Buch lesen: «Inspiration 3/2020»

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Foto 1: Feuerzeit (Markus Vilain)


Foto 2: Leben in Ton (Andrea Schürgut)

Inhalt

inspiration

Heft 3.20 · Künste

Editorial

Sr. M. Ancilla Röttger osc

Ein geistlicher Mensch – ein Lebenskünstler?

Albert Gerhards

Vom Umgang mit der ästhetischen Tradition

Christian Fröhling

Tarkowskijs Zauber

Daniel Weidner

Das Wort ward Fleisch

Rainer O. Neugebauer

Es wird einmal gewesen sein

Skizzen und Gedanken von Kunstschaffenden

Könige

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

in den vergangenen Wochen der Sommer- und Ferienzeit, die coronabedingt möglicherweise anders als geplant für Sie verlaufen sind, hatten Sie vielleicht doch die Gelegenheit Ihren Alltag zu unterbrechen. Dabei hat möglicherweise die ein oder andere Kunst eine Rolle gespielt – ein Konzert im Freien, ein Museumsbesuch, kunstvoll zubereitetes Essen, ein gutes Buch, ein beeindruckender Film… vielerlei Künste mehr ließen sich aufzählen.

Künste gibt es in vielen Gestalten und sie werden auf unterschiedliche Art und Weise wahrgenommen. Ob etwas ›Kunst‹ ist entscheidet sich nicht an der Frage nach Funktionalität. Kunst lässt aufmerken. Sie unterbricht den Trott und das Gewohnte. Indem sie inspiriert und irritiert schafft sie Räume, in denen wiederum Neues entstehen kann. Diese Kraft der Künste verweist auf ihre religiöse Dimension – unterbrechen, irritieren, inspirieren.

In diesem Heft werden ganz unterschiedliche Aspekte von Kunst beleuchtet – der Umgang mit ästhetischen Traditionen, Filmkunst und die Bedeutung des ›Sehens‹, wo biblischer Text die Dichtung inspiriert hat und wie Musik und Zeit ein ganz besonderes Kunsterlebnis ermöglichen. Darüber hinaus gewähren und Künstlerinnen und Künstler Einblicke in ganz verschiedene Künste: Performancekunst, Schmiedekunst, Keramikkunst, Malerei, Kirchenmusik, Improvisationstheater und Kunst aus Brüchen. Bei allen Unterschiedlichkeiten verbindet die vielen Einblicke eines – die Inspiration.

Eine inspirierende Zeit mit dieser Ausgabe wünscht Ihnen,


Clarissa Vilain

Sr. M. Ancilla Röttger osc

Ein geistlicher Mensch – ein Lebenskünstler?

Was haben Kunst und geistliches Leben gemeinsam? Sowohl Kunst als auch religiöse Erfahrungen lassen uns über uns selbst hinausschauen. Sie eröffnen beide eine Welt, die über das Anfassbare, Sichtbare hinausgeht. Sr. M. Ancilla Röttger greift diese Gedanken auf und zeigt uns, dass es äußerst lohnenswert ist, diese Schnittstelle zwischen äußerer Welt und dem Erlebten im Inneren zu erforschen.

Geistliche Begleitung als Hilfe zur Lebenskunst? – Ich denke: Ja! Es geht in der geistlichen Begleitung doch auch darum, kreativ im eigenen Leben zu werden und die Kunst des Lebens zu erlernen. Dabei gehe ich hier ganz unbefangen mit diesem Wort um, ohne Bezug auf irgendwelche philosophische Definitionen der »Lebenskunst«.

