Archiv der verlorenen Kinder

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STICHPROBEN & SCHWEIGEN

Nach all dem Sampeln und Mitschneiden besaßen wir ein volles Archiv mit Fragmenten von fremden Leben, doch von unserer Familie besaßen wir so gut wie nichts. Wir ließen die von uns geschaffene Welt hinter uns, und es gab fast keine Aufzeichnung, keine Soundscape von uns vieren, die unsere Veränderung im Laufe der Zeit dokumentiert hätte: das Radio frühmorgens, wenn der letzte Nachhall unserer Träume sich mit Nachrichten über Krisen, Entdeckungen, Epidemien und Schlechtwetter vermischte; die Kaffeemühle, die harte Bohnen zu Pulver mahlte; der Gasherd, aus dem Funken sprühend eine kreisrunde Flamme wuchs; das Gurgeln der Kaffeemaschine; die langen Duschen des Jungen und das beharrliche »Los, beeil dich, wir kommen zu spät« seines Vaters; die zögernden, fast philosophischen Gespräche zwischen uns und den beiden Kindern auf dem Weg zur Schule; die langsamen, vorsichtigen Schritte des Jungen durch lange Gänge, wenn er Unterricht schwänzte; das metallische Quietschen beim Anhalten der U-Bahnen und die fast schweigsamen Fahrten in Zugwaggons während unserer täglichen Pendelei zu Feldaufnahmen in Manhattan oder draußen in den Bezirken; das Summen der vollen Straßen, wo mein Mann mit seiner Tonangel vereinzelte Geräusche einfing, während ich mit dem Rekorder in der Hand die Flut fremder Stimmen, Akzente und Geschichten aufnahm; das Anreiben eines Streichholzes, das die Zigarette meines Mannes anzündete, und das lange tiefe Einsaugen des Rauchs beim ersten Zug, gefolgt von einem langsamen gelösten Ausatmen; das merkwürdige weiße Rauschen, das große Kindergruppen auf Spielplätzen produzieren – ein Wirbel aus hysterischem, chaotischem Geschrei –, und dazwischen die herrlich klaren Stimmen unserer beiden Kinder; die unheimliche Stille, die sich nach Einbruch der Dunkelheit über Grünanlagen senkt; das Rascheln und Knistern von trockenen Laubhaufen im Park, wo das Mädchen nach Würmern, nach Schätzen, nach was immer man finden kann gräbt, was meistens nichts ist, weil darunter nur Zigarettenkippen, versteinerte Hundehaufen und kleine, hoffentlich leere Ziplockbeutel sind; das Flattern unserer Mäntel bei Nordwind im Winter; unsere angestrengt strampelnden Füße auf rostigen Fahrrädern entlang des Flusswegs im Frühling; unser schweres Keuchen beim Einatmen der schädlichen Dämpfe aus dem grauen Flusswasser, und die stummen, ätzenden Schwingungen von übereifrigen Joggern und vereinzelten Kanadagänsen, die regelmäßig den Migrationszug ihrer Gefährten verpassen; die Schimpfsalven von Radprofis, alle in voller Montur, männlich und mittleren Alters: »Platz da!« und »Schau nach links!«; und als Antwort unser entweder leise gemurmeltes: »Sorry Sir, sorry Sir« oder laut zurückgerufene, tief empfundene Beleidigungen – leider immer verkürzt oder erstickt im rauschenden Wind; und schließlich die leisen Momente, die wir allein verbrachten, in denen jeder von uns Bruchstücke der Welt auf die bestmögliche Weise sammelte. Der Sound von allem und jedem in unserer Umgebung, der Lärm, den wir beitrugen, und die Stille, die wir zurücklassen.

ZUKUNFT

Und dann wurde der Junge zehn. Wir führten ihn in ein gutes Restaurant aus, überreichten ihm seine Geschenke (kein Spielzeug). Ich schenkte ihm eine Polaroidkamera und mehrere Schachteln Film, schwarz-weiß und Farbe. Sein Vater schenkte ihm Ausrüstung für die Reise: ein Schweizer Armeemesser, ein Fernglas, eine Taschenlampe und einen kleinen Kompass. Auf seinen Wunsch wichen wir von der geplanten Route ab und verbrachten den nächsten Tag – unseren ersten Reisetag – im National Aquarium von Baltimore. Dort lebte Calypso, die zweihundertfünfundzwanzig Kilo schwere Schildkröte mit der fehlenden Vorderflosse, von der er nach einem Schulprojekt völlig besessen war.

