Buch lesen: «Aldarúun»

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Valeria Kardos

Aldaruun

Das verschollene Königskind

Prolog

Die Sonne verschwindet hinter den Häusern und taucht sie in tiefe Orange- und Rottöne. Eine friedliche Ruhe hat sich über Budapest ausgebreitet, und langsam gehen überall in der Stadt die Lichter an. Es ist erst Mitte Februar, aber die Temperaturen klettern tagsüber bereits auf über zehn Grad.

Alvar blickt zu der Frau an der Brüstung, die ihm den Rücken zuwendet. Ihr graues Haar ist mit einer kostbaren Spange hochgesteckt. Sie trägt ein bodenlanges dunkelblaues Samtkleid, das mit einem weißen Spitzenkragen versehen ist. Wie elegant Sophia noch ist, denkt Alvar. Und so diszipliniert. Ihre Haltung wirkt geradezu majestätisch. Mit schlanken Fingern streicht sie über das Messinggeländer, das im Abendlicht glänzt. Dann dreht sie sich abrupt um. Ihr Blick verrät große Sorge und ihre Gedanken scheinen weltenentrückt zu sein.

„Das Wettrennen hat also begonnen“, sagt sie und seufzt. „Wir werden sehen, wer das Kind als Erstes findet: unsere Spione oder die Bestien.“ Sie schließt verzweifelt ihre Augen. „Wenn die Bestien das Kind vor uns finden, werden sie es töten – und damit jede Hoffnung.“

„Ich weiß“, sagt Alvar und zieht an seiner Pfeife. Er steht mühsam auf; langsam spürt er die Bürde seines hohen Alters. Dann streicht er seinen Brokatgehrock glatt, tritt aus dem Schatten ins Licht auf Sophia zu und legt seine linke Hand auf ihre Schulter. „Ich habe die Prüfung der Rekruten abgeschlossen und eine, wie ich meine, gelungene Wahl getroffen. Sie sind bereit, ihre Pflichten zu übernehmen.“

Sophia strafft ihren Körper. „Nach welchen Attributen hast du sie ausgesucht, Alvar?“

Er zieht eine Augenbraue hoch und lächelt. Sie wird seinem Urteil vertrauen, das tut sie schon seit vielen Jahrzehnten. Er lässt seine Pfeife sinken und beobachtet ihr Gesicht, während er nachdenklich seinen langen Bart krault. Seine Worte wählt er mit Bedacht.

„Nach den Attributen, die das höchste Maß an Sicherheit versprechen: Tapferkeit, Loyalität und Liebe.“

„Liebe?“, schnaubt sie verächtlich. „Was soll Liebe für ein Attribut sein? Eloni-Krieger müssen starke Kämpfer sein. Demut, Tapferkeit und bedingungsloser Gehorsam sind Attribute, nach denen sie ausgewählt werden müssen. Das hat sich in der Vergangenheit stets bewährt!“

Sie ist noch vom alten Schlag, denkt Alvar düster. Sie zu neuen Pfaden zu führen, könnte schwierig werden.

„Du weißt“, sagt er, „dass das Verhältnis zwischen den Eloni und den Menschen in den letzten Jahrhunderten sehr gelitten hat und brüchig geworden ist. Wenn wir auf den alten Bündnissen aufbauen wollen, müssen wir auf ursprüngliche Werte wie Toleranz und Vertrauen zurückgreifen. Uns stehen dunkle Zeiten bevor! Der Krieg, der sich auf Aldarúun anbahnt, kann uns vernichten! Das Wohl und die Sicherheit des Kindes müssen unter allen Umständen gewährleistet sein. Das ist nur möglich, wenn es von seiner Leibgarde nicht nur mit Verstand und Kraft, sondern auch mit dem Herzen beschützt wird.“

Sophia verschränkt ihre Arme und blickt wieder über die Stadt hinweg. „Meine Spione haben berichtet, dass der Dunkle Orden den letzten Nachfahren in Deutschland vermutet und bereits die ersten Bestien zum Portal entsandt hat. Wir werden die Eloni-Krieger blind losschicken und uns auf ihre angeborenen Instinkte verlassen müssen.“ Sie seufzt, bevor sie leise weiterspricht. „Ich hoffe sehr, du weißt, was du tust, Alvar! Das Kind ist unsere letzte Hoffnung. Wenn wir nur einen Fehler machen, könnte das unseren Untergang bedeuten!“ Stirnrunzelnd dreht sie sich zu Alvar um. „Warum Liebe? Das musst du mir erklären.“