Von einer Künstlerin aus Berlin, die nach ihrer Konversion einige Jahre lang einmal im Jahr mit uns eine Woche lebte, habe ich damals gelernt, was Kunst ist. Kunst – so sagte sie zumindest – entsteht nicht einfach im Innern des Künstlers, sondern an der Schnittfläche der äußeren Welt und des im Inneren Erlebten. Ein Künstler, eine Künstlerin – das sind Menschen, die hochsensibel für Wahrnehmung sind, die sich auf die sie umgebende Wirklichkeit einlassen, die in dem, was sie zuinnerst von dieser Wirklichkeit berührt, zur Hingabe fähig sind. Ist das nicht ein Ziel der geistlichen Begleitung, Menschen dahin zu unterstützen?

Geistliches Leben entsteht an der Schnittfläche der äußeren Welt mit dem verinnerlichten Evangelium.

Das halte ich immer noch für eine grandiose Definition von Kunst, die für alles zutrifft, was kreativ entsteht. Jede Lebensgestaltung, jede echte Beziehung, jedes Werk, das ich schaffe, wird in dieser Schnittfläche geboren. In diesem Sinn könnte man sagen, dass geistliches Leben an der Schnittfläche der äußeren Welt mit dem verinnerlichten Evangelium entsteht. Und wenn man genau hinschaut, wird diese Schnittfläche zu einer Mandorla, in der in der Kunst meist Christus selbst als Weltenherrscher dargestellt wird. Eine Mandorla, die manchmal in der Frühzeit des Christentums aus zwei Lebenskreisen gebildet wurde, die sich überschneiden: Christus, der Herr, in meinem konkreten Leben, da, wo sich der Alltag vom Evangelium durchdringen lässt. Damit eine Schnittfläche entstehen kann, gilt es zunächst, wahrzunehmen, was ist. Woher nehme ich meine Informationen über die Welt, in der ich lebe? Dazu gehören Kultur und Gesellschaft einerseits, wie die kirchliche Situation andererseits. Wie nehme ich die Welt wahr? Durch Gegenwartsanalysen von Wissenschaftlern? Durch Medienberichte? Aus Umfragen? Aus zeitgenössischer Literatur? Oder vielleicht vorwiegend aus Gesprächen und Begegnungen?

Eine Schülerin einer Schulklasse, die zu uns zum Gespräch kam, meinte bezüglich unserer Ordenstracht, dass sie ja schon eine gewisse Einseitigkeit vorgebe. Worauf ich versuchte zu erklären, dass wir immer nur eine Sache wirklich wahrnehmen können. Und meine Schleierform gibt eine Blickrichtung vor. Wenn ich aber in diese Richtung wirklich bis zum Grund aushalte im Schauen, treffe ich auf die menschlichen Grunderfahrungen, die nichts Einseitiges an sich haben, sondern nur in unterschiedlicher Form an die Oberfläche kommen. Kontemplativ leben heißt für mich, so lange und so intensiv die Welt, den Menschen vor mir anzuschauen, bis ich auf dem Grund das Antlitz Gottes erkenne oder erahne. Ebenso: so lange und so intensiv zuzuhören, bis ich auf dem Grund der Worte Gott höre. Karl Rahner sagte einmal: Wer Christus nicht in der Kontemplation erkannt hat, wird ihn in der Aktion nicht wiedererkennen. Das kontemplative Sehen und Hören ist verwurzelt in der Betrachtung Gottes. Und die Frage, mit der ich schaue oder höre, darf nicht zu eng gefasst sein.

Viele Menschen kommen zu uns zum Gespräch, die Hilfe in der Kirche suchen und doch kein Vertrauen zu den Amtsträgern haben, die meinen, wir seien ja auch so ein bisschen Kirche und doch nicht so viel wie ein Pastor. Und dann sprechen sie von ihrer Not, die auf dem Grund immer die Sehnsucht nach Leben und Gott hat. Es sind die Alltagsgeschichten, die das Gewand dieser Suche ausmachen. Im Zuhören entsteht eine Schnittfläche mit meinem Inneren. Es gibt in den von Martin Buber gesammelten chassidischen Erzählungen die Geschichte von Rabbi Mendel von Rymanow: »Er pflegte zu sagen, alle Menschen, die ihn angegangen hätten, um ihretwillen Gott zu bitten, zögen in der Stunde, da er das stille Gebet der Achtzehn Segenssprüche spreche, durch seinen Sinn. Einst wunderte sich jemand, wie dies möglich sei, da die Zeit doch nicht hinreiche. Rabbi Mendel antwortete: »Von der Not eines jeden bleibt eine Spur in meinem Herzen eingeritzt. In der Stunde des Gebetes öffne ich mein Herz und sage: Herr der Welt, lies ab, was hier geschrieben steht!««