An diesem Abend packte mein Mann nach dem Essen seinen Koffer, ich packte meinen, und die Kinder durften ihre packen. Als sie schliefen, packte ich für sie um. Sie hatten die verrücktesten Sachen ausgewählt. Ihre Koffer waren tragbare Katastrophen à la Duchamp: Minikleidung für eine Familie von Minibären, ein kaputtes Laserschwert, eine einsame Inliner-Rolle, Ziplockbeutel mit allen möglichen winzigen Plastikteilen. Ich ersetzte alles durch richtige Hosen, richtige Kleider, richtige Unterwäsche, richtiges Sonstwas. Dann stellten mein Mann und ich die vier Koffer in einer Reihe neben die Tür, plus unsere sieben Schachteln und unsere Arbeitsutensilien.

Als wir fertig waren, saßen wir im Wohnzimmer und teilten uns schweigend eine Zigarette. Ich hatte ein junges Paar gefunden, an das wir die Wohnung zumindest für den nächsten Monat untervermieteten, und irgendwie gehörte sie ihm schon jetzt mehr als uns. In meinem müden Kopf dachte ich nur an die vielen Umzüge, die diesem vorangegangen waren: als wir vor vier Jahren zu viert eingezogen waren; die vielen Umzüge meines Mannes und meine davor; die Umzüge von Hunderten von Menschen und Familien, die wir für das Soundscape-Projekt interviewt und mitgeschnitten hatten; die der Flüchtlingskinder, deren Geschichte ich nun dokumentieren wollte; und die der letzten Chiricahua-Apachen, deren Geistern mein Mann bald hinterherjagen würde. Alle gehen weg, wenn sie müssen oder können oder gezwungen werden.

Am nächsten Tag nach dem Frühstück wuschen wir das letzte Geschirr ab, und dann gingen auch wir.

SCHACHTEL I

§ VIER NOTIZBÜCHER (20 × 15 cm)

»Über Sammeln«

»Über Archivieren«

»Über Inventarisieren«

»Über Katalogisieren«

§ ZEHN BÜCHER

Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Dubravka Ugrešić

Wiedergeboren, 1947–1963, Susan Sontag

Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke, 1964–1980, Susan Sontag

The Collected Works of Billy the Kid, Michael Ondaatje

Relocated: Twenty Sculptures by Isamu Noguchi from Japan, Isamu Noguchi, Thomas Messer und Bonnie Rychlak

Rundfunkarbeiten, Walter Benjamin

Tagebuch der Falschmünzer, André Gide

Dada aus dem Koffer. Die verkürzte Geschichte der tragbaren Literatur, Enrique Vila-Matas

Perpetual Inventory, Rosalind E. Krauss

The Collected Poems of Emily Dickinson

§ ORDNER (FAKSIMILE-KOPIEN, ZEITUNGSAUSSCHNITTE, FRAGMENTE)

Die Ordnung der Klänge, R. Murray Schafer

Grafische Darstellung von Walgesängen (in Schafer)

Smithsonian Folkways Recordings World of Sound Catalog #1

»Uncanny Soundscapes: Towards an Inoperative Acoustic Community«, Iain Foreman, Organised Sound 16 (03)

»Voices from the Past: Compositional Approaches to Using Recorded Speech«, by Cathy Lane, Organised Sound 11 (01)

WEGE & WURZELN

Buscar las raíces no más que una forma

subterránea de andarse por las ramas.

(Die Suche nach den Wurzeln ist nur der latente Versuch, das eigentliche Thema zu umgehen.)

JOSÉ BERGAMÍN

Wenn du dich unterwegs verirrst

Läufst du ins Ungewisse

FRANK STANFORD

SARGASSOSEE

Es ist nach Mittag, als wir schließlich das Aquarium in Baltimore erreichen. Der Junge führt uns durch die Menge direkt zum Hauptbecken, wo die Riesenschildkröte ist. Wir müssen stehen bleiben und zusehen, wie das traurige, schöne Tier pausenlos durch sein Wasserrevier paddelt und dabei an die Seele einer schwangeren Frau erinnert – ruhelos, unpässlich, gefangen in der Zeit. Nach ein paar Minuten fällt dem Mädchen die fehlende Flosse auf:

Wo ist ihr anderer Arm? fragt sie entsetzt ihren Bruder.

Diese Schildkröten brauchen nur eine Flosse, darum haben sie im Lauf der Zeit nur eine entwickelt, und das nennt man Darwinismus, erklärt er.