Er lächelt und zieht an seiner Pfeife. „Sophia, die EloniKrieger sollen ihr Leben für das Kind, sollte es erforderlich sein, aufs Spiel setzen. Dazu gehört mehr als Treue zur Krone und Pflichtbewusstsein.“

„Aber es ist ihre Pflicht, dem Hause Gollnir zu dienen! Das ist ihre Aufgabe, Alvar, schon seit vielen Jahrhunderten. Woher dieser plötzliche Sinneswandel?“

Nachdenklich krault er seinen Bart. „Die Zeiten haben sich gewandelt. Sie sind dunkel und unbestimmt. Wir müssen lernen, in neuen Maßstäben zu denken und die Ketten unserer eingefahrenen Regeln zu sprengen. Dazu gehört auch, der Garde einen gewissen Freiraum zu lassen. Sie dürfen nicht in das höfische Regelwerk eingezwängt werden – nur dann können sie und werden sie über sich hinauswachsen. Ich habe es in meinen Visionen gesehen.“

Sie schließt für einen Moment ihre Augen und atmet tief durch. Alvar weiß, wie traditionsbewusst Sophia ist und dass er in diesem Augenblick viel von ihr verlangt.

Resigniert zieht sie die Schultern hoch. „Nun gut, alter Freund, ich vertraue deinem Urteil. Wann kann ich sie sehen?“

„Sie sind hier und warten unten in der großen Halle auf uns.“

„Sie sind hier?“, fragt sie erstaunt.

„Du sagtest selbst, der Dunkle Orden hat bereits seine Bestien entsandt. Wir sollten auf gar keinen Fall unnötig Zeit verlieren. Komm mit, ich bringe dich zu ihnen.“

Alvar bietet ihr seinen Arm an, und sie legt ihre linke Hand in seine Armbeuge. Mit der rechten Hand spielt sie an ihrer Perlenkette – das einzige Anzeichen, dass es unter dieser perfekten Fassade brodelt. Alvar führt sie von der Dachterrasse durch ein doppeltüriges Glasportal. Sie durchqueren das große Wohnzimmer und betreten den offenen Gang einer Galerie. Ein Kronleuchter von drei Metern Durchmesser erleuchtet das Stockwerk darunter, das die Eingangshalle der Villa bildet. Der Boden des unteren Stockwerks ist mit italienischem Marmor gefliest. Weiße Säulen zieren die Halle. In der Mitte steht ein großer Springbrunnen, der seine Fontäne bis ins nächste Stockwerk schießt.

An diesem Brunnen warten drei kräftig gebaute Männer, die sich schüchtern und etwas hilflos umschauen.

„Sie sind jung – sehr jung – zu jung“, sagt Sophia entsetzt.

„Sie sind die Tapfersten“, bemerkt Alvar ruhig.

„Junge Elonis sind zu unbeherrscht, zu wild! Sie lassen sich viel zu schwer kontrollieren“, zischt sie wütend.

„Sie sind unbefangen und voller Neugierde auf die Welt und sind bereit, auch neue Wege zu gehen“, erwidert er sanft.

„Unsere Gegner sind übermächtig und stark. Den dreien dort unten fehlt jegliche Erfahrung, Alvar. Besonnenheit, nicht jugendlicher Übermut sollte sie leiten.“

Sie blickt wieder hinunter zu den drei jungen Männern und schüttelt verhalten ihren Kopf.

„Ihre Unerfahrenheit werden sie kompensieren durch Hingabe, Mut und Einfallsreichtum“, sagt Alvar und macht eine kurze Pause, bevor er etwas leiser weiterspricht, „und natürlich durch die Liebe, die sie für das Kind empfinden werden.“

„Du sprichst, als ob du dir sicher wärst. Woher nimmst du nur diese Gewissheit?“, fragt Sophia erstaunt und dreht sich wieder zu ihm.

„Ich habe in ihre Seelen geblickt, Sophia. Sie sind reinen Herzens, Falschheit ist ihnen fremd. Sie werden ihre Pflichten unkonventionell erfüllen und uns alle überraschen.“

„Was hast du nur in deiner Vision gesehen?“, fragt sie ungläubig, als sie das Aufblitzen in seinen Augen sieht. Lächelnd legt er wieder ihre Hand in seine Armbeuge und führt sie die breite Treppe hinunter.