Was geschieht hier? Der Rabbi hält innerlich still, wenn jemand ihm seine Not erzählt, nicht verschlossen und distanziert, sondern offen und verwundbar. Eine Spur der Not des anderen wird im Zuhören in sein Herz eingeritzt – und in der Stunde des Gebets hält er vor Gott offen still. Immer wieder sich der Stille aussetzen und sie aushalten, verändert den Menschen. Und wenn in meinem Herzen die Not der andern schmerzt und ich sie in der Stille vor Gott aushalte, geschieht auch da Veränderung. Gott kommt hinein. Der Ritz in meinem Herzen ist eine schmerzhafte Schnittfläche mit der Welt.

Zu dieser Wahrnehmung der Welt gehört für mich auch, was wir in Psalm 94 beten, der im Stundengebet immer wieder vorkommt: »Sollte der nicht hören, der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht sehen, der das Auge geformt hat?« (Ps 94,9). Offensichtlich mehr noch als das Sehen ist das Hören ein Weg nach innen, ein Weg, dem von Innen eine Wurzel entgegenkommt. Die Fähigkeit zu hören wächst nach diesem Bild aus meinem Innern heraus, damit von außen ein Wort hineinkommen kann. Wir können unsere Ohren nicht verschließen wie die Augen. Hören tun wir immer. Vieles, wenn nicht gar das Meiste, überhören wir. Ein Ohr, das sich selber hört, ist krank. Zuhören können wir lernen, und es wird auch in wirtschaftlichen Kreisen in Managementkursen gelernt. Das Zuhören, um das es hier geht, ist mehr als Hunger nach Informationen, um effektiver handeln zu können; es ist vielmehr Lauschen der Sehnsucht. Erst wenn ich ganz still geworden bin, meine eigenen Aktivitäten zur Ruhe gekommen sind, von meiner Seite aus kein Zugriff mehr besteht, beginnt die Möglichkeit, lauschend zu empfangen.

Dass ich etwas höre, kann ich also oft gar nicht mal selbst bestimmen. Aber wie ich höre, kann ich beeinflussen, dass ich hin-höre, liegt an mir. Und das hängt von meiner Fragestellung ab. Elie Wiesel schreibt, wie er zwölfjährig vom Küster Mosche beten lernt: »Er versuchte mir eindringlich zu erklären, dass jede Frage eine Kraft besitzt, welche die Antwort nicht mehr enthält. ›Der Mensch erhebt sich zu Gott durch die Fragen, die er an ihn stellt‹, pflegte er immer wieder zu sagen. ›Das ist die wahre Zwiesprache. Der Mensch fragt und Gott antwortet. Aber man versteht seine Antworten nicht. Man kann sie nicht verstehen, denn sie kommen aus dem Grunde der Seele und bleiben dort bis zum Tode. Die wahren Antworten, Elieser, findest du nur in dir.‹ ›Und warum betest du, Mosche?‹ fragte ich ihn. ›Ich bete zu Gott, der in mir ist, dass er mir die Kraft gebe, ihm wahre Fragen zu stellen.‹«1 Das gilt vor Gott wie vor den Menschen und der ganzen Welt: wahre Fragen zu stellen! Damit sind nicht die »richtigen« Fragen gemeint, sondern Fragen, die das Wahre sich offenbaren lassen. Simone Weil bezeichnet die Aufmerksamkeit als die wichtigste geistliche Tugend. Und damit bin ich in dem, was das Innere betrifft. Schnittfläche – darin steckt schneiden, oder wie der Rabbi sagt: da wird etwas in mein Inneres eingeritzt. Bis jetzt ging es um die Wahrnehmung der Welt und die Weise, wie sie in mich hineinfindet.