Wir sind nicht sicher, ob seine Antwort ein Zeichen von plötzlicher Reife ist, die seine Schwester vor der Wahrheit schützen soll, oder ein falsches Verständnis der Evolutionstheorie. Wahrscheinlich Letzteres. Wir lassen es so stehen. Der Wandtext, den wir alle lesen können, nur das Mädchen nicht, liefert die Erklärung, dass die Schildkröte ihre Flosse im Long Island Sound verlor, wo sie vor elf Jahren gerettet wurde.

Elf: Mein Alter plus eins! sagt der Junge mit heller Begeisterung, die er normalerweise unterdrückt.

Während ich dastehe und die gewaltige Schildkröte beobachte, fällt es mir schwer, sie nicht als Metapher für etwas zu sehen. Doch bevor ich herausfinde, wofür, fängt der Junge an, uns zu aufzuklären. Schildkröten wie Calypso, sagt er, werden an der Ostküste geboren und schwimmen sofort in den Atlantik hinaus, ganz allein. Manchmal kehren sie erst nach zehn Jahren in Küstengewässer zurück. Die Schlüpflinge beginnen ihre Reise im Osten und werden mit den warmen Strömungen des Golfstroms ins Tiefe getragen. Irgendwann erreichen sie die Sargassosee, deren Name, so der Junge, von den enormen Mengen der Sargassum-Alge stammt, die dort fast bewegungslos umhertreiben, gefangen von Strömungen, die sich im Uhrzeigersinn drehen.

Das Wort Sargasso ist mir nicht unbekannt, aber ich wusste nie, was es bedeutet. In einem Gedicht von Ezra Pound, an dessen Titel ich mich nicht erinnere, heißt es in einer Zeile, aus der ich nie so recht schlau wurde: »Dein Verstand und du sind unsere Sargassosee.« Während der Junge über die Schildkröte und ihre Reise in die Gewässer des Nordatlantiks weiterdoziert, gerate ich ins Grübeln. Dachte Pound bei dieser Zeile an Unfruchtbarkeit? Dachte er an Verschwendung? Steht das Bild für ein Schiff, das durch Jahrhunderte von Müll fährt? Oder geht es nur um den menschlichen Geist, der in sinnlos kreisenden Gedanken gefangen ist, unfähig, sich jemals von destruktiven Mustern zu lösen?

 

Bevor wir das Aquarium verlassen, will der Junge sein erstes Polaroid-Bild machen. Sein Vater und ich müssen uns vor das Hauptbecken stellen, mit dem Rücken zur Schildkröte. Er hält seine neue Kamera fest. Das Mädchen steht neben ihm – sie hält eine unsichtbare Kamera –, und während wir erstarren und sie verlegen anlächeln, betrachten sie uns, als wären wir die Kinder und sie die Eltern:

Sagt cheese.

Wir grinsen und sagen:

Cheese.

Cheese.

Aber das Bild kommt cremeweiß heraus, als zeige es unsere Zukunft und nicht die Gegenwart. Oder vielleicht ist es kein Bild unserer greifbaren Körper, sondern unserer Gedanken, die sich verloren im Kreis drehen – und fragen warum, denken wohin, sagen was jetzt?

LANDKARTEN

Hätten wir unser Leben in der Stadt festgehalten und eine Karte der täglichen Wege und Abläufe gezeichnet, dann sähe sie völlig anders aus als die Straßenkarte, der wir jetzt durch dieses weite Land folgen. Unser Alltag in der Stadt zog Linien, die sich nach außen verzweigten – Schule, Arbeit, Einkaufen, Termine, Treffen, Buchladen, Deli, Notar, Arztpraxis –, aber diese Linien verliefen immer im Kreis und kehrten am Ende des Tages zu einem einzigen Punkt zurück. Dieser Punkt war die Wohnung, in der wir vier Jahre zusammengelebt hatten. Ein kleiner, aber lichter Raum, in dem wir eine Familie geworden waren. Der Mittelpunkt, den wir jetzt plötzlich verloren hatten.

