Archiv der verlorenen Kinder

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Archiv der verlorenen Kinder
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Eine Familie aus New York bricht zu einer Reise auf. Das Ziel ist Apacheria, das Land, in dem einst die Apachen zu Hause waren. Gleichzeitig sind Tausende von Kindern aus Südamerika auf dem Weg in den Norden. Meisterhaft verknüpft Archiv der verlorenen Kinder Reise und Flucht zu einem vielschichtigen Roman voller Echos und Reflektionen.

Eine Mutter, ein Vater, ein Junge und ein Mädchen packen in New York ihre Sachen ins Auto und machen sich auf in die Gegend, die einst die Heimat der Apachen war. Sie fahren durch Wüsten und Berge, machen Halt an einem Diner, wenn sie Hunger haben, und übernachten, wenn es dunkel wird, in einem Motel. Das kleine Mädchen erzählt Witze und bringt alle zum Lachen, der Junge korrigiert jeden, der etwas Falsches sagt. Vater und Mutter sprechen kaum miteinander.

Zur gleichen Zeit machen sich Tausende von Kindern aus Zentralamerika und Mexiko nach Norden auf, zu ihren Eltern, die schon in den USA leben. Jedes hat einen Rucksack dabei mit einem Spielzeug und sauberer Unterwäsche. Die Kinder reisen mit einem Coyote: einem Mann, der ihnen Angst macht. Sie haben einen langen Marsch vor sich, für den sie sich Essen und Trinken einteilen müssen. Sie klettern auf Züge und in offene Frachtcontainer. Nicht alle kommen bis zur Grenze.

Mit literarischer Virtuosität verknüpft Valeria Luiselli Reise und Flucht zu einem vielschichtigen Roman voller Echos und Reflektionen, zu einer bewegenden und brandaktuellen Geschichte darüber, was Flucht und was Menschlichkeit bedeuten in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.

»Fesselnd und immer überraschend – ein leidenschaftlich engagiertes Buch, eine wunderschöne, liebevolle Hommage an die Kinder, die wir behüten sollen.«

THE NEW YORKER

Über die Autorin

Valeria Luiselli, geb. 1983 in Mexiko City, schreibt für Magazine und Zeitungen wie Letras Libres und die New York Times. Sie hat bisher zwei Romane veröffentlicht, „Die Schwerelosen“ und „Die Geschichte meiner Zähne“, sowie die Essays „Falsche Papiere“. Ihre Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. „Archiv der verlorenen Kinder“ ist der erste Roman, den sie in Englisch geschrieben hat. Sie lebt in New York.

VALERIA LUISELLI

Archiv der verlorenen Kinder

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

Verlag Antje Kunstmann

Für Maia und Dylan

INHALT

TEIL I: FAMILIEN-SOUNDSCAPE

Umzüge

Schachtel I

Wege & Wurzeln

Schachtel II

Ohne Papiere

Schachtel III

Vermisst

Schachtel IV

Abschiebungen

TEIL II: WIEDERHOLUNG

Deportationen

Landkarten & Schachteln

Schachtel V

Kontinentale Wasserscheide

Verloren

TEIL III: APACHERIA

Staubtäler

Herz des Lichts

Echo Canyon

TEIL IV: ARCHIV DER VERLORENEN KINDER

Schachtel VI

Dokumentieren

Schachtel VII

TEIL I

UMZÜGE

Ein Archiv setzt einen Archivar voraus,

eine Hand, die sammelt und ordnet.

ARLETTE FARGE

Weggehen heißt ein wenig sterben.

Ankommen heißt nie ankommen.

MIGRANTENGEBET

ABFAHRT

Sie schlafen mit offenem Mund und dem Gesicht zur Sonne. Junge und Mädchen, mit Schweißperlen auf der Stirn und trockenem weißem Speichel auf den roten Wangen. Sie belagern den gesamten hinteren Raum des Wagens, alle viere von sich gestreckt, schwer und friedlich. Vom Beifahrersitz werfe ich hin und wieder einen Blick nach hinten, drehe mich dann wieder um und studiere die Karte. Im zähflüssigen Verkehr kriechen wir über die George Washington Bridge der Stadtgrenze entgegen und fädeln uns in die Interstate ein. Ein Flugzeug zieht über uns hinweg und hinterlässt eine gerade lange Narbe im Rachen des wolkenlosen Himmels. Mein Mann, der am Steuer sitzt, rückt seine Mütze zurecht und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