„Hoffnung, Sophia, Hoffnung!“

Veränderungen

1

Die Tür knallt hinter Irma zu, als sie mit hochrotem Kopf aus Herrn Meinels Büro stolpert. Ihre Hände zittern, während sie sich mit ihren Unterlagen wieder auf ihren Platz setzt. Ich erkenne, wie ihre Augen langsam feucht werden und sie mit ihrem kleinen Finger verstohlen eine Träne wegwischt. Die jähzornigen Ausbrüche unseres Chefs bringen sie selbst nach vielen Jahren noch immer aus der Fassung.

„Der Kerl hat wieder eine Laune, dass die Milch sauer wird“, schnaubt sie wütend und putzt sich die Nase.

Herr Meinel ist der stellvertretende Geschäftsführer des Speditionsunternehmens, in dem ich als Teilzeitkraft angestellt bin. Seine schlechten Launen – und schlecht gelaunt ist er so ziemlich immer – lässt er stets an seinen Mitarbeitern aus. Irma, die ihm direkt unterstellt ist, bekommt oft das meiste ab.

Ich bin Gott sei Dank nur noch ein paar Monate hier. Mein Abitur habe ich vor einem halben Jahr gemacht und ich will meine Ausbildung zur Tierarzthelferin in einer ganz bestimmten Praxis beginnen. Zur Überbrückung der Zeit habe ich die letzten Monate ein wenig gejobbt, was nach der ganzen Lernerei auf die Abi-Klausuren eine Wohltat ist. Es tut gut, abends nach Hause zu kommen und nicht über den Büchern sitzen zu müssen.

Irma schnieft, putzt sich nochmals die Nase und macht sich wieder an die Arbeit. Trotz der täglichen Ausbrüche unseres Chefs kämpft sie tapfer weiter. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel und bewundere sie angesichts ihres Durchhaltevermögens.

Die Tür wird aufgerissen und Stefanie, die zweite Sachbearbeiterin von Herrn Meinel, stürmt aufgeregt herein. Irma und ich drehen uns neugierig zu ihr um, während sie sich mit einem lauten Rums auf einen der Schreibtischstühle fallen lässt. „Es haben sich weitere zwei Fahrer krankgemeldet. Ich habe keine Ahnung, wie ich die nächsten Touren besetzen soll“, sagt sie und schielt verzweifelt in Richtung Meinels Büro. „Der Alte wird mir den Kopf abreißen, obwohl ich gar nichts dafür kann.“

„Ich würde dir den Botengang ja abnehmen, aber ich habe heute meinen Einlauf schon erhalten“, winkt Irma ab. „Einen zweiten stehe ich nicht mehr durch – nicht vor dem Wochenende.“

Nun schauen mich beide erwartungsvoll an. Ich seufze, und noch bevor eine von ihnen den Mund aufmachen kann, schnappe ich mir die Krankmeldungen und sage im Vorbeigehen: „Also, da sollte mindestens ein Cappuccino für mich nächste Woche drin sein.“

„Cappuccino, Kuchen, Eis … was immer du möchtest, Anja“, ruft Stefanie und lächelt erleichtert.

Es hat sich in der Vergangenheit herausgestellt, dass ich irgendwie einen beruhigenden Einfluss auf die Menschen in meinem Umfeld habe. Selbst Choleriker wie Herr Meinel kommen in meiner Gegenwart erstaunlich schnell wieder runter.

„Du hast auf Menschen eine Wirkung wie Valium“, hat mal Ramona, meine beste Freundin, lachend zu mir gesagt. Das habe ich zwar nicht unbedingt als Kompliment aufgefasst, aber es trifft den Kern ziemlich genau. Selbst während meiner Schulzeit wurde ich gern zum Schlichten von Streitereien herangezogen.

Auch meine beiden Kolleginnen haben das sehr schnell erkannt und schicken nur allzu gerne mich in die Höhle des Löwen, wenn der Löwe wieder mal in Fressstimmung ist.

Ich klopfe vorsichtig an seine Tür und warte sein brummiges „Herein!“ ab, bevor ich eintrete. Herr Meinel ist ein Mann um die fünfzig, etwas korpulent und – durch seinen hohen Blutdruck – stets ein wenig rot im Gesicht. Er schaut mich kurz über seinen Brillenrand hinweg an, bevor er sich wieder seinen Unterlagen widmet.

„Was gibt es, Frau Horvath?“, fragt er leicht gereizt wie immer.