Obwohl wir im Auto nah beisammensitzen, sind wir vier unverbundene Punkte – jeder auf seinem Platz, in eigene Gedanken versunken, beschäftigt mit unterschiedlichen Stimmungen und unausgesprochenen Ängsten. Auf dem Beifahrersitz studiere ich mit einem Bleistift in der Hand die Karte. Ein Netz von Autobahnen und Straßen überzieht das gewaltige, mehrfach gefaltete Stück Papier (es ist eine Karte vom ganzen Land, zu groß, um sie im Auto auszubreiten). Ich folge langen Linien, rot, gelb, oder schwarz, zu schönen Namen wie Memphis, zu unpassenden Namen wie Truth or Consequences oder Shakespeare, zu alten Namen, die durch neue Mythologien mittlerweile neue Bedeutung erlangt haben: Arizona, Apachen, Cochise Stronghold. Und wenn ich von der Karte aufblicke, sehe ich vor mir die lange gerade Straße, die uns in eine ungewisse Zukunft führt.

AKUSTEMOLOGIE

Klang und Raum sind auf eine weitaus tiefere Weise miteinander verbunden, als wir gewöhnlich annehmen. Wir erkennen, verstehen und fühlen unseren Weg im Raum durch Töne und Klänge – die offensichtliche Verbindung zwischen beidem –, aber wir erfahren Raum auch durch die vorhandenen Neben- und Hintergrundgeräusche. Für uns als Familie war es immer das Radio, das den dreifachen Übergang vom Schlaf, in dem jeder allein war, zu unserem engen Beisammensein am frühen Morgen und schließlich zur weiten Welt außerhalb unseres Heims darstellte. Den Klang des Radios kennen wir besser als alles andere. Es war das Erste, was wir jeden Morgen in unserer Wohnung in New York hörten, wenn mein Mann aufstand und es einschaltete. Wir hörten seinen Klang, der irgendwo tief in unseren Kissen oder in unseren Gedanken nachhallte, standen auf und gingen langsam in die Küche. Dann wurde der Morgen von Meinungen, Dringlichkeit, Fakten und dem Geruch von Kaffeebohnen erfüllt, während wir alle am Tisch saßen und sagten:

Gib mir die Milch.

Hier ist das Salz.

Danke.

Hast du das eben gehört?

Schreckliche Nachrichten.

Wenn wir jetzt im Auto durch dichter besiedelte Gegenden fahren, suchen wir eine Radiofrequenz und schalten ein. Bei jeder Nachricht über die Lage an der Grenze drehe ich lauter und wir hören zu: Hunderte Kinder kommen jeden Tag allein an, Tausende jede Woche. Die Ansager sprechen von einer Einwanderungskrise. Einen Massenzustrom von Kindern, nennen sie es, eine plötzliche Welle. Sie besitzen keine Papiere, sind Illegale, Fremde, sagen einige. Sie sind Flüchtlinge, haben einen Rechtsanspruch auf Schutz, argumentieren andere. Laut diesem Gesetz steht ihnen Schutz zu; ein anderer Zusatz spricht ihnen diesen Schutz ab. Der Kongress ist gespalten, die öffentliche Meinung ebenfalls, die Presse blüht bei diesem Überschuss von Kontroversen förmlich auf, Non-Profit-Organisationen machen Überstunden. Jeder hat eine Meinung zu dem Thema; niemand kann sich auf etwas einigen.

VORAHNUNG, DIESER LANGE SCHATTEN

Wir beschließen, heute und an den folgenden Tagen nur bis Einbruch der Dunkelheit zu fahren. Nicht länger. Sobald das Licht schwindet, werden die Kinder schwierig. Sie spüren das Ende des Tages, und die Vorahnung längerer Schatten, die sich über die Welt senken, verändert ihre Stimmung, drängt ihre weicheren Tagespersönlichkeiten in den Hintergrund. Der Junge, normalerweise so sanftmütig, wird launisch und gereizt; das Mädchen, immer begeistert und vor Leben strotzend, wird anstrengend und leicht melancholisch.

JUKEBOXES & SÄRGE

Die Stadt in Virginia heißt Front Royal. Die Sonne geht unter, und in der Tankstelle, wo wir angehalten haben, um den Tank aufzufüllen, läuft in voller Lautstärke irgendein weißer reaktionärer Song. Die Kassiererin bekreuzigt sich rasch und vermeidet Augenkontakt, als wir 66,60 Dollar zahlen müssen. Eigentlich hatten wir vor, ein Restaurant oder Diner zu suchen, doch nach diesem Stopp wollen wir lieber unbemerkt weiterfahren. Keine zwei Kilometer von der Tankstelle entfernt entdecken wir ein Motel 6 und biegen auf den Parkplatz ein. Bezahlt wird im Voraus, in der Rezeption gibt es durchgehend Kaffee, und ein langer, kalter Flur führt zu unserem Zimmer. Wir haben nur das Nötigste aus dem Kofferraum mitgenommen. Beim Öffnen der Tür empfängt uns ein Zimmer, dessen Licht selbst einen seelenlosen Raum wie diesen in eine schöne Kindheitserinnerung verwandelt: blumenbedruckte, fest unter die Matratze gezurrte Bettlaken, durch einen Spalt der grünen Samtvorhänge fällt ein Sonnenstrahl, in dem Staubpartikel schweben.