FAMILIENLEXIKON

Ich weiß nicht, was mein Mann und ich unseren Kindern später mal sagen werden. Ich bin mir nicht sicher, welche Teile unserer Geschichte wir für sie auswählen und bearbeiten, welche wir hin und her schieben und wieder einfügen, um eine endgültige Version zu erhalten – auch wenn das Auswählen, Umstellen und Bearbeiten von Tönen und Klängen vermutlich am besten zusammenfasst, womit mein Mann und ich unseren Lebensunterhalt verdienen. Aber die Kinder werden fragen, weil Kinder nun mal so sind. Und wir werden ihnen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende erzählen müssen. Wir werden ihnen eine Antwort geben, eine richtige Geschichte erzählen müssen.

Der Junge wurde gestern zehn, einen Tag vor unserer Abreise aus New York. Wir kauften ihm schöne Geschenke. Er hatte ausdrücklich gesagt:

Kein Spielzeug.

Das Mädchen ist fünf und fragt seit Wochen unablässig:

Wann werde ich sechs?

Da sie keine unserer Antworten zufriedenstellt, sagen wir meistens etwas Schwammiges wie:

Bald.

In ein paar Monaten.

Schneller, als du denkst.

Das Mädchen ist meine Tochter, der Junge der Sohn meines Mannes. Ich bin die biologische Mutter des Mädchens, die Stiefmutter des Jungen und in der Praxis für beide die Mutter. Mein Mann ist Vater und Stiefvater für jeweils eines der beiden Kinder, aber auch einfach Vater. Folglich sind das Mädchen und der Junge: Stiefschwester, Sohn, Stieftochter, Tochter, Stiefbruder, Schwester, Stiefsohn, Bruder. Und weil Bindestriche und unwichtige Nuancen die Sätze der Alltagsgrammatik verkomplizieren – das wir, das sie, das unser, das euer –, entschieden wir uns, nachdem wir zusammenzogen, als der Junge fast sechs und das Mädchen noch ein Kleinkind war, für das viel schlichtere unsere, wenn wir über die beiden sprachen. Sie wurden: unsere Kinder. Und manchmal: der Junge, das Mädchen. Die beiden lernten rasch die Regeln unserer privaten Grammatik und gewöhnten sich die generischen Substantive Mama und Papa an, oder manchmal nur Ma und Pa. Und zumindest bis heute bestimmte unser Familienlexikon den Rahmen und die Grenzen unseres gemeinsamen Lebens.

FAMILIENPLOT

Mein Mann und ich lernten uns vor vier Jahren bei Tonaufnahmen für eine Soundscape von New York kennen. Wir gehörten zu einem großen Team von Leuten, die für das Center for Urban Science and Progress der New York University arbeiteten. Die Soundscape sollte sämtliche für die Stadt symbolischen Grundgeräusche und Hörmarken stichprobenartig erfassen und sammeln: quietschend zum Stehen kommende U-Bahn-Wagen, Musik in den langen unterirdischen Gängen der Forty-Second-Street, Prediger in Harlem, Glocken, Gerüchte und Gemunkel in der Wall Street. Doch auch alle anderen Geräusche und Klänge, die eine Stadt erzeugt und die meist gar nicht als Lärm wahrgenommen werden, sollten erhoben und eingeordnet werden: auf- und zuspringende Registrierkassen in Delis, ein Text, der in einem leeren Broadway-Theater einstudiert wird, Unterwasserströmungen im Hudson, Schwärme von Kanadagänsen, die auf den Van Cortlandt Park scheißen, schwingende Schaukeln auf Spielplätzen in Astoria, ältere Koreanerinnen, die wohlhabenden Frauen in der Upper West Side die Fingernägel feilen, ein in einem alten Mietshaus in der Bronx ausgebrochenes Feuer, ein Passant, der einen anderen mit Schimpfwörtern überschwemmt. In unserem Team waren Journalisten, Klangkünstler, Geografen, Stadtplaner, Schriftsteller, Historiker, Akustemologen, Anthropologen, Musiker und sogar Hydrografen, die mit komplizierten Geräten wie Mehrstrahl-Echoloten die Tiefe und Konturen von Flussbetten und wer weiß was sonst noch vermessen. Zu zweit oder in Gruppen wurden Wellenlängen in der ganzen Stadt erhoben und gesampelt, als dokumentierten wir die letzten Laute einer gewaltigen Bestie.