Ich trete an seinen Schreibtisch und atme einmal tief durch. „Herr Meinel, ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht. Zwei weitere Fahrer haben sich heute krankgemeldet. Da scheint ein ganz böser Virus zu …“

„Was?“, schreit er laut auf und wirft dabei seine Brille achtlos auf den Schreibtisch. „Die sind nicht krank, da gehe ich jede Wette mit Ihnen ein!“

Ich lege ihm die Krankmeldungen hin, die er nur mit einem giftigen Blick quittiert.

„Es sind doch immer dieselben, die krank werden, und dann am besten noch vor Feiertagen oder vor dem Wochenende. Ich weiß genau, dass Günter gerade ein Haus baut und viel Zeit braucht. Wahrscheinlich benutzt der auch noch unsere Lkws zum Transportieren. Wenn ich den erwische …“

Ich tue, was ich immer tue, wenn er mit seinen Schimpftiraden beginnt – ich schalte auf Durchzug. So bekomme ich nur mit halbem Ohr mit, wie er alle Angestellten als Schmarotzer bezeichnet, die sich doch nur auf seine Kosten bereichern … bla bla bla.

Dr. Fuchs, nicht mehr lange!, denke ich sehnsüchtig an den liebenswertesten Tierarzt der Welt, der bald mein Chef werden wird.

„… man sollte sie nur noch nach Leistung bezahlen! Man muss da ansetzen, wo es richtig wehtut – am Geldbeutel!“

„Warum nehmen wir nicht einen der neuen Aushilfsfahrer, dafür haben wir sie doch eingestellt?“, unterbreche ich ihn, als sein Gekeife zu mir durchdringt. Ich lächele freundlich und erwarte, dass er gleich wieder lospoltert, aber überraschenderweise bleibt das aus. Sein Atem wird ruhiger und die Ader an seinem Hals schwillt langsam wieder ab. Bisher hatte ich über dieses Phänomen nicht weiter nachgedacht, aber seit ich hier arbeite und Stefanie mal zu mir gesagt hat, ich hätte wieder den Drachen besänftigt, beginne ich das Verhalten meiner Mitmenschen mir gegenüber etwas genauer zu beobachten. Es fällt mir mittlerweile täglich auf, im Supermarkt, während der Arbeit oder im Privatleben – und es scheint sich zu verstärken. Als ich Ramona darauf mal ansprach, sagte sie zu mir, ich solle in den diplomatischen Dienst gehen oder noch besser in den Verkauf. So wie ich die Menschen beeinflussen könne, würde ich schnell ein kleines Vermögen machen.

Herr Meinel reißt mich aus meinen Gedanken. Er drückt mir die Krankmeldungen in die Hand und murmelt, dass Stefanie sich um alles Weitere kümmern soll. Er wendet sich wieder seinen Unterlagen zu, was bedeutet, dass ich gehen kann.

Ich atme auf, als ich die Tür hinter mir schließe und in die erwartungsvollen Gesichter meiner beiden Kolleginnen blicke.

„Und?“, fragen sie mich gleichzeitig.

„Nun, du sollst die Aushilfsfahrer einsetzen“, sage ich grinsend und schaue in ihre verblüfften Gesichter.

„Mehr nicht?“, fragt Stefanie perplex.

„Nein, mehr nicht.“

„Anja, ganz im Ernst, wir werden dich nicht gehen lassen. Ohne dich wird dieser Laden wieder zur Hölle!“, sagt sie und Irma nickt eifrig. Ich mag die beiden wirklich sehr, aber ich werde keine Sekunde länger in dieser Firma bleiben als nötig.

Es piepst aus meiner Handtasche. Ich setze mich wieder an meinen Platz und hole mein Handy heraus. Auf dem Display sehe ich, dass ich eine WhatsApp-Nachricht von Ramona erhalten habe. Meine Laune verbessert sich sekündlich, während ich mich zur Nachricht durchklicke: Heute Abend 19:00 Uhr – Abendessen – Köln – übliches Restaurant – Widerstand ist ZWECKLOS – bis nachher Süße 

Wenn Ramona sich etwas in den Kopf gesetzt hat, muss man schon eine Ausrede wie überfahren vom Bus oder entführt von Aliens vorweisen, sonst ist Ärger angesagt. Aber das ist nicht nötig. Ich freue mich auf unser Abendessen. Der richtige Ausklang einer nervigen Arbeitswoche.