Die Kinder nehmen das Zimmer sofort in Beschlag, springen zwischen den beiden Betten hin und her, schalten den Fernseher ein und wieder aus, trinken Wasser aus der Leitung. Zum Abendessen gibt es trockenes Müsli aus der Schachtel, das wir uns auf der Bettkante sitzend schmecken lassen. Als wir fertig sind, wollen die Kinder ein Bad nehmen. Ich lasse die Wanne halb volllaufen, dann gehe ich nach draußen zu meinem Mann und lasse die Tür einen Spaltbreit offen, falls eines der Kinder nach uns ruft. Bei den vielen kleinen Verrichtungen im Bad brauchen sie oft Hilfe. Zumindest was Waschgewohnheiten angeht, empfinde ich Elternschaft manchmal wie das Lehren einer ausgestorbenen, komplizierten Religion. Sie beruhen eher auf Ritualen als auf logischen Prinzipien, auf Glauben als auf Vernunft: dreh den Deckel von der Zahnpastatube so ab, dann drückst du von unten; nimm nur ein paar Blatt Toilettenpapier, dann faltest du es entweder so oder du zerknüllst es vor dem Abwischen; gib das Shampoo erst auf die Hand, nicht direkt auf den Kopf; zieh den Stöpsel erst aus der Wanne, wenn du rausgestiegen bist.

Mein Mann hat seine Aufnahmegeräte bei sich und sitzt mit hochgehaltener Tonangel neben unserer Zimmertür. Ich setze mich leise zu ihm, um ihn nicht zu stören. Mit dem Rücken an der Wand sitzen wir im Schneidersitz auf dem Steinboden. Wir öffnen Bierdosen und drehen Zigaretten. Im Zimmer nebenan bellt ununterbrochen ein Hund. Vier Türen weiter erscheint ein Mann mit seiner jugendlichen Tochter. Er ist kräftig und geht behäbig; sie hat Spargelbeine, trägt nur einen Badeanzug und eine offene Jacke. Sie gehen zu einem vor der Tür geparkten Pick-up und steigen ein. Als der Motor röhrt, hört der Hund auf zu bellen, um dann noch ängstlicher wieder anzufangen. Ich nippe an meinem Bier und sehe zu, wie der Pick-up wegfährt. Das Bild dieser beiden Fremden – Vater, Tochter, keine Mutter –, die in einen Pick-up steigen und vermutlich in ein Schwimmbad in einer nahe gelegenen Stadt fahren, erinnert mich an einen Satz, den Jack Kerouac mal über Amerikaner sagte: Wenn man sie gesehen hat, »weiß man nicht mehr, was trauriger ist, eine Jukebox oder ein Sarg«. Vielleicht war es auch nur Kerouacs Kommentar über die Fotos in Robert Franks Buch The Americans und nicht über Amerikaner im Allgemeinen. Mein Mann schneidet noch ein paar Minuten lang das Hundegebell mit, bis wir, von den Kindern gerufen – sie brauchen dringend Hilfe bei Zahnpasta und Handtüchern –, zurück ins Zimmer gehen.

KONTROLLPUNKT

Da ich weiß, dass ich nicht schlafen kann, gehe ich, als die Kinder endlich im Bett liegen, durch den langen Flur nach draußen zum Auto und öffne den Kofferraum. Ich stehe vor unserem tragbaren Chaos und betrachte es, als läse ich ein Inhaltsverzeichnis, um zu entscheiden, welche Seite ich aufschlagen soll.