 

Wir zwei wurden zusammengespannt und damit beauftragt, sämtliche in der Stadt gesprochenen Sprachen über einen Zeitraum von vier Kalenderjahren aufzunehmen. Unsere Aufgabenbeschreibung lautete: »eine Erhebung der sprachlich mannigfaltigsten Metropole auf dem Planeten und die Aufzeichnung sämtlicher Sprachen, die ihre Erwachsenen und Kinder sprechen«. Wie sich herausstellte, machten wir unsere Sache gut, vielleicht sogar sehr gut. Wir waren ein perfektes Zweierteam. Nach wenigen Monaten Zusammenarbeit verliebten wir uns – total, unvernünftig, vorhersehbar und Hals über Kopf, wie sich vielleicht ein Stein in einen Vogel verlieben würde, ohne zu wissen, wer der Stein und wer der Vogel war – und im Sommer beschlossen wir, zusammenzuziehen.

Das Mädchen erinnert sich natürlich nicht an diese Zeit. Der Junge behauptet, er erinnere sich daran, dass ich immer eine alte blaue, bis zu den Knien reichende Strickjacke trug, an der ein paar Knöpfe fehlten, und dass ich sie manchmal, wenn wir mit der U-Bahn oder dem Bus fuhren – wo die Klimaanlage immer eiskalte Luft verströmte –, auszog und als Decke benutzte, um ihn und das Mädchen zu wärmen, und dass sie nach Tabak roch und kratzte. Unser Zusammenziehen war eine unbedachte Entscheidung – chaotisch, verwirrend, zwingend und so schön und wirklich, wie das Leben ist, wenn man nicht über die Folgen nachdenkt. Wir wurden ein Stamm. Dann kamen die Folgen. Wir lernten die Verwandten des jeweils anderen kennen, heirateten, gaben gemeinsame Steuererklärungen ab, wurden eine Familie.

BESTANDSAUFNAHME

Auf den Vordersitzen: er und ich. Im Handschuhfach: Versicherungsnachweis, Fahrzeugschein, Benutzerhandbuch und Straßenkarten. Auf der Rückbank: die beiden Kinder, ihre Rucksäcke, eine Taschentuchbox und eine blaue Kühltasche mit Wasserflaschen und begrenzt haltbaren Snacks. Und im Kofferraum: eine kleine Reisetasche mit meinem digitalen Sony PCM-D50 Audiorekorder, Kopfhörer, Kabel und Ersatzbatterien; eine große Porta-Brace-Tasche für seine Teleskopangel, Mikro, Kopfhörer, Kabel, Korb- und Fell-Windschutz, und den Sound Devices 702T. Außerdem: vier kleine Koffer mit unseren Kleidern und sieben Archivschachteln (40x30x25) mit verstärkten Böden und soliden Deckeln.

KOVALENZ

Trotz unserer Bemühungen, alles fest zusammenzuhalten, gab es, im Hinblick auf die eigene Position in der Familie, bei jedem eine gewisse Unsicherheit. Wir ähneln jenen komplizierten Molekülen, die man aus dem Chemieunterricht kennt, mit kovalenter statt ionischer Bindung – oder andersrum. Der Junge hatte seine leibliche Mutter bei der Geburt verloren, ein Thema, über das nie gesprochen wird. Mein Mann verkündete mir diese Tatsache gleich am Anfang unserer Beziehung in einem Satz, und ich begriff sofort, dass keine weiteren Fragen erwünscht waren. Und weil auch ich nicht gerne über den biologischen Vater des Mädchens spreche, haben wir beide uns immer an einen respektvollen Schweigepakt über diese Aspekte unserer Vergangenheit und der unserer Kinder gehalten.

Vielleicht wollten die Kinder deshalb immer Geschichten über sich und uns hören. Sie wollen alles darüber wissen, wann sie beide unsere Kinder und wir eine Familie wurden. Sie sind wie Anthropologen, die kosmogonische Narrative studieren, nur mit etwas mehr Narzissmus. Das Mädchen will ständig dieselben Geschichten hören. Der Junge fragt nach Momenten ihrer gemeinsamen Kindheit, als läge sie Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zurück. Also erzählen wir ihnen. Wir erzählen ihnen sämtliche Geschichten, an die wir uns erinnern können. Und sobald wir einen Teil auslassen, eine Kleinigkeit verwechseln oder nur geringfügig von der ihnen bekannten Version abweichen, unterbrechen und verbessern sie uns und verlangen, dass die Geschichte noch einmal erzählt wird, und diesmal richtig. Dann spulen wir das Band in unseren Köpfen zurück und spielen es von vorne ab.

