lästigen Bittsteller.7

An anderen Stellen geht es nicht nur um die Selbstbestätigung des Patrons als Redner oder Dichter, sondern um sexuelle Dienste. Nur zwei Epigramme weiter (6,50) wird das Erfolgsrezept für clientes verraten: Sexuelle Dienste lohnen sich finanziell am schnellsten. Der pauper Telesinus hat als amicus von obsceni cinaedi erheblichen Reichtum gewonnen:Martial6,50


Cum coleret puros pauper Telesinus amicos,
errabat gelida sordidus in togula:
obscenos ex quo coepit curare cinaedos,
argentum, mensas, praedia solus emit.
vis fieri dives, Bithynice? conscius esto. 5
nil tibi vel minimum basia pura dabunt.

Der topische Zusammenhang zwischen purus-obscenus und pauper-dives sowie die Bedeutung von colere und curare im Rahmen des patronus-cliens-Verhältnisses wird unten noch ausführlicher behandelt. Bemerkenswert ist hier, wie die Beschreibungselemente des Telesinus als arm (pauper: errare, gelida togula, sordidus) mit seinem nun gehobenen Lebensstil (argentum, mensas, praedia, solus emere: dives) kontrastiert werden.8 Dass es sich um einen cliens handelt, geht aus dem Verb colere und dem despektierlichen Deminutiv togula hervor, denn toga, wie oben erwähnt, steht metonymisch für die Klienten.9

Der Sprecher erklärt (pseudo)belehrend seinem Adressaten Bithynicus, wie Telesinus sich seinen Unterhalt durch ein fragwürdiges Verhalten so erfolgreich gesichert hat.10 Aber im Unterschied zur turba togata in 6,48Martial6,48 handelt es sich hier um sexuelle Gefälligkeiten und nicht um Schmeichelei, wie durch die Erwähnung der obsceni cinaedi und der basia pura11 offensichtlich wird. Ein thematisches Pendant dazu findet der Leser in 9,63; allerdings kritisiert Martial da wesentlich expliziter das Verhältnis von cena und sexueller Dienstleistung:Martial9,63

Ad cenam invitant omnes te, Phoebe, cinaedi.

mentula quem pascit, non, puto, purus homo est.

Phoebus, ein bei Martial häufig verwendeter griechischer Name,12 wird als Gast vorgestellt, der von omnes cinaedi ausdrücklich zur cena eingeladen wird und damit unbarmherzig der Prostitution bezichtigt wird: Er ernährt sich dank der Arbeit seiner mentula13.

Umgekehrt erkennt der Sprecher in 1,23, warum er beim Adressaten nicht auf eine Einladung zur cena hoffen darf: Er habe den „Schönheitstest“ im Bad nicht bestanden:Martial1,23

Invitas nullum nisi cum quo, Cotta, lavaris

et dant convivam balnea sola tibi.

mirabar quare numquam me, Cotta, vocasses:

iam scio me nudum displicuisse tibi.

Man darf die vorliegenden Inszenierungen als ins Sexuelle gezogene Variationen eines parasitären Verhaltens vonseiten des Gastes/Klienten betrachten, welcher Gunst bei den Patronen findet. Der Sprecher präsentiert sich als Beobachter meistens distanziert davon. Jedoch werden auch andere Beispiele für ausdrücklicher parasitäre Figuren präsentiert, die anscheinend nicht so viel Glück bei ihren patroni fanden – und der Sprecher scheint ihnen dabei näher zu stehen.

iv) Parasiten-Typen

Weniger pikant als in 6,50 und 9,63 verspottet der Sprecher andere schmarotzerhafte Typen, die zwar wie Telesinus und Phoebus für eine cena Vieles machen würden, jedoch in ihrem Bemühen scheitern. Damit wirken sie lächerlich. Auch wenn der Sprecher nicht explizit wertet, demaskiert sie ihr Verhalten als tatsächliche parasiti.

Caecilianus1 ist wiederum als Figur in 2,37 zu finden, nun als schmarotzerhafter Gast, der heimlich Essen von einer cena mit nach Hause nimmt2:Martial2,37


Quidquid ponitur hinc et inde verris,
mammas suminis imbricemque porci
communemque duobus attagenam,
mullum dimidium lupumque totum
muraenaeque latus femurque pulli 5
stillantemque alica sua palumbum.
haec cum condita sunt madente mappa,
traduntur puero domum ferenda:
nos accumbimus otiosa turba.
ullus si pudor est, repone cenam: 10
cras te, Caeciliane, non vocavi.