Auf der linken Seite des Kofferraums sind ordentlich gestapelt unsere Schachteln, fünf enthalten unser Archiv – wobei unser Chaos ein Archiv zu nennen optimistisch ist –, plus die beiden leeren Schachteln für das künftige Archiv der Kinder. Ich werfe einen Blick in die Schachteln I und II meines Mannes. Einige Bücher gehen ums Dokumentieren oder um Archivführung und -nutzung während des Dokumentationsprozesses, dann ein paar Fotobände. In Schachtel II entdecke ich Sally Manns Unmittelbare Familie. Ich setze mich auf den Randstein und blättere es durch. Ich mochte immer ihre Sicht auf Kinder und was sie mit Kindheit verbindet: Kotze, blaue Flecken, Nacktheit, nasse Betten, trotzige Blicke, Verwirrung, Unschuld, ungebändigte Wildheit. Mir gefällt außerdem die Spannung in ihren Bildern, eine Spannung zwischen Dokument und Erfindung, zwischen dem Einfangen eines einmaligen flüchtigen Augenblicks und einem inszenierten Augenblick. Irgendwo schrieb sie, dass Fotos ihre eigenen Erinnerungen schaffen und die Vergangenheit ersetzen. Ihre Bilder zeigen nicht die Sehnsucht nach dem flüchtigen Moment, der zufällig mit der Kamera eingefangen wird. Sie sind vielmehr ein Geständnis: Dieser eingefangene Augenblick ist nicht durch Zufall entstanden, es ist ein aus einer ganzen Bandbreite von Erfahrungen entnommener und erhaltener Augenblick.

Mir geht durch den Sinn, dass ein gelegentliches unbeobachtetes Herumschnüffeln in den Schachteln meines Mannes und das Abhören seines Tonarchivs mir vielleicht einen Hinweis geben, wie ich meine eigene Geschichte aufbauen und welche Form ich ihr geben könnte. Ein Archiv ist etwas Ähnliches wie ein Tal, das die eigenen Gedanken in veränderter Form zurückwerfen kann. Man flüstert Ahnungen und Gedanken ins Leere und hofft, eine Antwort zu erhalten. Und wenn man schließlich den richtigen Ton getroffen und die richtige Oberfläche gefunden hat, kommt manchmal, nur manchmal, tatsächlich ein Echo zurück, ein echter, klarer Nachhall.

Der Inhalt der dritten Schachtel kommt mir auf den ersten Blick wie eine sehr männliche Zusammenstellung von Büchern zum Thema »auf Reisen gehen« vor, denn in allen wird erobert und kolonisiert: Herz der Finsternis, Die Cantos, Das wüste Land, Herr der Fliegen, Unterwegs, 2666, die Bibel. Des Weiteren finde ich ein kleines weißes Buch – die Fahnen eines Romans von Nathalie Léger, Untitled for Barbara Loden. Es wirkt ein bisschen deplatziert, eingezwängt und stumm, deshalb nehme ich es heraus und gehe zurück ins Zimmer.

ARCHIV

In ihren Betten klingen sie alle warm und verletzlich, wie ein Rudel schlafender Wölfe. Ich erkenne jeden an der Art seines Atmens: mein Mann neben mir, die beiden Kinder nebeneinander im benachbarten Doppelbett. Am leichtesten ist das Mädchen herauszuhören, das fast schnurrt, während es ungleichmäßig am Daumen lutscht.

Ich liege im Bett und lausche ihnen. Im Zimmer ist es dunkel, das Licht vom Parkplatz umrahmt die Vorhänge mit einem whiskeygelben Schimmer. Auf dem Highway ist kein Verkehr. Wenn ich die Augen schließe, vermischen sich beunruhigende Bilder und Gedanken in meinen Augenhöhlen und ergießen sich in mein Gehirn. Mit offenen Augen versuche ich mir die Augen meines schlafenden Stamms vorzustellen. Die des Jungen sind haselnussbraun, meist verträumt und mit sanftem Blick, können aber plötzlich vor Freude oder Wut auflodern wie die meteorischen Augen von Seelen, zu groß und zu wild, um gelassen zu sein – »gelassen in die gute Nacht«. Die Augen des Mädchens sind schwarz und riesig. Wenn sie weint, werden die Ränder sofort rot. Ihre plötzlichen Stimmungsschwankungen spiegeln sich unübersehbar darin wider. Als Kind war es bei mir genauso. Heute sind meine Augen vermutlich fester, unnachgiebiger und doppeldeutiger, wenn meine Stimmung schwankt. Die Augen meines Mannes sind grau, schräg und oft unruhig. Beim Autofahren blickt er mit gerunzelter Stirn auf die Straße, als lese er ein schwieriges Buch. Dieselbe Miene setzt er bei der Arbeit auf. Ich weiß nicht, was er sieht, wenn er mir in die Augen blickt; in letzter Zeit kommt es nicht mehr oft vor.

 

Ich schalte die Nachttischlampe ein, lese den Roman von Nathalie Léger und unterstreiche Stellen bis tief in die Nacht:

»Gewalt, ja, aber die annehmbare Seite der Gewalt, die Art von banaler Grausamkeit, wie sie in der Familie stattfindet«

»das Summen des normalen Lebens«

»die Geschichte einer Frau, die etwas Wichtiges verloren hat, aber nicht genau weiß, was«

»eine Frau auf der Flucht oder im Untergrund, die ihren Schmerz und ihre Ablehnung verbirgt und etwas vortäuscht, um sich befreien zu können«

Ich lese immer noch, als der Junge vor Sonnenaufgang am nächsten Morgen aufwacht. Seine Schwester und sein Vater schlafen noch. Ich habe die ganze Nacht kaum geschlafen. Er tut so, als wäre er schon ewig wach oder als wäre er nie eingeschlafen und wir hätten uns zwischenzeitlich unterhalten, stützt sich auf und fragt mit lauter, klarer Stimme, was ich lese.

Ein französisches Buch, flüstere ich.

Wovon handelt es?

Eigentlich von nichts. Es geht um eine Frau, die etwas sucht.

Und was sucht sie?

Das weiß ich noch nicht; sie weiß es auch nicht.

Sind die alle so?

Wie meinst du das?

Die französischen Bücher, die du liest, sind die alle so?

Wie so?

Wie das, weiß und klein, ohne Bilder auf dem Cover.

GPS

An diesem Vormittag fahren wir durch das Shenandoah Valley, eine mir unbekannte Gegend, die mir jedoch erst gestern Abend – in kleinen Splittern und geborgten Erinnerungen – in Sally Manns Fotos begegnet ist, die sie in diesem Tal aufnahm.

Um die Kinder zu beruhigen und die elend langen Stunden auf den Straßen in die Berge zu füllen, erzählt mein Mann Geschichten über den alten amerikanischen Südwesten. Er erzählt von den Strategien, die Häuptling Cochise anwandte, um sich vor seinen Feinden in den Dragoon und Chiricahua Mountains zu verstecken, und dass er noch nach seinem Tod zurückkam, um sie heimzusuchen. Es hieß, dass man ihn selbst heute noch bei den Dos Cabezas Peaks sichte. Die Kinder hören noch aufmerksamer zu, als ihr Vater vom Leben Geronimos erzählt. Seine Worte bringen uns die Zeit näher, halten sie im Auto fest, sie erstreckt sich nicht mehr vor uns wie ein unerreichbares Ziel. Er hat ihre volle Aufmerksamkeit, und auch ich höre zu: Geronimo war der letzte Mann in Nord-. Mittel- und Südamerika, der sich den Bleichgesichtern ergab. Er wurde Medizinmann. Eigentlich war er gebürtiger Mexikaner, aber er hasste Mexikaner, die von den Apachen nakaiye genannt wurden, »jene, die kommen und gehen«. Mexikanische Soldaten hatten seine drei Kinder, seine Mutter und seine Frau getötet. Er lernte nie Englisch. Für Häuptling Cochise trat er als Dolmetscher zwischen Apachen und Spaniern auf. Geronimo war eine Art heiliger Hieronymus, sagt mein Mann.

Wieso heiliger Hieronymus? frage ich.

Er rückt seine Mütze zurecht und erklärt in langatmiger professoraler Detailverliebtheit, dass der heilige Hieronymus die Bibel ins Lateinische übersetzte, bis ich das Interesse verliere, die Kinder einschlafen und wir beide verstummen, abgelenkt von den plötzlichen Anforderungen des Verkehrs: Autobahnkreuze, Geschwindigkeitskontrollen, Bauarbeiten, gefährliche Kurven, eine Zahlstelle – hast du Kleingeld und reich mir den Kaffee.

Wir folgen einer Karte. Entgegen allen Empfehlungen beschlossen wir, kein GPS zu benutzen. Ich habe eine gute Freundin, deren Vater bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr unglücklich in einer Firma gearbeitet und dann genügend gespart hatte, um seiner wahren Leidenschaft zu folgen und sein eigenes Geschäft zu gründen. Einen Verlag, The New Frontier, der Tausende wunderschöner kleiner Seekarten herstellte, gewissenhaft und liebevoll zugeschnitten auf die Schifffahrt im Mittelmeer. Sechs Monate nach der Gründung seines Verlags wurde das GPS erfunden. Und das war’s: ein ganzes Leben futsch. Als meine Freundin mir die Geschichte erzählte, schwor ich, nie ein GPS zu benutzen. Deshalb verfahren wir uns natürlich oft, besonders wenn wir eine Stadt verlassen wollen. Gerade stellen wir fest, dass wir fast eine Stunde lang im Kreis gefahren und wieder in Front Royal gelandet sind.