GRÜNDUNGSMYTHEN

Unseren Anfang markieren eine fast leere Wohnung und eine Hitzewelle. In dieser Wohnung – derselben Wohnung, die wir gerade auflösten – saßen wir im Wohnzimmer auf dem Fußboden, alle vier in Unterwäsche, verschwitzt und müde, und aßen Pizza aus der Hand.

Wir hatten ein paar unserer Habseligkeiten und die Sachen, die wir an dem Tag gekauft hatten, ausgepackt: einen Korkenzieher, vier neue Kopfkissen, Fensterreiniger, Spülmittel, zwei kleine Bilderrahmen, Nägel, Hammer. Dann maßen wir die Größe unserer Kinder und malten die ersten Striche an die Flurwand: 84 und 107 Zentimeter. Dann hämmerten wir zwei Nägel in die Küchenwand und hängten zwei Postkarten aus unseren jeweiligen früheren Wohnungen auf: ein Porträt von Malcolm X, aufgenommen kurz vor seiner Ermordung, wo er den Kopf auf die rechte Hand stützt und jemanden oder etwas genau betrachtet; das zweite zeigt den aufrecht stehenden Emiliano Zapata, ein Gewehr in einer und einen Säbel in der anderen Hand, mit einer über die Schulter geschlungenen Schärpe und dem doppelten Patronengürtel über Kreuz auf der Brust. Das Glas vor der Postkarte von Zapata hatte noch den Schmutzfilm – oder war es Ruß? – aus meiner alten Küche. Wir hängten beide Bilder neben dem Kühlschrank auf. Aber selbst danach sah die neue Wohnung noch zu leer aus, die Wände zu weiß, fühlte sich fremd an.

Der Junge schaute sich Pizza kauend im Wohnzimmer um und fragte:

Und jetzt?

Das Mädchen, damals zwei Jahre alt, wiederholte seine Frage:

Ja, was jetzt?

Wir wussten beide keine Antwort, obwohl ich scharf nachdachte, denn vermutlich war es eine Frage, die uns insgeheim selbst die ganze Zeit beschäftigt hatte.

Und jetzt? bohrte der Junge nach.

Schließlich antwortete ich:

Jetzt geht ihr euch die Zähne putzen.

Aber unsere Zahnbürsten sind noch nicht ausgepackt, sagte der Junge.

Dann spült euch im Bad den Mund über dem Waschbecken aus und geht schlafen, erwiderte mein Mann.

Sie kamen aus dem Bad zurück und sagten, sie hätten Angst, allein in dem neuen Schlafzimmer zu schlafen. Wir erlaubten ihnen, eine Weile bei uns im Wohnzimmer zu bleiben, wenn sie versprachen zu schlafen. Sie krochen in einen leeren Pappkarton, und nach einigem Gerangel um die gerechte Platzaufteilung fielen sie in einen tiefen, schweren Schlaf.

Mein Mann und ich öffneten eine Flasche Wein und rauchten am Fenster einen Joint. Dann setzten wir uns auf den Fußboden, machten nichts, sagten nichts, beobachteten die schlafenden Kinder. Von unserem Platz aus sahen wir nur ein Durcheinander von Köpfen und Hintern: sein Haar schweißverklebt, ihre Locken ein wirres Nest; sein Po flach wie eine Tablette, ihrer mit runden Apfelbacken. Sie sahen aus wie ein Paar, das seine gemeinsame Zeit überschritten hat, zu schnell gealtert, einander überdrüssig, aber einigermaßen zufrieden. Sie schliefen in totaler, einsamer Gemeinschaft. Hin und wieder wurde unser leicht angetörntes Schweigen unterbrochen: der Junge schnarchte wie ein Betrunkener, und aus dem Körper des Mädchens drangen lange laute Fürze.