*

Ich war einmal in einem alten Spieker und schaute durchs Fenster auf einen Teich. Und ich sah etwas Unglaubliches: aus dem Wasser flammte ein Feuer auf – über dem Wasser ein lebendiges Feuer! Da es kein mit Öl oder sonstigen brennbaren Substanzen verseuchtes Wasser war, hätte es nicht brennen dürfen. – Was war geschehen? Im Fenster, durch das ich auf den Teich blickte, spiegelte sich das offene Feuer, das im Kamin des Raums hinter mir heftig brannte. Genauso ergeht es uns auf allen Ebenen mit unserer Wahrnehmung. Vor uns liegende Wirklichkeit vermischt sich mit den Spiegelbildern hinter uns oder in uns liegender Wirklichkeit, und das Gesamtbild will in seine Anteile aufgeschlüsselt werden. Immer sind in unserem Sehen Anteile der eigenen Wirklichkeit verwoben mit dem, was von außen her auf uns zukommt. So ist es mit unserem Blick auf die Welt, den Menschen und ebenso mit unserem Blick auf Gott. Wie kann mein Blick auf die Welt und auf Christus immer lauterer werden?

Unsere Art, etwas wahrzunehmen, hat eine Entwicklungsgeschichte. In einer Diplomarbeit2 zum Thema »Gegenübertragung« las ich, dass die frühesten Bezugspersonen dem Kind gegenüber eine Spiegelfunktion haben. Und da war die Rede von Spiegelübertragungen – beschrieben als Übertragungen, mit denen andere veranlasst werden sollen, möglichst positiv spiegelnd zu reagieren. Jedes Kind braucht, um sich seelisch gesund entwickeln zu können, das Gefühl, von anderen geliebt und geschätzt zu werden. Fehlt dieses Spiegeln durch die Mutter zum Beispiel, kann der heranwachsende Mensch nur schwer ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Es scheint so, als würde er einen Teil seines eigenen Selbst vermissen und deshalb immer wieder andere benötigen, um diesen Mangel auszugleichen und eine Funktion des Selbst stellvertretend übernehmen zu können. Und diese ersten Bezugspersonen mit Spiegelfunktion bezeichnet Heinz Kohut als »Selbstobjekt«, weil das Kind diese Personen nicht als eigenständige Personen erlebt, sondern so, als wären sie Teile der eigenen Person, des eigenen Selbst. So wird es von den Psychologen für den Anfang des Menschwerdens gesagt: die Notwendigkeit der Spiegelung des Eigenen, um sich aus dem Eigenen heraus entwickeln zu können. Was am Beginn reine Spiegelwahrnehmung ist, kann sich im Laufe des Lebens so völlig vom Spiegeln des Eigenen entfernen, dass einem das Eigene fremd wird, wie es ein Zeugnis aus der Literatur zeigt:

»Vor einiger Zeit – ich hatte eben das sechzigste Lebensjahr erreicht – wurde es mir zur Gewissheit, dass ich das Gesicht, dem ich zumindest einmal täglich im Spiegel begegne, als fremd empfinde. Kein Zweifel, es gehört mir, ich trage es auf meinen Schultern, aber im Verlaufe eines Vorgangs, der Jahre gedauert haben mag, muss ich mich ihm entfremdet haben – ohne irgendeine dramatische Verwandlung und ohne das Gefühl, dadurch einen Verlust erlitten zu haben.«3 so beginnt Manès Sperber seine Autobiographie. Diese fast nüchterne Distanzierung vom eigenen Gesicht und dazu ein winziges Erlebnis, das ihn unerwartet mit der eigenen Endlichkeit konfrontierte, weckte in ihm eine »vorher kaum gekannte Begierde nach Erinnerungen.