Endlich ist es halb sechs. Irma und ich lassen buchstäblich die Kugelschreiber fallen und eilen aus dem Büro. Am Parkplatz verabschiede ich mich und wünsche ihr ein schönes Wochenende. Dann schlendere ich langsam zu meinem kleinen Fiat Panda, der am anderen Ende des Parkplatzes steht.

Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sich Irma in ihren Wagen setzt und mir nochmals zuwinkt, bevor sie vom Hof fährt. Ich winke zurück und laufe weiter über den Parkplatz, während ich in der Handtasche nach meinem Autoschlüssel krame.

Es ist Mitte April, und wir haben schon den ganzen Tag über schönes Wetter. Nach dem langen Winter, der sogar für Kölner Verhältnisse sehr kalt war, hatte mich heute Morgen das Frühlingsfieber gepackt. Ich hatte mich für eine mintgrüne Bluse mit der passenden Strickjacke und eine helle Baumwollhose entschieden. Eine Wohltat nach den dicken Winterklamotten.

Es ist jetzt, um halb sechs, noch immer warm, aber ich fröstele. Während ich noch in meiner Tasche krame, überkommt mich eine seltsame Beklommenheit. Ich hebe den Kopf und schaue mich um, aber ich bin völlig allein auf dem Parkplatz. Alles, was ich sehe, sind Lastwagen, Gebäude, Müllcontainer und die ans Firmengelände angrenzenden Felder. Aus der Ferne höre ich die Autos auf der Landstraße. Das gleiche Szenario, das sich mir jeden Abend bietet … aber ich fühle mich befangen.

Es ist seltsam ruhig. Noch nicht einmal lustiges Vogelgezwitscher ist zu hören. Ich drehe mich langsam um die eigene Achse und starre in jeden Schatten, den die Lkw werfen.

Kein Lufthauch ist zu spüren, es ist totenstill. Es ist, als ob alle Alltagsgeräusche ausgeblendet wären, als ob die Zeit stehengeblieben wäre – ich fühle mich wie in einem Vakuum.

Mein Magen krampft sich zusammen, und fröstelnd ziehe ich meine Strickjacke enger, während ich nochmals jeden einzelnen Schatten mit den Augen abtaste. Ich werde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.

Verärgert drehe ich mich wieder zu meinem Wagen um. Endlich finde ich auch die Schlüssel in meiner Handtasche und stelle mit Befremden fest, dass meine Hände leicht zittern. Noch während ich die Tür aufschließe, denke ich, wie albern mein Verhalten ist und dass ich bestimmt gleich mit Ramona herzlich darüber lachen werde. Aber das unbehagliche Gefühl will nicht weichen. Ich setze mich, so schnell es geht, hinter das Lenkrad und gebe Gas. Mit überhöhter Geschwindigkeit fahre ich über den Parkplatz auf die Straße hinaus.

Allgemeine Alltagsgeräusche dringen an mein Ohr, als ich in Richtung Innenstadt fahre, und langsam verliert sich dieses dumpfe Gefühl. Ich versuche über mich selbst zu lachen, aber es will mir einfach nicht gelingen.

2

„Wie viele Kalorien hat so ein Steak eigentlich noch mal?“

Mit gerunzelter Stirn zerschneidet Ramona das letzte Stück Fleisch auf ihrem Teller und schiebt es sich genüsslich in den Mund. „Wenn ich nicht bald anfange, disziplinierter zu werden, bekomme ich nie die drei Kilo bis zum Sommer herunter“, sagt sie kauend.

Ich kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen, denn Ramona ist bildhübsch und vor allem gertenschlank, aber wie die meisten Frauen nie wirklich mit sich zufrieden. Sie hat kurze rote Haare, die in alle Richtungen stieben, und eine süße kleine Stupsnase, umrahmt von Sommersprossen. Sie ist stets ein wenig lauter als andere Frauen, ein wenig frecher und fröhlicher. Eigentlich eine typische Rheinländerin.

„Wo willst du eigentlich noch abnehmen? An deinen Ohrläppchen?“, frage ich grinsend.

„Hör mal, du Schlaumeier, ich habe ein Schweinegeld für diesen Versace-Bikini ausgegeben, der aus einem kleinen Hauch von Nichts besteht. Da darf kein Millimeter Fett überquellen.“ Sie funkelt mich mit ihren hübschen blau-grauen Augen angriffslustig an.