Ein ähnliches Konzert hatten sie schon früher am Tag gegeben, als wir in der U-Bahn vom Supermarkt in unsere neue Wohnung zurückfuhren, umgeben von weißen Plastiktüten mit riesigen Eiern, sehr rosa Schinken, Biomandeln, Maisbrot und kleinen Päckchen mit Biomilch – gesunde Produkte der neuen, verfeinerten Kost einer Familie mit zwei Gehältern. Nach ein paar Minuten in der U-Bahn schliefen die Kinder, die Köpfe auf unserem Schoß, verfilztes feuchtes Haar, ein angenehm salziger Geruch von den warmen Brezeln, die wir kurz zuvor an einer Straßenecke gegessen hatten. Sie waren engelsgleich, wir noch einigermaßen jung, und zusammen bildeten wir einen schönen Stamm, eine beneidenswerte Truppe. Plötzlich fing er an zu schnarchen und sie zu furzen. Die wenigen Fahrgäste, die nicht an ihren Handys hingen, bekamen es mit, schauten das Mädchen an, uns, den Jungen, und lächelten – schwer zu sagen, ob aus Mitleid oder Komplizenschaft mit der öffentlichen Schamlosigkeit unserer Kinder. Mein Mann erwiderte das Lächeln der lächelnden Fremden. Ich dachte kurz daran, ihre Aufmerksamkeit von uns wegzulenken und den alten Mann, der ein paar Sitze weiter schlief, vorwurfsvoll anzusehen oder vielleicht die junge Frau im vollen Joggingoutfit. Was ich natürlich nicht tat. Ich nickte nur ergeben oder resigniert und lächelte die Fremden an – ein verkniffenes schmallippiges Lächeln. Vermutlich hatte ich die Art von Lampenfieber, die einen in bestimmten Träumen überkommt, wenn man feststellt, dass man in der Schule ist und vergessen hat, eine Unterhose anzuziehen; eine jähe, tiefe Verletzlichkeit vor all diesen Fremden, denen wir einen kurzen Einblick in unser noch sehr neues Leben boten.

Am Abend jedoch, zurück in der Privatsphäre unserer neuen Wohnung, als die Kinder schliefen und ständig diese wunderschönen Geräusche von sich gaben – wahre Schönheit ist immer unbeabsichtigt –, konnte ich ihnen aufmerksam und ohne lästige Befangenheit lauschen. Die Darmgeräusche des Mädchens wurden durch die Pappwand verstärkt und wanderten unsichtbar durch das fast leere Wohnzimmer. Nach einer Weile hörte der Junge sie irgendwo tief im Schlaf – so jedenfalls kam es uns vor – und antwortete mit Wortfetzen und Gemurmel. Mein Mann stellte fest, dass wir eine der Sprachen der städtischen Soundscape hörten, verwendet im zirkulären Akt der Unterhaltung:

Ein Mund antwortet einem Po.

Ich unterdrückte kurz das Bedürfnis zu lachen, merkte dann aber, dass auch mein Mann mit geschlossenen Augen die Luft anhielt, um nicht zu lachen. Vielleicht waren wir mehr stoned, als wir dachten, jedenfalls konnte ich nicht mehr, meine Stimmbänder gaben ein eher schweineartiges als menschliches Geräusch von sich. Er ließ ebenfalls los, prustete und gluckste, seine Nasenflügel bebten, die Augen verschwanden fast in seinem verzerrten Gesicht, und er schaukelte vor und zurück wie eine kaputte Piñata. Die meisten Menschen sehen furchterregend aus, wenn sie herzhaft lachen. Mir waren schon immer Leute suspekt, die nur mit den Zähnen klicken, und ich fand es ziemlich beunruhigend, wenn jemand beim Lachen keinen Ton von sich gibt. In meiner Familie väterlicherseits gibt es einen genetischen Defekt, der sich am Ende jeder Lachsalve in Schnauben und Grunzen Bahn bricht. Bis alle Tränen in den Augen haben und sie ein Schamgefühl überkommt.

Ich atmete tief durch und wischte mir eine Träne von der Wange. Im selben Moment wurde mir klar, dass mein Mann und ich uns zum ersten Mal lachen gehört hatten, das heißt aus vollem Herzen – enthemmt, befreit, völlig idiotisch. Vielleicht kennen wir uns erst richtig, wenn wir wissen, wie der andere lacht. Schließlich beruhigten mein Mann und ich uns wieder.

Eigentlich ist es gemein, dass wir auf Kosten unserer Kinder lachen, oder? fragte ich.

Ja, völlig daneben.