Der Weg der Selbstwahrnehmung ist der Weg zu Begegnung und Beziehung. Und dieser Weg der Selbstwahrnehmung fängt beim Kind beim spiegelnden Wahrnehmen an und wächst dann zum Wahrnehmen des Gegenübers, des Anderen, Fremden. In seinem Buch über Spiegel und andere Phänomene schreibt Umberto Eco: »Spiegel haben eine kuriose Eigenschaft: Solange ich hineinsehe, zeigen sie mir die Züge meines Gesichtes, aber angenommen, ich würde der geliebten Person mit der Post einen Spiegel schicken, in dem ich mich lange gespiegelt habe, damit sie sich an meine Züge erinnert, so könnte sie darin nicht mich, sondern nur sich selbst sehen.«4 Müssten wir die Spiegelbilder mit Wörtern vergleichen, so wären sie den Personalpronomen ähnlich: zum Beispiel dem Pronomen »ich«, das, wenn ich es ausspreche, mich meint, und wenn ein anderer es ausspricht, diesen anderen meint.« So wie ich es beim Blick durch das Fenster auf den Teich beschrieb, gilt: Wahrnehmung und Erkenntnis der Wirklichkeit haben damit zu tun, dass man lernt, zwischen Hindurchschauen und Spiegeln zu unterscheiden. Und in dieser Unterscheidung liegt dann auch die Wahrnehmung dessen, was sich in uns ereignet.

Müssten wir die Spiegelbilder mit Wörtern vergleichen, so wären sie den Personalpronomen ähnlich.

Es gibt Erlebnisse in der Wirklichkeit, in der wir stehen, die uns tief ergreifen. Dabei ist das Erleben eines ästhetisch schönen Ereignisses kaum von einem religiösen Ergriffensein zu unterscheiden. Beides zieht uns förmlich in eine Haltung der Hingabe aus uns heraus, die auf das wahrhaft Schöne / Lebendige gerichtet ist. Die jüdische Philosophin Simone Weil sagte einmal, dass Schönheit die reinste Inkarnation des Logos ist. So könnte ein Ergriffensein von der ästhetischen Schönheit des Klangs in einem Konzert auf uns wie eine tiefreligiöse Erfahrung wirken. Der Unterschied, wenn es ihn denn gibt, wird sich in der Schnittfläche zeigen, in der unser konkretes Leben von dem, was wir erleben, durchdrungen wird. Die ästhetische Erfahrung ist an den konkreten Gegenstand gebunden, der diese auslöst und sie kehrt frei reflektierend immer wieder zu ihm zurück. Als religiöse Erfahrung deute ich dagegen eine Begegnung, die alles im Leben von da an neu ausrichtet: auf Gott. Nach einem ästhetischen Erlebnis gehen wir zwar erfüllt, aber unverändert nach Hause. Ein religiöses Erlebnis dieser Tiefe bewirkt in der Schnittfläche meiner Lebenswelten eine tiefgehende Veränderung: ich bin nicht mehr die, die ich vorher war.

Im Sinne der Kunst suche ich also in der geistlichen Begleitung nach dem Entstehen der »Mandorla«, der Schnittfläche der Welt außerhalb von mir mit der in mir, in der sich Christus als Herr der Welt – und meiner Welt – zeigt. Das ist Lebenskunst, die immer dem Schönen, dem Leben dient – hier dem wahren Leben, dem Schönen schlechthin: Gott.