Der Sprecher spricht zusammen mit den restlichen Teilnehmern der cena (nos, 9) in einem kollektiven „Wir“. Sie alle sehen zu, wie einer von ihnen, Caecilianus, das kostbare Essen skrupellos seinem Sklaven reicht, damit dieser es zu ihm nach Hause bringt (8). Dass der Sprecher diese kostbare cena veranstaltet und folglich mit dem Gastgeber gleichzusetzen sei, ist communis opinio.3 Im vorletzten Vers appelliert der Sprecher an das Anstandsgefühl des Caecilianus und mahnt ihn, das Essen zurückzugeben (ullus si pudor est, repone cenam, 10) – was offensichtlich nicht geschieht, denn im letzten Vers kündigt der Sprecher an, den Caecilianus nicht weiter zur cena einladen zu wollen (11).

Im Zentrum dieses Gedichts steht die Figur des Gastes, der als Schmarotzer sein Verhalten übertreibt – wobei sicher für die meisten der Gäste, zu denen der Sprecher sich mit der Wir-Form selbst zählt, gilt, dass sie die Einladung dem cenam captare verdanken (vgl. 2,18).Martial2,18 Der Unterschied zwischen beiden Gruppen ist also der fehlende pudor. Damit knüpft der Text m.E. an den horazischen Gedanken coram rege de paupertate tacentes in epist. 1,17,44f. an: distat, sumasne prudenter | an rapias (dazu s.o. Horaz-Kapitel).Horazepist. 1,17,44

In Buch 2 treten allerdings auch andere Parasiten-Typen auf: Das lässt sich vor allem in der sog. Selius-Gruppe4 erkennen (2,11; 2,14; 2,27 und 2,69). Dabei positioniert sich der Sprecher zwar distanziert, doch wenn er selbst als parasitäre Figur impliziert wird, argumentiert er ironisch und ausweichend (2,18).Martial2,11Martial2,14Martial2,27Martial2,69

Anders als Caecilianus, der verschiedene Figuren darstellt, wird mit Selius bei Martial eher ein konsistenter Typus eingeführt:5 ein Mahlzeitjäger,6 den der Sprecher in einer ganzen Sequenz verspottet. Aus der Perspektive des Beobachters zeigt der Sprecher diverse Szenen, in denen sich Selius mit allen Mitteln darum bemüht, eine Einladung zur cena zu bekommen. Ähnlich wie bei der Ligurinus-Gruppe werden hier in jedem Epigramm stufenweise neue Facetten des Selius hinzugefügt.

In 2,11 findet der Leser eine Beschreibung seines Aussehens: Durch Verhaltensweisen, die auf Betrübnis (maeror) hindeuten, wird dem Adressaten Rufus dieser Selius zuerst beschrieben (1‑5). Betrübt ist er auf den öffentlichen Plätzen Roms zu sehen. Grund für solche Betrübnis und Trauer sind aprosdoketisch keine topisch unglücklichen Ereignisse wie dem Tod von Freunden oder Verwandten oder dem finanziellen Ruin: (6‑9) sondern, so offenbart der Sprecher im letzten Versfuß (10) als Pointe, dass er keine Einladungen zur cena bekam; er muss allein zu Hause zu Abend essen (domi cenat) (2,11):Martial2,11


Quod fronte Selium nubila vides, Rufe,
quod ambulator porticum terit seram,
lugubre quiddam quod tacet piger voltus,
quod paene terram nasus indecens tangit,
quod dextra pectus pulsat et comam vellit: 5
non ille amici fata luget aut fratris,
uterque natus vivit et precor vivat,
salva est et uxor sarcinaeque servique,
nihil colonus vilicusque decoxit.
maeroris igitur causa quae? domi cenat. 10

Wie oben bei 11,35Martial11,35gezeigt wurde und auch noch gezeigt werden wird, stellt das domi cenare7 für einen ständigen Besucher großer patronallen Häuser ein sehr negatives Ereignis dar,8 vor allem wenn dieser Besucher eine parasitäre Figur verkörpert – man betrachte z.B. 5,479. Selius wird vom Sprecher zwar ironisch, aber auf eine mildere Weise dargestellt („satiric but not savage“, so Williams 2004, 58). Ist zunächst von dessen maeror in 2,11,Martial2,11weil er allein zu Hause essen muss, die Rede, so werden dem Leser seine Bemühungen in 2,14 vorgestellt: Dort versucht er auf einer Irrfahrt durch ganz Rom von jemandem zur cena eingeladen zu werden, wodurch mythische Figuren mit epischen Weltreisen in Erinnerung gerufen werden (etwa die Entführung der Europa, Jasons Mythos oder die Flucht der Io bis zum Nil) (2,14): Martial2,14


Nil intemptatum Selius, nil linquit inausum,
cenandum quotiens iam videt esse domi.
currit ad Europen et te, Pauline, tuosque
laudat Achilleos, sed sine fine, pedes.
si nihil Europe fecit, tunc Saepta petuntur, 5
si quid Phillyrides praestet et Aesonides.
hic quoque deceptus Memphitica templa frequentat,
adsidet et cathedris, maesta iuvenca, tuis.
inde petit centum pendentia tecta columnis,
illinc Pompei dona nemusque duplex 10
nec Fortunati spernit nec balnea Fausti,
nec Grylli tenebras Aeoliamque Lupi:
nam thermis iterumque iterumque iterumque lavatur.
omnia cum fecit, sed renuente deo,
lotus ad Europes tepidae buxeta recurrit, 15
si quis ibi serum carpat amicus iter.
per te perque tuam, vector lascive, puellam,
ad cenam Selium tu, rogo, taure, voca.

Der Sprecher betont von Anfang an Selius’ Hartnäckigkeit (nil intemptatum… nil… inausum, 1) in dem Bestreben, zu einer cena eingeladen zu werden.10 Wenn er sich gezwungen sieht, allein zu Hause essen zu müssen (2), unternimmt er einen unermüdlichen Lauf durch ganz Rom:11 An allen Hauptorten der Stadt sucht Selius verzweifelt nach einem potenziellen patronus, der ihn zu sich nach Hause einlädt. Der Sprecher betont das Beharren und steigert die Verzweiflung des Selius pathetisch: Bei Selius’ erstem Versuch wird dies durch das Bild des hektischen Laufens (currit) um die Porticus der Europa und des unablässigen Schmeichelns (laudat… sed sine fine) gegenüber dem Paulinus (3-4) betont;12 im zweiten Versuch eilt er zu den Saepta Julia (Saepta petuntur), wo ihm wohl die dort stehenden Statuen13 Chirons und Jasons hold sein mögen. Nachdem er trotzdem enttäuscht wird (deceptus), kommt ein dritter Versuch, bei dem sein Beharren noch pathetischer dargestellt wird: Er geht, wobei mit frequentat ironisch die Häufigkeit betont wird, zum Isis-Tempel, sitzt dort (adsidet) und wartet (vergeblich), bis jemand kommt. Von dort eilt er (inde petit) zur Porticus der Hundert Säulen und durch die gesamte Pompeius-Anlage. Es ist schon nachmittags, trotzdem hat er keine Einladung bekommen und eilt daher weiter (nec spernit) zu Privatbädern wohl niedriger Qualität,14 aber auch zu den großen öffentlichen Thermen, wo der Höhepunkt dieser Beschreibung erreicht wird: Ausdrucksvoll wird Selius’ Abwarten mit einem in der römischen Literatur nie vorgekommenen dreifachen Iterativausdruck15 dargestellt, der das Ganze stark betont:16 iterumque iterumque iterumque lavatur (13).

Die Komik, die in der Spannung zwischen dem trivialen Anlass und den zu epischen labores gesteigerten Bemühungen des Selius liegt, findet ihren Höhepunkt in der Bewertung der Erfolglosigkeit: Selius hat alles getan, was man tun konnte (omnia cum fecit, 14); wie bei epischen Helden muss also ein Gott schuld an dem vergeblichen Bemühen und der endlosen Irrfahrt sein (renuente deo). An der Europa-Porticus, wo am Morgen die Fahrt begonnen hat, hofft er dann, den einen oder anderen spät heimkehrenden amicus17 abzupassen. Martials Erzähler inszeniert durch dieses scheinbare Mitgefühl mit dem vergeblich Leidenden eine ähnlich komische Tragik, wie er sie bei dem manischen Dichter Ligurinus (3,44) evoziert hat, der gerade durch seinen Mitteilungsdrang nichts anderes als ingens solitudo erreicht.

In den letzten zwei Versen (17‑18) wendet sich der Sprecher an Jupiter, den Entführer der Europa. Er soll Selius zum Mahl einladen. Die Deutung der Pointe ist in der Forschung umstritten. Williams und Salanitro18 erklären den Schluss so, dass der Sprecher den frommen Wunsch äußert, Selius solle doch erlöst und von irgendjemandem, selbst von der göttlichen Statue, eingeladen werden, damit er mit seiner Aufdringlichkeit niemandem mehr belästigt.19 In seinem übertriebenen Bemühen wird er also als Typus des Komödienparasiten gezeichnet, was sich am Schmeicheln für ein Mahl zeigt.20

Noch deutlicher wird das im nächsten Epigramm dieser Gruppe dargestellt, in dem sein Anliegen unverhohlen deutlich gemacht wird (2,27):Martial2,27

Laudantem Selium cenae cum retia tendit

accipe, sive legas, sive patronus agas:

‘effecte! graviter! cito! nequiter! euge! beate!

hoc volui!’ ‘facta est iam tibi cena, tace.’21

Deutete der Sprecher in 2,14Martial2,14den Zusammenhang zwischen laudare und einer Einladung zur cena nur an (4), so ist in 2,27 dieser Zusammenhang das Hauptthema: Selius wird de facto einem Komödienparasiten gleichgesetzt. Der Sprecher warnt den Leser als potenziellen Gastgeber vor dem schmeichelnden Selius (laudantem Selium).22 Sah sich der horazische Mena, einem Fisch gleich, in epist. 1,7,74Horazepist. 1,7,74 vom occultus hamus eines Abhängigkeitsverhältnisses bedroht, wodurch er zum mane cliens et iam certus conviva des Gönners/patronus würde, so wird hier umgekehrt der Gastgeber einer Beute gleichgesetzt, die sich vor Angriffen des Parasiten hüten sollte, denn nach ihr wird ein Netz ausgeworfen, um eine cena-Einladung zu erhalten (1): Schmeichelei. Ob der Parasit hier mit einem cliens zu identifizieren ist, bleibt offen, weil der Sprecher mit einer solchen Ambiguität zu spielen scheint. Es wird ein Verhalten kritisiert, das für clientes typisch ist, das aber in Rom so verbreitet ist, dass es nicht mehr diesem konkreten sozialen Verhältnis ausdrücklich zugeordnet werden muss.

Für den martialischen Sprecher ist hier der potentielle Gastgeber mit recitationes beschäftigt oder als patronus [causarum] tätig (sive legas, sive patronus agas, 2), zwei Aktivitäten, für die, wie man gesehen hat (3,45; 3,50; 6,48), Gastgeber gerne gelobt werden. Der dritte Vers besteht ausschließlich aus von Selius ausgesprochenen Beifallsrufen,23 deren Aufdringlichkeit seine Intention durchschauen lässt. Dies führt dazu, dass der Sprecher im nächsten Vers genervt antwortet, Selius habe seine cena bekommen, nun solle er endlich schweigen (facta es iam tibi cena, tace!, 4). Wie der finale Imperativ voca in 2,14 stellt nun tace den Höhepunkt des Überdrusses des Sprechers dar („a note of blunt dismissal“, so Williams 2004, 107).24 Selius hat sein Ziel nach drei Epigrammen durch Schmeichelei und Hartnäckigkeit erreicht. Dies sind Mittel, von denen sich der Sprecher offensichtlich distanziert, die jedoch, wie noch gezeigt wird, sehr häufig einen literarischen Niederschlag im patronus-cliens-Diskurs finden.

Im Epigramm 2,69 (nachdem in 2,68 das patronus-cliens-Verhältnis im Mittelpunkt stand; dazu s.u.) kommt der Sprecher auf das Thema der parasitären Gäste zurück. Adressat des Epigramms ist Classicus, der beteuert, ungern Einladungen zur cena anzunehmen. Dem widerspricht allerdings der Sprecher entschieden: Classicus sei im Endeffekt nicht anders als Selius (2,69):Martial2,69


Invitum cenare foris te, Classice, dicis:
si non mentiris, Classice, dispeream.
ipse quoque ad cenam gaudebat Apicius ire:
cum cenaret, erat tristior ille, domi.
si tamen invitus vadis, cur, Classice, vadis? 5
‘cogor’ ais: verum est; cogitur et Selius.
en rogat ad cenam Melior te, Classice, rectam.
grandia verba ubi sunt? si vir es, ecce, nega.

Wieder wird im Kontrast zwischen cenare foris und cenare domi hervorgehoben, dass nur im Eingeladensein das Glück besteht. Hierbei wird cenare domi mit den Begrifflichkeiten für Trauer charakterisiert (tristior, 4, vgl. den maeror bei Selius 2,11).Martial2,11 In der ersten Hälfte des Epigramms wird demnach die Heuchelei des Classicus zurückgewiesen, weil es unter diesen Voraussetzungen niemanden geben kann, der eine Einladung ungern annimmt; als stützendes Exempel wird hierbei die Trauer des Gourmets Apicius genannt.25 Der Beweis dafür, dass Classicus heuchelt, liegt in seinem Verhalten: Er nimmt doch jede Einladung an. Angeblich tut er das aus Höflichkeit (cogor), doch dieser „Zwang“ ist kein sozialer Druck, sondern wird mit der Parallele zu Selius als zwanghaftes Verhalten entlarvt. Den Beweis fordert der Sprecher mit einer Einladung zu einer recta cena26 bei Melior ein: Wenn Classicus ein Mann ist, muss er hier der Versuchung widerstehen und absagen können.27 Seine grandia verba erweisen sich also als falsch.28

Hat sich zwar der Sprecher von einer solcher captatio cenae distanziert gezeigt, muss man doch zwei an Maximus gerichtete Epigramme29 in Betracht ziehen: Das erste (2,18) wird inmitten der Selius- und Zoilus-Epigramme präsentiert, das zweite (2,53) nimmt unterschiedliche, im zweiten Buch vorkommende Motive30 der patronus-cliens-Problematik wieder auf, zu denen die cena bei Patronen als freiheitsberaubendes Element gehört.Martial2,53

Im schon oben erwähnten und unten noch zu betrachtenden Epigramm 2,18 stellt sich der Sprecher als aktiver cliens des Maximus dar: Er schildert alle Pflichten, die er erfüllen muss, und kommt zu der Schlussfolgerung, dass diese Tätigkeit nichts anderes als ein Sklavendienst ist:Martial2,18


Capto tuam, pudet heu, sed capto, Maxime, cenam,
tu captas aliam: iam sumus ergo pares.
mane salutatum venio, tu diceris isse
ante salutatum: iam sumus ergo pares.
sum comes ipse tuus tumidique anteambulo regis, 5
tu comes alterius: iam sumus ergo pares.
esse sat est servum, iam nolo vicarius esse.
. qui rex est, regem, Maxime, non habeat

Das cliens-patronus-Verhältnis wird hier eindeutig als hierarchisch charakterisiert; eine Gleichwertigkeit beider Seiten ist ausgeschlossen. Doch damit wird der problematische Punkt des Epigramms angesprochen: Der patronus selbst verhält sich nicht, wie es ein hierarchisch Höhergestellter müsste, sondern er tut dasselbe wie der cliens: captat cenam; venit salutatum; comes est. Damit stehen patronus und cliens auf derselben Stufe: iam sumus ergo pares wird refrainartig in jedem Pentameter wiederholt. Damit wäre eigentlich das Ideal erreicht, das in dem sprachlichen Euphemismus der amicitia zum Ausdruck kommt. Aber der cliens widerspricht dem, indem er die Konsequenzen dieser hierarchischen Abstufung seines Patrons aufdeckt: Nicht die Gleichheit wird erreicht, sondern das hierarchische Verhältnis bleibt erhalten, nur dass die Stellung des cliens noch tiefer absinkt. Dies verdeutlicht der Sprecher in der Analogie zur Hierarchie unter Sklaven: Er ist nicht mehr nur servus, sondern im Sklavenverhältnis der Sklave eines Sklaven (vicarius). Zugleich wird der Sprachwitz dadurch gesteigert, dass das patronus-cliens-Verhältnis nicht nur mit der Analogie von Herr und Sklave ausgedrückt wird, sondern auch in der Analogie von König und Untertan. Der Patron wird ansonsten in ironisierender Übertreibung durchaus als rex bezeichnet, hier jedoch wird die Analogie, die schon seit Plautus belegt ist, ernst genommen und als positive Wertung verstanden: Wer ein rex sein will, muss sich auch wie ein Alleinherrscher verhalten: Er darf keinen anderen rex über sich anerkennen. Die Selbstinszenierung des Sprechers als cliens (mit allen negativen Eigenschaften, z.B. als captator cenae) dient hier der Entschuldigung dieses Verhaltens, weil der Zwang des hierarchischen Verhältnisses für den Sprecher eine akzeptierte und wohl auch unabwendbare Situation ist, nicht aber für den kritisierten patronus, weil der freiwillig seine soziale Rolle aufgibt und sich zum cliens erniedrigt.

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