Wir beschlossen, dass wir diesen Augenblick festhalten sollten, und holten unsere Aufnahmegeräte. Mein Mann schwenkte seine Tonangel durch den Raum; ich hielt meinen Voicerekorder nah an den Jungen und das Mädchen ran. Sie lutschte am Daumen, und er murmelte Worte und merkwürdige Schlafgeräusche hinein; im Mikro meines Mannes waren auf der Straße vorbeifahrende Autos zu hören. In kindlicher Komplizenschaft nahmen wir ihre Geräusche auf. Ich bin mir nicht sicher, welche tieferen Gründe uns dazu bewegten, die Kinder an diesem Abend aufzunehmen. Vielleicht lag es einfach an der Sommerhitze, plus dem Wein, minus dem Joint, multipliziert mit der Aufregung des Umzugs, geteilt durch das Recyceln der vielen Pappkartons, das uns noch bevorstand. Oder wir folgten dem Impuls, den Augenblick zuzulassen, weil er sich anfühlte wie der Beginn von etwas Neuem, um eine Spur zu hinterlassen. Schließlich hatten wir unseren Verstand darauf trainiert, Aufnahmegelegenheiten zu nutzen, unsere Ohren trainiert, dem täglichen Leben zu lauschen, als wäre es Rohmaterial. Alles, wir und sie, hier und dort, innen und außen, wurde festgehalten, gesammelt und archiviert. Vielleicht müssen neue Familien wie junge Nationen nach gewaltsamen Unabhängigkeitskriegen ihre Anfänge in einem symbolischen Augenblick verankern und in der Zeit festnageln. Dieser Abend war unser Fundament, der Abend, an dem unser Chaos ein Kosmos wurde.

Später, als wir müde waren und unseren Schwung verloren hatten, trugen wir die Kinder in ihr neues Zimmer und legten sie auf ihre Matratzen, die nicht viel größer waren als der Pappkarton, in dem sie geschlafen hatten. Dann fielen wir in unserem Schlafzimmer auf unsere eigene Matratze, schlangen die Beine ineinander und schwiegen, aber unsere Körper sagten, vielleicht später, vielleicht morgen, morgen lieben wir uns, schmieden Pläne, morgen.

Gute Nacht.

 

Gute Nacht.

MUTTERSPRACHEN

Als ich zur Mitarbeit an dem Soundscape-Projekt eingeladen wurde, fand ich es zunächst protzig, megalomanisch, irgendwie zu didaktisch. Ich war jung, wenn auch nicht viel jünger als heute, und sah mich noch als politische Hardcore-Journalistin. Außerdem gefiel mir nicht, dass das Projekt, obwohl vom Center for Urban Science and Progress der NYU organisiert und später für dessen Tonarchiv gedacht, zum Teil von einigen multinationalen Konzernriesen finanziert wurde. Ich recherchierte ein bisschen über ihre CEOs – gab es Skandale, Betrügereien, irgendwelche faschistischen Verbindungen? Aber ich hatte eine kleine Tochter. Als ich erfuhr, dass der Vertrag auch Krankenversicherung einschloss, und feststellte, dass ich von dem Gehalt leben konnte, ohne tausend journalistische Kleinaufträge annehmen zu müssen, hörte ich auf zu recherchieren und so zu tun, als könnte ich es mir leisten, mir über Firmenethik den Kopf zu zerbrechen, und unterschrieb den Vertrag. Ich bin mir nicht sicher, welche Gründe meinen Mann dazu bewegten – damals war er noch ein auf Akustomologie spezialisierter Fremder und nicht mein Ehemann oder Vater unserer Kinder –, aber ungefähr zur selben Zeit unterschrieb er seinen Vertrag.