1 Elie Wiesel, Die Nacht: Erinnerung und Zeugnis, 2008, S. 13

2 Sr. Maria Magdalena Dirks, Gegenübertragung als hilfreiches Konzept in der Musiktherapie, Münster 1997, S. 26.

3 Manès Sperber, Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene …, Wien 1974, S. 9.

4 Umberto Eco, Über Spiegel und andere Phänomene 1990 S. 40

Albert Gerhards

Vom Umgang mit der ästhetischen Tradition

Der praktische Umgang mit der ästhetischen Tradition wirft Fragen auf: Was bedeutet es für den praktischen Umgang mit Kunst, wenn diese nicht auf einen Blick »verstanden« werden kann? Wie ist es möglich, sich heute »richtig« mit der ästhetischen Tradition auseinanderzusetzen? Und was ist eigentlich Kunst? Dr. Albert Gerhards, Professor em. für Liturgiewissenschaft, geht diesen und weiteren Fragen nach und nimmt uns mit auf eine Reise durch die liturgischen, künstlerischen und ästhetischen Möglichkeiten und Fallstricke. Ein Impuls für die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wechselspiel von Spiritualität und Kunst.

Bilderflut und Bildersturm

»Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde« (Ex 20,4; Dtn 5,8) – das alttestamentliche Bilderverbot hat eine bis heute andauernde Wirkungsgeschichte. Da das Christentum die Hebräische Bibel in den Kanon seiner heiligen Schriften übernahm, hatte es sich auch mit dem Bilderverbot im Dekalog auseinanderzusetzen. Die Folge war und ist ein unablässiger Wechsel von bilderfreudigen und bilderfeindlichen Phasen bzw. das Nebeneinander von sinnlich oder intellektuell dominierten Ausprägungen von Christianität. Dabei geht es nicht nur um das Visuelle. So stellt etwa das unterschiedliche Verhältnis zur Kirchenmusik eines der Konfessionsmerkmale zwischen Luthertum und Reformierter Kirche dar. Im Hintergrund dieser Konflikte steht die Frage, ob das Christentum (ähnlich wie das Judentum) Religion im eigentlichen Sinn ist oder mehr Religionskritik, die allein auf das Wort der Offenbarung bezogen ist.

Aber gleich ob es sich um eine bilderfreudige oder bilderfeindliche Epoche bzw. Institution handelt: Die Ästhetik spielt immer eine tragende Rolle, ob man will oder nicht. Dies gilt insbesondere für intellektualistische Diskurse, die die sinnlich gesendeten und empfangenen Subtexte nicht reflektieren und so leicht die tatsächlichen Aussagen verfehlen. Hier wirken ästhetische Reize umso mehr, aber meist im negativen Sinn. Das alles ist seit dem sog. Iconic turn bewusst geworden. Die Forschungen über »Atmosphären« und »Resonanzen« gehören in diesen Zusammenhang.

Wenn man also akzeptiert hat, dass Christentum (wie Menschsein überhaupt) ohne Ästhetik nicht denkbar ist, so stellt sich doch die Frage, welche Ästhetik der gegenwärtigen Situation angemessen ist.

Wenn man also akzeptiert hat, dass Christentum (wie Menschsein überhaupt) ohne Ästhetik nicht denkbar ist, so stellt sich doch die Frage, welche Ästhetik der gegenwärtigen Situation angemessen ist. De facto sind unsere Kirchen von einer Ästhetik der Vergangenheit geprägt, was positive und problematische Züge zugleich trägt. Positiv daran ist die Erfahrung von Beheimatung, Verankerung in Tradition und Bekräftigung einer überzeitlichen Gemeinschaft. Problematisch erscheint die Erfahrung der zeitlichen Distanz und der damit verbundenen Empfindung der Musealisierung der Glaubensaussagen. Die Kernfrage ist also, wie man mit der ästhetischen Tradition umgehen soll. Die radikale Lösung wäre, die Kirchen leer zu räumen und sie ganz neu einzurichten bzw. sich gleich von ihnen zu verabschieden und neue ästhetische Erfahrungsräume zu suchen oder zu schaffen. Das andere Extrem hieße, alles beim Alten zu lassen und höchstens zu versuchen, im Rahmen von Kirchenpädagogik die Leute an die Ästhetik der Vergangenheit heranzuführen. Dies gilt im Übrigen auch für Kirchenräume der Moderne, deren Ästhetik aus anderen Gründen oft zu keiner Zeit »verstanden« worden ist. Vorurteile z. B. gegenüber dem Baumaterial Beton versperren leicht den Blick für die ästhetischen Qualitäten dieser Architektur. Im Folgenden geht es darum, Möglichkeiten eines produktiven Umgangs mit der ästhetischen Tradition zu reflektieren.

Ästhetische Modewechsel in jüngerer Zeit

Wer über einige Jahrzehnte ästhetischer Erfahrung im Raum der Kirche verfügt, wird sich an einige »Modewechsel« erinnern können. In der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte die sog. Nachkriegsmoderne, bei der man auf Schlichtheit und Reduktion setzte. Auch wo noch ältere Ausstattung etwa aus der Zeit des Historismus erhalten geblieben war, beseitigte man sie mit Einsetzen des »Wirtschaftswunders« der 50er Jahre oft zugunsten einer »modernen« Einrichtung. Im Zuge der liturgischen Neueinrichtung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde diese Tendenz teilweise noch verstärkt. Dabei herrschte eine Art Kirchenstil vor, der sich zwar an die Moderne anlehnte, aber ästhetisch der traditionellen Formensprache verhaftet blieb. Nur selten wagte man radikal neue Lösungen. In der Architektur gab es allerdings zahlreiche zukunftsweisende Resultate, von denen viele inzwischen auf der Internetseite »Straße der Moderne« vorgestellt werden. Diese Kirchengebäude gehören inzwischen aber auch zu den am meisten gefährdeten, da sie wegen ihrer puristischen Ästhetik (z. B. Betonkonstruktion, Verzicht auf Dekor, Lichtführung) nie wirklich akzeptiert wurden. Die Ästhetik der Leere«, wie sie wohl zuerst und am eindrucksvollsten in der von Rudolf Schwarz 1930 errichteten Aachener Fronleichnamskirche realisiert wurde, konnte in den seltensten Fällen durchgehalten werden, da sie für die handelnden Personen eine wohl zu große Herausforderung darstellt.

Als Gegenbewegung zum Bildersturm der Nachkriegszeit bahnte sich etwa seit Beginn der 80er Jahre ein »umgekehrter Bildersturm« an. Offenkundig wurde dies im Zusammenhang mit der künstlerischen Ausgestaltung einiger der wiederaufgebauten Kölner romanischen Kirchen, deren Steinsichtigkeit und Weißverglasung für die einen als unerträgliches Provisorium, für die anderen als Ideal angesehen wurden. Der Streit ist, etwa in Bezug auf die neuen Kirchenfenster von Markus Lüpertz in St. Andreas, bis heute nicht beigelegt.

Neuere Kirchenbauten bzw. -renovierungen sind nach wie vor eher puristisch konzipiert. Farbe und Dekor werden, wenn überhaupt, nur spärlich verwendet. Dies gilt etwa für die Propsteikirche in Leipzig als Neubau oder für St. Moritz in Augsburg sowie den Hildesheimer Dom als Renovierungen. In der barocken Augustinerkirche in Würzburg hat man dagegen durch große farbige Ölbilder einen modernen Gegenakzent gesetzt.

Auf der »Verbraucherebene« lässt sich seit langem die Beobachtung machen, dass man die Leere auf unterschiedliche Weise zu füllen sucht, sei es durch Topfpflanzen oder durch Installationen aus Kreativgottesdiensten.

Auf der »Verbraucherebene« lässt sich seit langem die Beobachtung machen, dass man die Leere auf unterschiedliche Weise zu füllen sucht, sei es durch Topfpflanzen oder durch Installationen aus Kreativgottesdiensten. Manche Kirche, die einmal von allerlei historischem Beiwerk »geklärt« worden war, ist inzwischen wieder mit Stücken aus dem Befund oder Neuerwerbungen zugestellt. Diese stammen zunehmend aus aufgelassenen Kirchengebäuden und fügen sich oft kaum in das Vorhandene ein.

Die skizzierten widersprüchlichen Phänomene können eigentlich nicht verwundern, da sie der pluralen Wirklichkeit unserer heutigen Gesellschaft entsprechen. Auf die ästhetische Tradition der Kirche(n) angewandt heißt dies: Ein Teil der Bevölkerung wird die traditionelle Ästhetik (Architektur, Kunst, Musik, Liturgie) nach wie vor goutieren, teils aus innerer Kenntnis der Geschichte, teils aus Gefallen am Schönen. Diesen Menschen ist an einem möglichst unveränderlichen Erhalt dieser Tradition gelegen. Das gegenteilige Extrem ist der weitgehende Verzicht auf ästhetische Reize, wie er z. B. in Versammlungsräumen evangelikaler Gemeinden anzutreffen ist. Hier bilden allenfalls ein schlichtes Kreuz und ein Bibelspruch den Bezugspunkt. Freilich ist auch dies im Vergleich zur ästhetischen Revolution in der Aachener Fronleichnamskirche noch konventionell, da die Wand mit Kreuz und Bibelspruch noch immer als Informationsträger fungiert, während die weiße Wand über dem Altar in Aachen die Bildfindung ins Innere der Betrachtenden verlegt. Das intendierte Bild (in diesem Fall des in die Gemeinde Einzug haltenden Christus) entsteht nach den Vorstellungen der zeitgenössischen Liturgischen Bewegung durch die liturgische Feier, die selbst Bild ist. Allerdings war man auch in Aachen zeitweise dem hohen Anspruch nicht gewachsen, so dass für einige Jahre ein monumentales Kruzifix die Leere überdeckte, von der Romano Guardini schrieb: »Das ist nicht Leere, das ist Stille, und in der Stille wohnt Gott.«.

Die Frage nach dem Umgang mit der ästhetischen Tradition der Kirche radikalisiert sich heute in noch stärkerem Maße als in der Zeit der klassischen Moderne, die sich von einem erstarrten Historismus des 19. Jahrhunderts emanzipieren wollte. Konnte man damals noch auf die innere Kraft des Religiösen bauen – Guardini prägte das Wort »Die Kirche erwacht in den Seelen« – so ist heutzutage ein solcher Aufbruch nirgends in Sicht. Erschwert wird ein ästhetischer Neuansatz zudem durch die Revolutionierung der Wahrnehmung infolge der elektronischen Medien, deren physische und psychische Folgen noch lange nicht abzusehen sind. Bei jungen Menschen sind zurzeit völlig entgegengesetzte Verhaltensweisen festzustellen. Ist für die einen die Welt der traditionellen Ästhetik (nicht nur der religiösen) vollkommen entfremdet und damit gleichgültig – dies äußerte sich z. B. in Reaktionen von völliger Indifferenz in Bezug auf den Brand von Notre Dame – boomt bei anderen eine Retrowelle bis hin zur Wahl klassischer religiöser Motive für Tattoos. Andachtsbilder, die vor einigen Jahrzehnten eher Erheiterung auslösten, sind heute durchaus für nicht wenige Jugendliche ernsthafte Bezugsobjekte. Bewegungen wie Nightfever nutzen mit Erfolg gefühlsbetonte Formen traditioneller Ästhetik, Institutionen wie das Gebetshaus Augsburg verbinden solche Elemente mit denen der heutigen Event-Kultur. Aus alldem stellt sich die Frage, ob hier das Prinzip »anything goes« gilt.

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