„Warum hast du dir keinen Badeanzug gekauft? Du hättest weniger Stress und könntest auch von dem Schokoeis naschen, das ich gleich zum Nachtisch bestellen werde“, entgegne ich mit Unschuldsmiene.

Ich verschlucke mich fast beim Lachen, als ich in Ramonas Gesicht blicke. Wenn sie wütend ist, dann wird einfach alles in ihrem Gesicht noch roter – sogar ihre Sommersprossen scheinen dann zu glühen.

„Du bist so ein Miststück“, faucht sie mich an, „du wirst kein Eis bestellen, hörst du? Du weißt genau, Eis ist meine persönliche Droge – ich bin quasi ein Eis-Junkie!“

Grinsend beiße ich in mein Knoblauchbrot und unterdrücke ein weiteres Kichern, zum Ersten, weil die anderen Gäste im Restaurant uns bereits pikiert beobachten, und zum Zweiten, weil die kleine rothaarige Wildkatze mich mit einer Erbse auf ihrer Gabel bedroht.

„Kein Eis, verstanden, Anja?“

„Schon gut, kein Eis“, antworte ich und nippe an meinem Bitter Lemon, um mein Grinsen zu verbergen.

Ramona und ich kennen uns schon aus der Schulzeit. Wir hatten uns in der siebten Klasse kennengelernt, nachdem meine Mutter und ich nach Köln gezogen waren. Die Chemie zwischen uns beiden stimmte von der ersten Sekunde an, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ramona ist eine Waise und hat in der Vergangenheit mehr Zeit bei uns als bei ihren diversen Pflegefamilien verbracht. Das hat sie stark an uns gebunden.

„Ich habe dir doch von Marc erzählt, den ich auf Miriams Hochzeit kennengelernt habe. Wir haben ein paar Mal telefoniert und uns endlich für nächsten Dienstag verabredet. Gott, der Junge ist so süß, das gehört schon verboten. Normalerweise gehe ich ja nicht mit Jungs aus, die besser aussehen als ich, aber ich konnte seinen Grübchen einfach nicht widerstehen.“ Kichernd nippt sie an ihrer Cola. „Ich habe keine Ahnung, was ich anziehen soll“, murmelt sie eher zu sich selbst.

Ich betrachte sie aufmerksam und komme zu dem Schluss, dass sie eigentlich tragen kann, was sie will, sie sieht in allem sexy aus. Sie hat ein absolutes Gespür für Mode. Ich bin da eher pragmatisch veranlagt. Auch, was unser Naturell angeht, könnten wir nicht unterschiedlicher sein. Ramona ist wild, ungestüm und spontan, ich hingegen ruhig, kontrolliert und auf Sicherheit bedacht. Aber irgendwie funktioniert unsere Freundschaft – auf eine sehr seltsame Art und Weise.

Auch was Männer angeht, ist Ramona stets hungrig. Sie kommt mir manchmal vor wie ein kleines Kind in einem Süßigkeitenladen, das mit großen Augen das üppige Angebot an Leckereien betrachtet und am liebsten von allem probieren möchte. Ich hingegen habe gerade mal zwei feste Freunde gehabt und beide Beziehungen endeten in einem Trauerspiel.

Marc scheint die neueste Attraktion im Süßigkeitenladen zu sein. „Was ist denn mit dem braunen Hosenanzug mit den weißen Streifen an der Seite und dem tiefen Ausschnitt?“, schlage ich vor. Sie überlegt kurz, dann hellt sich ihr Gesicht auf. „Das ist eine gute Idee! Darin habe ich wenigstens ein bisschen Busen. Ich weiß auch schon genau, welche Pumps ich dazu anziehen werde.“

„Sag mal, was ist denn aus diesem Kevin geworden, den du letztens noch so umwerfend fandest?“, will ich wissen.

„Wie kommst du jetzt auf Kevin? Den hatte ich doch noch vor Markus abgeschossen.“

„Markus? Wer ist Markus? Hast du mir da einen unterschlagen?“ Überrascht lasse ich die Gabel sinken.

Ramona rollt mit den Augen. „Markus war doch der mit dem scheußlichen Mundgeruch.“

„Ich dachte, der mit dem Mundgeruch war Björn?“

„Och, Anja, du musst mir auch mal zuhören, wenn ich dir etwas erzähle“, mault sie und schiebt sich kopfschüttelnd eine kleine glasierte Karotte in den Mund.