Wir stürzten uns beide voll und ganz in das Soundscape-Projekt. Jeden Tag gingen wir, während die Kinder in der Krippe und der Schule waren, in die Stadt, ohne zu wissen, was uns erwartete, aber immer sicher, wir würden etwas Neues entdecken. Wir zogen durch die fünf Bezirke, interviewten Fremde und baten sie, in ihrer Muttersprache zu sprechen und etwas darüber zu erzählen. Er mochte die Tage, die wir in Durchgangsräumen wie Bahnstationen, Flughäfen und Bushaltestellen verbrachten. Ich mochte die Tage in den Schulen, wo wir Kinder befragten. Mit hochgehaltener Tonangel und über die rechte Schulter geschlungener Porta-Brace schlenderte er durch volle Cafeterias und nahm das Durcheinander von Stimmen, Besteck und Schritten auf. Ich hielt den Kindern in Gängen und Klassenzimmern meinen Rekorder dicht vor den Mund, während sie meine Fragen beantworteten. Ich wollte wissen, ob sie sich an Lieder und Sprichwörter erinnern, die sie zu Hause hörten. Ihr Akzent war oft anglisiert und angepasst, die Sprachen ihrer Eltern waren ihnen mittlerweile fremd. Ich erinnere mich, wie sie mit ihren rosa Zungen ernst und diszipliniert versuchten, die Eigenheiten und Laute ihrer zunehmend fernen Muttersprachen zu bewältigen: die schwierige Stellung der Zungenspitze beim spanischen erre, die schnellen Zungenschläge gegen den Gaumen in den vielen mehrsilbigen Wörtern der Kichwa und Karif, das weiche, abwärts gewölbte Zungenbett beim aspirierten arabischen h.

Monatelang nahmen wir Stimmen auf und sammelten Akzente. Wir hatten jede Menge Material, auf dem Menschen sprachen, Geschichten erzählten, Pausen machten, Lügen auftischten, beteten, zögerten, beichteten, atmeten.

ZEIT

Wir sammelten auch immer mehr Dinge: Pflanzen, Teller, Bücher, Stühle. In wohlhabenden Vierteln nahmen wir Sachen mit, die auf der Straße standen. Später stellten wir dann fest, dass wir nicht noch einen Stuhl oder ein Bücherregal brauchten, stellten das Gesammelte in unserem weniger wohlhabenden Viertel auf den Gehsteig zurück und fühlten uns dabei wie die unsichtbare linke Hand der Umverteilung von Besitztümern – die Anti-Adam-Smiths der Bürgersteige und Bordsteinkanten. Eine Zeit lang sammelten wir weiter Sachen von der Straße, bis wir eines Tages im Radio von einer Wanzenplage in der Stadt hörten und es sein ließen, Sperrmüll durchzuwühlen und Besitztümer umzuverteilen. Es wurde Winter, und dann kam der Frühling.

Es ist nie ganz klar, was eine Wohnung in ein Heim verwandelt und ein Lebensprojekt in ein Leben. Irgendwann passten unsere Bücher nicht mehr in die Regale, und aus dem großen leeren Raum in unserer Wohnung war unser Wohnzimmer geworden, der Ort, wo wir uns Filme ansahen, Bücher lasen, Puzzles zusammensetzten, Nickerchen machten, den Kindern bei den Hausaufgaben halfen. Wir saßen dort mit Freunden zusammen, führten nach ihrem Aufbruch lange Diskussionen, vögelten, sagten schöne und schreckliche Dinge zueinander und räumten hinterher schweigend auf.

Keine Ahnung, wie die Zeit vergangen und wohin sie verschwunden war, aber der Junge war plötzlich acht, dann neun und das Mädchen fünf. Sie besuchten dieselbe öffentliche Schule. Die vielen kleinen Fremden, die sie kennengelernt hatten, waren jetzt ihre Freunde. Es gab Fußballteams, Turnen, Theateraufführungen am Schuljahresschluss, Übernachtungspartys, immer zu viele Geburtstagsfeiern, und die Striche im Flur, mit denen wir die Größe unserer Kinder markierten, erzählten eine vertikale Geschichte. Sie waren so groß geworden! Mein Mann fand, dass sie zu schnell wuchsen. Unnatürlich schnell, sagte er, wegen der Biovollmilch, die sie aus diesen kleinen Päckchen tranken; seiner Ansicht nach war die Milch chemisch verändert, um bei Kindern frühzeitiges Wachstum zu fördern. Vielleicht, dachte ich. Aber vielleicht war auch einfach nur Zeit vergangen.

ZÄHNE

Wie weit noch?

Wie lange noch?

Vermutlich ist das bei allen Kindern so: Wenn sie im Auto wach sind, wollen sie beachtet werden, Pinkelpausen machen, Snacks essen. Aber am häufigsten fragen sie:

Wann sind wir endlich da?

Meistens antworten wir den beiden, dass es nicht mehr lange dauert. Oder wir sagen:

Spielt mit euren Spielsachen.

Zählt alle weißen Autos, die vorbeifahren.

Versucht zu schlafen.