STOPP

Auf einer Straße namens Happy Creek werden wir von einer Polizeistreife angehalten. Mein Mann schaltet den Motor aus, nimmt seine Mütze ab, rollt sein Fenster herunter und lächelt der Polizistin zu. Sie will Fahrerlaubnis, Zulassung und Versicherungsschein sehen. Auf dem Beifahrersitz murmele ich missmutig vor mich hin, unfähig, meine tief sitzende, unreife Reaktion auf jede Form von Maßregelung seitens einer Autoritätsperson zu zügeln. Wie ein Teenager beim Abwasch greife ich schwerfällig und genervt ins Handschuhfach, hole die verlangten Papiere heraus und klatsche sie meinem Mann in die Hand. Er wiederum überreicht sie ihr feierlich, als kredenze er ihr heißen Tee in einer Porzellantasse. Sie erklärt, wir seien angehalten worden, weil wir bei dem Stoppschild nicht richtig angehalten haben. Sie zeigt darauf – ein knallrotes achteckiges Ding, das eindeutig die Kreuzung Happy Creek Road und Dismal Hollow Road markiert und eine sehr schlichte Anweisung gibt: »Stopp.« Erst jetzt sehe ich die andere Straße, Dismal Hollow Road; der Name steht in schwarzen Großbuchstaben auf dem weißen Aluminiumschild, eine treffende Bezeichnung für den Ort, den er kennzeichnet. Mein Mann nickt immer wieder, sagt, tut mir leid, und wieder, tut mir leid. Die inzwischen von unserer Unschuld überzeugte Polizistin gibt die Papiere zurück, doch bevor wir weiterfahren dürfen, stellt sie noch eine Frage:

Und wie alt sind diese hübschen Kinder, Gott schütze sie?

Neun und fünf, antwortet mein Mann.

Zehn! verbessert ihn der Junge von hinten.

Sorry, sorry, sorry, klar, zehn und fünf.

Ich weiß, das Mädchen möchte auch etwas sagen und sich irgendwie einmischen, dazu muss ich sie gar nicht ansehen. Wahrscheinlich möchte sie erklären, dass sie bald sechs ist und nicht mehr fünf. Aber sie öffnet nicht mal den Mund. Wie mein Mann und im Gegensatz zu mir, hat sie eine lähmende, angeborene Angst vor Autoritätspersonen, eine Angst, die sich bei beiden in Form von großem Respekt bis hin zur Unterwürfigkeit zeigt. Bei mir äußert sich dieser Instinkt als trotziger Widerwille, einen Fehler einzugestehen. Mein Mann weiß das und sorgt deshalb dafür, dass ich in brenzligen Situationen den Mund halte.

Sir, sagt die Polizistin jetzt, wir in Virginia sorgen für unsere Kinder. Jedes Kind unter sieben Jahren braucht einen richtigen Kindersitz. Zur Sicherheit des Kindes, Gott möge das Mädchen schützen.

Sieben, Ma’am? Nicht fünf?

Sieben, Sir.

Tut mir leid, Officer, wirklich. Ich – wir – hatten keine Ahnung. Wo können wir hier in der Gegend einen Kindersitz kaufen?

Entgegen meinen Erwartungen lässt sie seinen zugestandenen Fehler im Raum stehen und benutzt seine Niederlage nicht, ihre eigene Macht mit der Verhängung eines Bußgelds auszuspielen. Stattdessen öffnet sie ihre hellrosa geschminkten Lippen und lächelt. Eigentlich ein schönes Lächeln – scheu, aber auch offenherzig. Sie gibt uns eine äußerst detaillierte Wegbeschreibung zu einem Geschäft, ändert dann ihren Tonfall und erklärt uns, welchen Kindersitz genau wir kaufen sollen: Am besten sind die ohne Rückenlehne, und wir sollen darauf achten, dass die Gurtschnallen aus Metall und nicht aus Plastik sind. Am Ende jedoch kann ich meinen Mann überzeugen, nicht anzuhalten, um den Kindersitz zu kaufen. Als Gegenleistung verspreche ich, nur dieses eine Mal den Google Maps GPS zu benutzen, damit wir aus dieser labyrinthischen Stadt hinaus und wieder auf die Straße kommen.