„Moni, Süße, ich liebe dich, aber von deinen Männergeschichten bekomme ich echt Migräne.“

Als wir uns draußen vor dem Restaurant verabschieden, ist es bereits kurz nach elf. Ramona gibt mir einen herzlichen Kuss auf die Wange und trollt sich lachend davon. Ich sehe ihr kurz nach, dann drehe ich mich um und mache mich auf den Weg zu meinem Wagen.

Die Dreiviertelarm-Bluse sowie die helle Baumwollhose schienen heute Mittag noch eine gute Idee gewesen zu sein, aber jetzt zieht langsam die Kälte an meinen Beinen hoch. Ich wickele mich noch enger in meine Strickjacke und versuche, mich zu orientieren. Das Restaurant befindet sich auf der Hohen Straße, einer der normalerweise belebtesten Einkaufsstraßen, aber um diese Uhrzeit ist sie wie leergefegt. Es kommen mir nur noch vereinzelt ein paar Menschen entgegen, die wohl, genauso wie ich, auf dem Weg zu ihren Fahrzeugen sind.

Das Parkhaus, in dem ich meinen Wagen abgestellt habe, ist älter und liegt abseits der beliebten Einkaufsmeile. Auf dem Weg zum Restaurant hatte ich mich schon verlaufen und jetzt – im Dunkeln – habe ich vollkommen die Orientierung verloren.

Ich laufe durch ein Wohngebiet und es befindet sich keine Menschenseele mehr auf der Straße. Der Weg bis zum Restaurant hatte keine zehn Minuten gedauert, doch ich bin mittlerweile fast zwanzig Minuten unterwegs. Ich erinnere mich, dass ein großes blaues Neonschild über dem Eingang des Parkhauses hing und daneben eine Apotheke war. Das Klackern meiner Absätze hallt von den Wänden wider. Die Kälte zieht mir unangenehm unter die Kleidung und ich beschleunige meine Schritte.

Sobald ich im Auto sitze, drehe ich die Heizung bis zum Anschlag auf.

Meine Zähne beginnen zu klappern.

Ich biege um die Ecke und blicke in beide Richtungen. Verdammt! Wieder falsch. Ich drehe mich um und nehme die Seitenstraße davor. Nichts kommt mir mehr bekannt vor, aber im Dunkeln sieht sowieso alles anders aus. Weit dürfte ich aber nicht sein, denn ich habe irgendwie das Gefühl, im Kreis zu laufen. Die nächste Seitenstraße ist noch dunkler, aber ich glaube am Ende der Straße das blaue Neonschild wiederzuerkennen. Ich biege in die Straße ein und laufe auf das Licht zu, als ich plötzlich etwas Merkwürdiges höre.

Es klingt wie ein Knurren, das langsam in ein Fauchen übergeht – ein Geräusch, das mir Schauer über den Rücken jagt!

Ich halte abrupt inne und schaue mich um. Hinter mir stehen nur die geparkten Autos, Stoßstange an Stoßstange, und der Wind wirbelt ein paar Papierschnipsel in die Luft. Trotz der Straßenbeleuchtung ist es recht dunkel, da es hier so gut wie keine Geschäfte gibt, die durch Neonreklame erleuchtet werden.

Wieder dieses Knurren, das dieses Mal in ein Zischen übergeht – und es klingt näher!

Noch nie in meinem Leben habe ich solche Geräusche gehört. Mein erster Gedanke sind herrenlose Hunde, aber so klingen keine Hunde. So klingt einfach gar nichts, was ich kenne.

Als ich meine Schritte in Richtung Parkhaus beschleunige, wird das Knurren lauter, aggressiver. Vor Schreck bleibe ich wieder stehen und blicke mich ängstlich um.

Zu meiner Linken erkenne ich einen großen Parkplatz, auf dem etliche Autos stehen. Er wird nur von einer Straßenlaterne beleuchtet, da die anderen außer Betrieb sind. Hinter jedem dieser Autos könnte sich etwas oder jemand verstecken.

Starr vor Angst versuche ich in der Dunkelheit etwas zu erkennen, da höre ich wieder dieses schaurige Geräusch – grollender, wütender und gefährlicher. Eine eisige Kälte erfasst mich, die nichts mit den Temperaturen zu tun hat, und zieht langsam an meinen Beinen hoch, als wollte sie mich lähmen.

Ich nehme ein Geräusch hinter mir wahr und drehe vorsichtig den Kopf. Mein Atem wird immer flacher. Im Augenwinkel sehe ich einen dunklen Schatten hinter einem der parkenden Autos hervorschleichen, nur um sofort wieder hinter einem Mauervorsprung zu verschwinden.

Das ist definitiv kein Hund, Hunde können nicht aufrecht gehen.

Aber es ist kein richtiges Aufrechtgehen, eher eine gebückte Haltung mit nach vorne hängenden Armen, wie bei Schimpansen. Frei herumlaufende Affen in der Kölner Innenstadt? Noch absurder!

Vom dunklen Parkplatz weht wieder ein Knurren herüber, das in ein schauriges Kreischen übergeht. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, obwohl ich friere, da sehe ich plötzlich ein gelb funkelndes Augenpaar, das sich langsam auf mich zubewegt. Ein Schrei bleibt irgendwo auf dem Weg zu meiner Kehle stecken und meine Beine gehorchen mir nicht mehr.

Paralysiert starre ich auf dieses unheimliche Ding, das immer näher kommt.

Wie viele Meter sind noch zwischen uns? Zwanzig? Fünfzehn?

Ich habe jegliches Gefühl für Zeit oder Entfernung verloren. Dann taucht ein weiteres gelbes Augenpaar auf sowie ein drittes. Es sind keine Schritte zu hören, nur ein seltsames, leises Klackern.

Lauf!, schreit nur noch eine Stimme in mir und endlich reagiert auch mein Körper. Aber als ich mich rühre, registriere ich ein Geräusch hinter mir.

Verdammt! Das Ding hinter dem Mauervorsprung habe ich fast vergessen. Ich schiele zu dem blauen Neonschild des Parkhauses. Es ist eigentlich gar nicht mehr so weit, vielleicht zehn, fünfzehn Meter? Vorsichtig und sehr langsam beginne ich einen Fuß vor den anderen zu setzen, darauf bedacht, keine ruckartigen Bewegungen zu machen. Die Augen dieser Wesen, was auch immer sie sind, folgen mir stetig. Es ist alles so surreal. Panisch krame ich in meiner Handtasche nach der Parkkarte. Es sind jetzt nur noch wenige Schritte bis zur Eingangstür, aber ich höre, wie auch sie näher kommen.

Als ich das Parkhaus endlich erreiche, schiebe ich mit zitternden Händen die Karte durch das Lesegerät und warte, dass das grüne Lämpchen angeht. Aber ich muss sie nicht ordnungsgemäß durchgezogen haben, denn es passiert nichts.

Anja, konzentrier dich, verdammt noch mal!

Nächster Versuch. Das Klackern hinter mir wird lauter.

Das grüne Lämpchen blinkt auf und mit einem leisen Klick geht die schwere Metalltür auf.

Ein wütendes Kreischen erhebt sich hinter mir, und als ich mich umdrehe, schießen vier gelbe Augenpaare aus der Dunkelheit auf mich zu.

Ich schlüpfe durch die Öffnung und reiße panisch an der Klinke, aber es handelt sich um eine Brandschutztür mit einem Dämpfer, der die zufallende Tür abbremst. Etwas Schweres knallt von außen dagegen und erschüttert sie in ihren Grundfesten.

… noch zwanzig Zentimeter …

Vier riesige Krallen schieben sich um den Türrahmen, da fällt sie endlich mit einem dumpfen Knall ins Schloss.

Ein schrilles Kreischen ertönt und ich halte mir taumelnd die Ohren zu. Meine Beine sind kurz davor, zu versagen, als mein Blick auf den Boden fällt.

So etwas passiert nicht im realen Leben! Das ist nur ein Albtraum und ich wache gleich auf!

Vier abgetrennte klauenartige Finger liegen dort und zucken noch. In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen und ich stütze mich an der Wand ab, als mir plötzlich auffällt, dass es wieder still ist. Aber warum? Keine Schmerzensschreie mehr?

Egal, bloß weg hier!

Ich drehe mich um und haste zur Treppe. Taumelnd nehme ich zwei Stufen auf einmal und muss aufpassen, nicht wegzurutschen. Trotz meiner Panik registriere ich, wie muffig es in diesem Gebäude riecht. Die Wände sind mit Graffiti beschmiert und das Licht spärlich, da fast die Hälfte der Neonröhren kaputt ist. Mein kleiner Fiat steht im untersten Parkdeck, auf Ebene drei, und ist vermutlich das letzte Auto um diese Uhrzeit.

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