Als wir in der Nähe von Philadelphia an einer Zahlstelle halten, wachen sie plötzlich auf, als würden sie ihren Schlaf miteinander und, etwas schwerer erklärbar, mit den wechselnden Fahrtgeschwindigkeiten abstimmen. Das Mädchen ruft von hinten:

Wie viele Straßen noch?

Nur noch ein Weilchen, dann machen wir halt in Baltimore, sage ich.

Aber wie viele Straßen noch, bis wir ganz da sind?

»Ganz da« ist in Arizona. Geplant ist, dass wir von New York in die südöstliche Ecke des Staates fahren. Auf der Fahrt in südwestlicher Richtung zu den Grenzgebieten werden mein Mann und ich an unseren neuen Tonprojekten arbeiten und Feldaufnahmen und Umfragen machen. Ich werde Interviews führen und Gesprächsfetzen zwischen Fremden einfangen, Nachrichten aus dem Radio und Stimmen in Dinern aufnehmen. In Arizona werde ich meine letzten Aufzeichnungen machen und anfangen, alles zu bearbeiten. Dazu bleiben mir vier Wochen Zeit. Dann muss ich wahrscheinlich mit dem Mädchen zurück nach New York fliegen, doch das steht noch nicht endgültig fest. Wie der genaue Plan meines Mannes aussieht, weiß ich nicht. Ich betrachte sein Profil. Er konzentriert sich auf die Straße. Er wird den Wind mitschneiden, der in Ebenen oder auf Parkplätzen weht; Schritte auf Kies, Beton oder Sand; Kleingeld, das in Registrierkassen fällt, Zähne, die Erdnüsse zerkauen, eine Kinderhand, die in einer Jackentasche voller Kieselsteine wühlt. Ich weiß nicht, wie lange sein neues Projekt dauert oder was als Nächstes kommt. Das Mädchen unterbricht unser Schweigen und beharrt auf seiner Frage:

Ich hab euch was gefragt, Mama, Papa. Wie viele Straßen noch, bis wir ganz da sind?

Wir müssen uns ermahnen, geduldig zu sein. Wir wissen – und vermutlich weiß es auch der Junge –, wie verwirrend es sein muss, in der zeitlosen Welt einer Fünfjährigen zu leben: einer Welt, in der Zeit im Überfluss vorhanden ist. Mein Mann gibt dem Mädchen schließlich eine Antwort, die es offensichtlich zufriedenstellt:

Wir sind ganz da, wenn du unten deinen zweiten Zahn verlierst.

VERKNOTETE ZUNGEN

Als das Mädchen mit vier die Vorschule besuchte, verlor sie frühzeitig einen Zahn. Unmittelbar danach fing sie an zu stottern. Wir wussten nicht, ob es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Schule, Zahn und Stottern gab. In unserer Familiengeschichte jedoch verband sich alles drei zu einem verwirrenden, emotional aufgeladenen Knoten.

Eines Morgens während unseres letzten Winters in New York unterhielt ich mich mit der Mutter einer Klassenkameradin meiner Tochter. Wir warteten in der Schulaula, um neue Elternvertreter zu wählen, standen eine Weile in der Schlange und tauschten Geschichten über die sprachlichen und kulturellen Schwächen unserer Kinder aus. Meine Tochter hat ein Jahr lang gestottert, erzählte ich ihr, und phasenweise gar nicht mehr gesprochen. Sie fing jeden Satz an, als müsste sie gleich niesen. Irgendwann stellte sie fest, dass sie nicht stottert, wenn sie einen Satz singt, anstatt ihn zu sprechen. Ihr Sohn, erzählte mir die Frau, hatte seit fast sechs Monaten kein Wort gesagt, in keiner Sprache.

Wir fragten einander, woher wir kamen und welche Sprachen wir zu Hause benutzt hatten. Sie kam aus der Mixteca-Region. Ihre erste Sprache war Trique. Ich hatte diese Sprache noch nie gehört und wusste nur, dass es eine der komplexesten tonalen Sprachen ist, mit mehr als acht Tonhöhen. Meine Großmutter war Hnahnu und sprach Otomí, eine einfachere tonale Sprache als Trique, mit nur drei Tonhöhen. Aber meine Mutter lernte diese Sprache nicht, und so lernte ich sie natürlich auch nicht. Meine Frage, ob ihr Sohn Trique beherrsche, verneinte sie und fügte hinzu: