Hurra, wir dreh’n uns noch

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Hurra,

wir dreh’n uns noch

(M)ein Weihnachtsmärchen

Uwe Törl

HURRA,
WIR DREH’N UNS NOCH

Von vor-, und überhaupt weihnachtliche

(Ansichtssache) Geschichten (im beinah letzten Jahr)

und einem neujährlichem Abgesang, welcher fast zu

spät, weil schon der neuen Tage sieben.

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Uwe Törl

Weihnachten im Zeitraffer (Wem’s reicht)

- Frühstück (…, mit Ei)

- Bibelstunde (Zeitung mit BILD)

- Baum schmücken (Bloß nicht stören!)

- Aquarium (Fische gucken)

- Mittag (Bratwurst, …)

- Sofa (Tivie – 3 Haselnüsse, …)

- Kaffee (Stolle 3 Stück)

- Gucken ob’s schon schneit (Na nö!)

- Sofa (Tivie – Aschenbuddel)

- Abendbrot (Bockwurst, Salat, …)

- Sofa (Tivie – Aschenbuttel)

- Bett (uijuijui)

- Frühstück (…, mit Ei und Gehacktem)

- Rätselstunde (Wo werd ich da wohl sein?)

- Sofa (Haselnüsse, … Hä?)

- Schneit’s schon? (och menno, …)

- Mittag (Gänsekeule, Rosenkohl, Klöße)

- Scrabble, Rommé, (Ärgern)

- Kaffee (Stolle 1 Stück)

- Bescherung (Na endlich!) mit Kind und Co

- Abendbrot (Wiener, Salat, …)

- Weihnachten in Familie (Könn wir schon lange!)

- Sofa (Tivie – Och nöö …)

- Bett (Ouijoijoi – 1mal Pantoprazol)

- Frühstück (Wo ist mein Ei?)

- Sofa (Buch? Tivie? Buch!)

- Mittag (Reste! Hier fehlt doch …)

- Sofa (Tivie – Ach, was soll’s!)

- Kaffee (Stolle? Geh mir …)

- Schnee? Nee! (Warum auch?)

- Einmal durchs Dorf (Leute grüßen)

- Sofa (Drei Hasel… jaja, nu lass!)

- Abendbrot (Spiegelei, Salat, …)

- Sofa (Tivie – SAW – Na endlich, endlich Kultur!)

- Bett (Ouijuijuijui 2mal Pantoprazol – viel hilft viel)

INHALTSVERZEICHNIS

DA WAR NOCH ZEIT

Ich erinnerte mich, es war die Zeit.

Als es um Weihnachten,

so manches Mal hat schon geschneit.

Die ganze Landschaft, gepackt wie in Watte.

Wo wir Kinder stritten, wer die schönsten

Eisblumen oder den größten Schneemann hatte.

Wo man in der Stille,

konnte leise die Schneeflocken fallen hören.

Nicht ein Geräusch weit und breit,

welches da uns im Spiele konnte stören.

So rodelten wir von Halden,

liefen Ski im verschneiten Wald.

Und es war uns Schnurz,

dass es bei Zeiten dunkel und eisig kalt.

Was für ein Spaß,

war nach der Schule eine Schneeballschlacht.

Fast alle Kinder vom Dorf,

in Gemeinschaft haben wir uns schlapp gelacht.

Schlittschuh laufen auf dem gefrorenen Teich.

Nicht selten, das nicht nur die Knie’e weich.

Doch Angst vor Schelte hatten wir keine.

Auch wenn wir aussahen,

wie paar Kleine, vollgesaute …

Meine Mutter war nicht grad begeistert,

wenn wir vollflächig mit Schneematsch bekleistert.

Trostpflaster taten wir bei unsern Omas suchen.

Die gab es da reichlich,

in Form von heißem Kakao und Eierkuchen.

Manch einer aus unseren Reihen,

welcher sich nicht nach Hause getraut.

Pitschbaden nass,

durch bis auf die bibbernde Haut.

Und während wir uns

heiße Zitrone mit Kandis taten kochen,

war so manchem Strolch,

nicht nur sein flotter Schlitten gebrochen.

Doch war es egal!

Fanden wir auch solches heiter.

Und so ging unser Treiben,

immer weiter und weiter und …

ANHALTINISCH-OSMANISCHE FROHLOCKUNG

(Kannst es auch sehen, was du da liest,

wenn beim Lesen, deine Augen du schließt.)

„Sind sie mit einer Alkoholkontrolle einverstanden?“, wollte doch tatsächlich dieser uniformierte Landstraßenbeamte von mir wissen.

Es lief eben zu gut. Die letzte Arbeitswoche für das Jahr, die so gut lief, dass ich gegen zehn in der Früh, an diesem Mittwoch schon los konnte. Erst ein wenig stockend bis zur A2, doch dann, auf der Warschauer Landstraße erstaunlich gutes Vorankommen. Sicher, der ein oder andere Auffahrunfall mit ’ner Ente voran. Und das viele Blaulicht Höhe Marienborn, welchem sich in etwa auf zwölf bis fünfzehn Kilometer Länge in dreispuriger Breite ein undurchdringliches Sammelsurium an Blech und zwei Stück Pappe (wie auch immer diese es auf die dritte Spur geschafft hatten – auf jeden Fall inhalierte ich bei 150 am offenen Fenster Erinnerungen) auf Rädern anschloss. Zum Glück in entgegengesetzte Richtung. (Was fahr’n se och alle in Westen!) Und natürlich der schon chronischen Platten am Vierzigtonner, welcher auf der 14 von zwei auf einspuriges Einfädeln zwang. Doch hob es mich nicht weiter an, war die Abfahrt Peißen doch schon in Sicht und somit in befahrbarer Nähe.

Zwei Stunden von Wolfsburg bis hier. Na wenn das nicht läuft heute, wann dann? Ja gut, wird jetzt der ein oder andere Streckeneinheimische einwerfen wollen. Was lief da jetzt gut? Ich könnte ja nun diesem schon greisen Blechvehikel, was ich mein Eigen nenne, die einzig Schuld in die Radkästen schieben. Doch lag da, wenn ich erwähnen darf, hinterhältig Helmstedt im Weg. Currywurst-Pommes-Bahnschranke, großer Kaffee mit acht Stück Zucker – nur nicht umrühren. (Die Pointe hierzu lass ich weg. Kennt ja eh jeder von dem Umgerührten.) Und zu guter Letzt ’ne große Cola ohne Eis. War so schon kalt genug den Tag. Das alles war nicht nur einigermaßen genießbar. Ich war auch satt, oder nennen wir es besser – zufrieden!

Nun wird sich der Trucker truckende Ureinwohner zu Wort melden und wissen wollen: „Was macht da, wenn auch nur zufrieden, satt?“ Das kann ich verraten. Ich hatte zu den Bahnschranken-Pommes eine zweite Currywurst. Sonst noch Fragen? Den Kuchen zum Kaffee, obwohl die Streusel, was selten, gesegnet mit einer Konsistenz von weichem Keks, muss ich nicht unbedingt hervorheben. Vielleicht ein Wort zum Boden – ein prima Schweißtuch für die Reise!

Nun will ich ja nicht nur vom Essen berichten. Auf dem Weg zum Auto, wo mir ein Waffeltüteneismoor den Weg versüßte. So kalt war’s auch wieder nicht. Dachte ich mir so, so gut wie das heute läuft. Das läuft so gut, da kannste auch noch den ein oder anderen Weg erledigen. Schließlich rückt das nächste Großereignis, wo Mann wie fremdgesteuert mit Geschenken nur so um sich schmeißt (ein Witz), in greifbare Nähe. Ich hatte also den Nachmittag, den Donnerstag, Freitag und den Sonnabend, um Präsentetechnisch noch etwas zu reißen. Wobei, Sonnabend? Sonnabend geht schon mal gar nicht. Was soll ich meiner Tochter und ihrer Mutter, was meine Frau, erzählen, wo ich wohl hin wolle. Na gut, unsere Tochter wird noch nicht da sein, das Wochenende. Bleibt aber immer noch meine Frau, welche ich schon am offenen Fenster seh und hör krächzen: „Wo willst du denn jetzt noch hin?“ „Tanken“, wird mir vermutlich einfallen. Schon mehrfach erprobt, gleich beim ersten Mal durchschaut. Ist auch so ziemlich das Einzige, was ich spontan in solch überführter Situation erschrocken, ohne Sprachfehler aneinanderzureihen, rausbekomme. Wäre noch der morgige Donnerstag. Nur ist der Morgen des morgigen Donnerstags schon verplant. Bis das alles erledigt ist, was erledigt werden muss, ist weit nach Mittag, wenn ich alles erledigt hab, was zu erledigen wär’. Weil, wenn ich das nicht gleich erledige, was da noch zu erledigen ist, dann wird das, wenn überhaupt, erst zwischen den Jahren erledigt. Und da hab ich mitnichten Lust Dinge zu erledigen, welche mit meiner Arbeit zu tun haben. Da will ich Sachen machen, die Spaß machen. Zum Beispiel könnte ich einen Schneemann bauen. Ist doch Winteranfang am Übermorgen und im Winter schneit’s! Ich könnt das auch sein lassen. Denn wann hat es das letzte Mal die ersten Wintertage geschneit? Wie dem auch immer: Der Donnerstagnachmittag ist zu knapp, meine Frau hat Frühschicht, kommt dementsprechend zeitig nach Hause. Wäre also noch der Freitag. Nur, so wie ich meine Frau kenn, hat sie diesen schon verplant. Was also bleibt? Genau, es bleibt nicht viel! Genaugenommen bleibt nur noch der Nachmittag. Die Betonung liegt hierbei auf der(!) Nachmittag. Am besten jetzt und im Idealfall sofort! Naja, wenn’s einmal läuft, dann läuft’s.

Nur dass das nicht die Zeit ist, die man bräuchte, um für eine junge und, sagen wir mal, nicht mehr ganz so junge Frau das Besondere zu finden. Wobei: Zu finden ist so nicht richtig. Weder bin ich auf der Suche, noch will ich was finden. Es muss mich finden! Es muss mich anspringen, dass ich nicht anders kann und es gar nicht anders mehr geht und ich es mitnehmen muss. Und siehe da, in einem Einkaufszentrum nahe dieser Randanhaltinischen Großstadt(?) sprangen mir tatsächlich für meine beiden Frauen zugunsten ihrer beider Ohren Ringe direkt ins Auge. Ausgerechnet vor einer osmanischen Zirkuszeltimitation, am Rand eines kleinen Weihnachtsmarktes, welcher mit vielerlei Licht in bunt und unnütz-alberner Deko in das Atrium dieses Konsumtempels eingearbeitet. Hätte ich nicht damit gerechnet, dass meinen beiden dieses Glück hold und mir selbst noch irgendetwas meinen Sichtwinkel erhellt. Erhellt – wie untertrieben. Es blendete regelrecht mein Augenlicht aus dieser drehbaren Kreolen-Vitrine heraus. Im reinsten Silber waren sie mit diesen sündhaft teuren Juwelen nicht zu übersehen. Doch gönnt man sich sonst nichts. Zumal es eh das letzte Mal wär, dass ich mich in so unangenehme Unkosten stürzte. Geht doch, wenn man den Majanesen Glauben schenken darf, am Freitag (was dann wie schon festgestellt Übermorgen) die Welt unter. Hat hier jetzt so noch Niemand für voll genommen. Alles andere als Endzeitstimmung. Stattdessen dröhnte „Morgen Kinder wird’s was geben“ aus dem Lautsprecher von dem kleinen Kleinkind-Kettenkarussell, welches mittig auf diesem türkisch angehauchten Weihnachtsmarkt stand, durch die Einkaufshallen. Was wird es denn da morgen wohl wollen geben? Im schlimmsten Fall unser aller Ende! Davon lass ich mir doch nicht den Tag versauen, so gut wie das an dem Tage lief.

 

Die bunte junge Frau, welche sich hinter dem Tresen stabilisierte … Halt, nein, ich muss das erklären! Genaugenommen waren es zwei und beide hatten für diese Veranstaltung die komplett falsche Kostümierung. Auch wenn diese eine der beiden Schmuckwarenverkäuferinnen mindestens einen ganzen Kopf größer, hatten sie doch etwas von nicht-eineiigen Zwillingen. Was der einen ein gestreckter Irokese in Regenbogen über ultrakurz gemähte grüne Stoppeln, überdeckelte der Kürzeren rechtes Haupt ein nachtschwarzer Scheitel, welcher streng nach hinten gezurrt in einem geflochtenen Zopf nach zirka dreißig Zentimetern sein jähes ausgefranstes Ende fand. Die andere, die linke, Schädelseite lag bis auf eine grimmig dreinblickende Maus, welche sich als Tattoo durch die Schädeldecke ins Freie fraß, blank. Der dazu passende Schmuck, der das visuelle Antlitz beider bereicherte, zeugte von Kreativität und war so gar nicht der eigenen Auslage Herkunft. Hing der Fräulein Irokese der Halbjahresverbrauch eines ausgewachsenen Großvaters an Rasierklingen nebst abgebrochener Näh- und Stopfnadeln aus dem Gesicht, baumelte der Gruftine ein nicht geringer Teil eines Metallbaukastens vom Haupt. Einzig einig waren sie sich bei den Sicherheitsnadeln, welche vom linken Ohre tropften. Am rechten baumelte zusätzlich, außer etwas Altmetall, eine daumengroße Vodoopuppe. Witziger Weise ähnelte diese der jeweiligen Freundin. Auf Schminke wollte das Duo natürlich auch nicht verzichten. War der Punkine die ganze bunte Vielfalt eines Schulmalfarbkastens behilflich, stand Nosferatus femininem Ebenbild die eingeschränkt-abstrakte Farbenwelt des Schwarzweißen in Gänze zur Seite. Vollendung fand das Gesamtbild beider, in der wohlgewählten Kostümierung. Eingeschnürt bis Oberkante Hals in schwarzes Leder, hing der kleinen blassen eine weise Rüschenrosette aus dem gen Nord gekrempelten Kragen. Gleiches zeigte sich aus beiden Ärmeln. Zirka einen viertel Meter unter den kurzen Hosen endeten ihre Schnürstiefel. Diese, wie alles andere an ihr, farbig analog abgestimmt. Was auch sonst!

Bei der Bunten – wie nicht anders erwartet – bunt in fast allen Farben. Eine schon übertrieben-dezente Mischung aus Flower Power und den Kellys Mitte der Neunziger. Nur nicht so zugeknöpft wie die kleine Gruftine. Offenherzig präsentierte sie ihr noch im Wachstum befindliches Dekolleté, auf dem sich eine starkbehaarte Tarantel auf dem Weg befand, sich zwischen den noch leeren Milchtüten zu verstecken. Derselbe grimmig dreinblickende Gesichtsausdruck wie schon bei der Maus verriet die Kunst und das Geschick eines Fachkundigen Tattooteurs.

Also wie schon erwähnt, die junge bunte Frau, welche mich, außer dass sie die Schmuckstücke noch weihnachtlich schick eintütete, zu diesem Einkauf fast überschwänglich beglückwünschte, musste noch kichernd erwähnen, dass diese beiden Stücke einmalig seien. „Unikate“, wie sie mir versicherte: „Weil, wie sie sehen, sehen sie diese nicht mehr. Würden sie jene aber noch hängen sehen, hier irgendwo, dann würden sie diese Jenen doppelt sehen und hätten somit was an Augen.“ Dazu schenkte sie mir ihr schönstes Lächeln, was ein Zahnarzt mit Hilfe von Draht und Epox hatte versucht so gut wie es ihm eben möglich, intern beisammenzuhalten. Die dazugehörige Glühweinfahne mit einem Hauch abgestandenem Amaretto verriet eine schon länger anhaltende Weihnachtsstimmung. Ja, dachte ich mir, die Mischung macht’s.

Ich wollte mich darüber nicht aufregen. Ist Übermorgen doch eh Schluss, vielleicht. Und ein Schnäppchen hätt ich wohl auch gemacht, wie sie mir in ihrem Jingle-Bells-Modus versicherte. Dazu zeigte sie ein letztes Mal ihre Zahnspange und wünschte mir schon mal vorbeugend:

„Happy New Year!“

„Wie belieben?“

„Nen’ guten Rutsch noch!“

„Dito!“

„Häh?“

„Auch!“

„Aha hahaha!“, lachte sie albern.

Die Kleine minder farbenfrohe Freundin hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen. Doch wie ich sie ansah, schien sie sich von mir genötigt. Ich erschrak vor zwei gelben … oder eher grauen – nein, doch mehr gelben Zahnreihen. Oder? Ich weiß auch nicht so recht. Wenn ein Schimmel auf einer weit abgelegenen Koppel umfällt, tot. Also tot umfällt im Sommer und wird, so in etwa übern Daumen, vielleicht acht Wochen vergessen … Was wollt ich jetzt, …? Egal!

„Wir sehen uns auf der anderen Seite!“ Ich erinnerte mich eines ehemaligen Kameraden, der die Unsitte beherrschte, eine Büchse Scomber Mix mit seinen Zähnen zu öffnen. Jedenfalls antwortete ich verdutzt fragend: „Auf der anderen Seite?“

„Genau …“, raunte sie geheimnisvoll, als wenn man ihren Gaumen mit Sandpapier tapeziert hätte. Unheimlich würde es jetzt werden, würde die Kerze, welche ein zum Teelichthalter degradierter giftgrüner Drache auf dem Tresen trug, von einem plötzlich durchrauschenden Windzug ausgeblasen.

Nach diesem Zusammentreffen mit der doch etwas anderen Art, zog es mich weiter. Der Reihe nach rum, war ich doch wirklich neugierig, was es in diesem weihnachtlichen Zirkuszelt-Rondell noch so zu bestaunen gab. Auch wenn ich hatte, was mich fand, zog dieser eigenwillige Weihnachtsmarkt magisch an. Zehn Stück dieser Osmanischen Feldunterkünfte, welche eine Bühne am Kreolen-Zelt beschloss, tummelten sich großzügig ausgerichtet um das kleine schon erwähnte Kinderkettenkarussell. Auf dessen Spitze ein Derwisch, der bei jeder Fahrt mit wehendem Rock wie wild sich drehte. In den Zelten präsentierte sich nicht nur die Auslage, sondern auch gleich der scheinbar nur noch aus Resten bestehende Lagerbestand gewinnbringend. Öffnete man weit die …? Türen waren es ja nicht. Doch wenn ich sage: „Mach auf das Tuch, den Vorhang weit!“, weiß man doch was ich meine? (Dann ist ja gut. Denn als zweiflügelig-aufklappbare Zeltlappen wollte ich diesen Einlass nicht betiteln. Wer weiß, wie der muselmanische Sponsor dieser mit Mondsichel bestückten Campingbehausungen auf solches reagiert?)

Und in jedem dritten Zelt duftete es nach Jasmin wie aus Tausend und einer Nacht. Roch es nach fremdartigen Gewürzen orientalischer Welten, … Sollte man zumindest glauben. Stattdessen hing das Aroma eingeschlafener Füße eines (vielleicht) Exbürgermeisters von Istanbul, welcher sich zum Ministerpräsidenten empor terrorisiert hatte, in der Luft. (Ein Typ, welcher mit den Mitteln von heute noch in der Welt von Konstantinopel sein eigen Volk von oben herab zu seinem Gunsten in die Knie regieren wird. Wenn dieser geldgeile Sack so weitermacht, zum Gespött ganzer Kontinente, wenn ich mal orakeln darf. Der Kim Jong-Unsinn vom Bosporus.) Zurück zu den Aromen dieses eigenen Universums. Gleich in Zelt drei, nachdem ich Nummer zwei, welches voll mit Spenden von Waldorfschülern … nein, noch mal … welches bis unters Dach voll von Spielzeug- und Kleiderspenden von Waldorfschülern, hatte ich ausgelassen, entkam dem Dritten ein Odeur von Weihrauch und Myrre. Das muss es sein, das heilige Zelt vom osmanischen Weihnachtsbasar. Krippen, Engel, Kreuze und alles in Groß und Klein. Und aus allen Ecken räucherte und qualmte es nur so vor sich hin. Doch irgendwie war ein Geruch dazwischen, der so gar nicht passen wollte. Selbst der junge Verkäufer, dessen Teint nicht unpassender konnte sein, verriet die Rasta-Matte den versteckten Irrtum.

„Na Bruder, wat kann ick dir judet tun?“, erkannte er mein fragendes Gesicht. Überrascht sehe ich den strahlenden Rastaman an. Überhaupt schienen alle die an seinem Zelt, wenn auch nur kurz, hängen blieben, seltsam zu strahlen. Nur nicht dieses Trio an Betreuerinnen, von denen die ersten beiden jeweils gelangweilt einen Opi im Rollstuhl vor sich herschob, bei der dritten henkelte eine Omi am Arm und schien irgendwelche Mantras vor sich her zu murmeln. Oder sie lutschte noch ein Stück Sättigungsbeilage von der mittäglichen Suppe. Weil Zähne waren nicht erkennbar. Da dachte wohl der Opi der zweiten Betreuungskraft: „Drifte ich doch mal eben zu Rasta ab.“ Doch war die Chauffeurin auf der Hut und bemerkte den leichten Kurswechsel sofort. „Falsches Zelt, Opa Wilbur. Sie wollten was für ihren Enkel, aber bestimmt nicht für ihren albernen Glauben!“ Opa Wilbur knurrte: „Das wollte die Daggema!“, missmutig von seinem Platz, dass sich sogleich vorderste Kraft ungefragt einklinkte: „Hör i da uane antiwoaihnachtliche Stimmung, Opa Wilbur? Schön auf die Bärbel hören!“

„Daanke Schwester Daagmaar!“ Der angeätzte Klang in Bärbels Stimme verriet die Beliebtheit Dagmars. Und beim Opa war sie eh durch: „Für dich immer noch Herr Wilbert! Schwester Daggema aus Austria!“

„Noa, wer wird’s denn da glei fürchterlich, Opa Wilbur?“, lies die Daggema ihre schon grenznahe Nord-Salzburger Herkunft raushängen: „Singen mir besser ah Lied. Mechte Mutter Piepe anstimmen? Faih uane olde woaihnachtliche Woaise?“

Was Wilbur veranlasste: „Ihr habt doch ’ne Meise!“, und der Türke vom kleinen Kinderkettenkarussell freundlich rüber rief: „Lanet yabancilar!“

Ungeachtet Wilburs Feststellung stimmte die am Arm von Bärbel gestützte Frau Piepe, welche nur darauf zu warten schien, auch schon an: „Oh es riecht gut, oh …“ Oh Gott, es war grausam!

Mit ohne Zähne konnte man bestimmt viele Sachen machen. Lesen und schreiben zum Beispiel. Vielleicht auch noch reden und zuhören, ganz bestimmt. Doch ohne Zähne mit circa Mitte neunzig und einem weichgelutschten Brotkanten zwischen dem statisch gestörten Zahnfleisch singen? Nein, das geht … definitiv nein! Was der Oma außer hörbar auch sichtbar egal war. Hingebungsvoll strapazierte sie ihre nähere Umwelt. Zumindest reichte es für Rasta über Waldorf bis hin zur Punkine, was das Kleinkindkettenkarussell, welches sich mit einer osmanischen Volksweise hilflos zur Wehr setzte, mit einschloss. „Spinnt doch, Deutschen ihr!“, konnte sich der westkurdische Kartenkontrolleur einen Kommentar nicht verkneifen und machte dazu ein Gesicht, als hätte ihm die Omi mit verschütteter Noten den Krieg erklärt.

Zu viel für Opa Wilbur, sodass er, um diesem Unsinn ein Ende zu bereiten, in die Reifen griff. Nicht ohne Folgen. Ein wenig zu schnell knallte er der Daggemar in die Hacken, welche erschrocken vornüber stürzte. Um wiederum ihrem gehandicapten Opi mit ihrem Kinn die Schmidt-Mütze auf dessen Haupte zu verschieben. Sie stützte sich auf, vergessend, dass die Rollstuhlbremse nicht angezogen war und so schossen beide vorbei am Waldorfzelt, bis Schmidt-Mützen-Opa in der Plane von Punkines Kreolenzelt zum Stillstand kam. Punkine selber, weil nicht anwesend, konnte nicht helfen. Doch Schwester Bärbel eilte schon, Frau Piepe vergessend, zu Hilfe.

Der westkurdische Kartenkontrolleur sah mit Blick auf vergangene, nicht stattgefundene Erfolge, bang die deutsche Zukunft schwinden: „Konntet nicht gewinnen Krieg. Ösis zu viel. Unfähig ihr ward!“

„War das nicht nur einer?“, erkundigte letztere Betreuerin sich bei ihrer sehbehinderten Begleitung. Woraufhin diese mit Missmut in der Stimme knurrte: „Genau wie hier!“ Während der Enthüllung von Schmidt-Mützen-Opa, bezichtigten sich derweil beide Betreuerinnen der Schuld an diesem Malheur. Es erweckte für Außenstehende den Eindruck, dass diese betreuenden Kräfte selber Betreuung von Nöten hätten. Was der dritten betreuenden Kraft im Schlepptau dieses seltsam-senilen Gespannes zu Gute kam, gingen Bärbel und Dagmar verbal aufeinander los. Schmidt-Mützen-Opa vermisste seine Mütze, was er durch Schläge mit Hilfe einer Krücke an die Innenseite der Zeltplane lautstark kundtat. Nur Opa Wilbur war guter Dinge. Laut lachend beklopfte er beidhändig seine steifen Oberschenkelstumpen und schob sich einen von Rastamans heimlich zugesteckten Keksen in den Mund. Fehlten ihm auch die Beine, so hatte er doch seine Zähne noch vollständig. Zumindest verriet das sein lausbubenhaftes Grinsen. Darauf folgte die für Stillschweigen bekannte Fingergeste an seine schmalen Lippen und der anschließende Fingerzeig direkt auf mich. Was mir signalisierte – der meint dich. Somit wurde ich im Vorbeigehen unfreiwillig zum Geheimnisträger von Opa Wilburs Machenschaften. Und das alles zum Nutzen von Schwester Nicki, welche ihrer elegant hergerichteten Dame am Arm den rechten Weg wies. Für sie war das Tohuwabohu ihrer Kolleginnen Ablenkung genug, um mit Rastaman einen großen Umschlag gegen zwei kleinere, unbemerkt von ihren Kolleginnen, zu tauschen. Grad so, dass die beiden Betreuung benötigenden Betreuerinnen ihren beinah eingetüteten Schmidt-Mützen-Opa samt Rollstuhl schadfrei aus Punkines Zeltplane befreit hatten, hatte Schwester Nicki besagte Umschläge heimlich in die elegante Handtasche ihrer eleganten Dame verschwinden lassen. Mit einem hinterhältig geheuchelten: „Kann ich helfen?“, schloss sie zu der Mischung aus Dumpfbacken-Betreuern und betreuten Greisen auf. Und untersagte im zweiten Satz der Frau Piepe, zum Schutz von Marktbesuchern aus Nah und Fern, weiteres Absingen weihnachtlichen Kulturgutes.

 

Dagmar, wieder über den Dingen, lehnte die Hilfe Nickis frei von Dank mit erhobener Nase ab und drückte stattdessen der Nicki zusätzlich zur Eleganz noch Wilbur aufs Auge, was diesen beiden wiederum doch sehr zu Pass kam. So schmissen sie sich beim entgegenkommen gegenseitig ein High five in ihre fünf Finger und verkniffen es sich zu lachen. „Alles priemstens Wilbur!“, zwinkerte sie ihm zu, griff nach dem Rollstuhl und lies die elegante Dame am rechten Arm einhenkeln. Dann schoben sich alle drei, unbemerkt im Rücken von Bärbel und Daggemar, noch einen Keks in den Mund und strahlten Dank Rastas Backkunst um die Wette.

Und so verließen sie mit ihren Artgenossen voran diesen, für mich doch einmalig aufgemachten, Weihnachtsmarkt.

Von da an strahlte auch ich. Auch ohne Keks, stellte ich fest, und es war mir egal, dass Rasta mich duzte.

„Bist du hier richtig?“, fiel mir nichts Dümmeres ein.

„Ick bin jenau so richtig oder falsch wie du, Bruder!“

„Ich mein ja nur. Weil, was dir da um Hals hängt, passt ja so gar nicht zu deiner sakralen Handelsware.“

Daraufhin küsste er das silberne Cannabisblatt an seiner Kette und meinte doch tatsächlich: „Ick mach dit doch nich zum Spaß hier, wa! Wir alle nich Bruder! Nur bring ick glei noch meene Ernte an dit bedürftiche Volk, wenn de ditte verstehst!? Verstehste?“

„Wie, ihr macht das alle nicht zum Spaß?“

„Weil wir brauchen die Jnete, für unsere Fete!“

„Na Hallo, ein Poet …“

„… und da hat unser Dozenti, welcher een?“ Mit diesem Rätsel wiesen seine Hände in Geberlaune gen Derwisch. „… Türke?“

„Cool Bruder, du bist echt cool. Also der, der hat uns für die Jnete eben, … hierher bejeordit. Seit fast vier Wochen, von Mittach bis beinah jähchin nach zwanzig Uhr und heute iss Schluss, wa. Weil danach iss …“

„… Fete?“

„Man, du hast’s echt troff Bruder! Von Siesta bis Fiesta, quasi. Und deswejen, ohne Scheiß. Jibt dit heut allit zum Ulti, zum Mativen, zum Fifti-Preis. N’türlich nur de Heilichtümer, wa!“, grinste mich Rastaman breit und strahlend an: „Meen Schitt, was’ de da wohl voll Logo, nitt! Willste ma prowieren? Ick lass dir ma Bruder, probehalber!“

„Ne, lass mal gut sein.“

„Iss vom Feinsten!“

„Natürlich vom Feinsten, aber so was voll von Logo.“

Ich heuchelte ein wenig Begeisterung. Nur waren das nicht meine Kräuter, welche er da seine Ernte nannte. „Ich bin mehr so der Schnittlauch-Typ.“

„Schnittlauch?“ Ich dachte, diesem botanischen Behelfsdruiden fielen die Locken aus seinem Rasta. Entgeistert fragte er nach: „Du rauchst Schnittlauch?“

Ja gut, ich hätte diesem ungläubigen Kruzifixhändler in dem Moment die Geschichte vom Pferd erzählen sollen, nur fiel mir das ziemlich spät. Also erklärte ich ihm: „Das Grünzeug kommt aufs Ei! Rührei, kennst’e doch, oder …“

„Klar, kenn ick! Hältst mich wo für doof, oder wie?“

„Vernebelt“, murmelte ich. „Wie meenst’n dit …?“

„Und Petersilie“, lenke ich ab: „Petersilie, die schmeiß ich in die Suppe.“

„Dass de die nich rochst iss mir schon klar.“

„Was, die Suppe?“

„Quatsch, die Petersilie! Man Bruder, wie bist’n du troff? Vielleicht solltist ’de doch ma …“

„Besser mal nicht.“

„…vom Feinsten?“

„Noch nicht mal vom aller Feinsten!“

„Vom aller Feinsten iss och nich! Zumindest nich bei mir, wa!“, warf er mir ein wenig beleidigt entgegen. Weil, das wär wohl gestreckt, erklärte mir der rastagelockte Kräuterexperte. Doch dann wurde unser Austausch von Fachkenntnis jäh unterbrochen, weil Kundschaft in Form eines Späthippies den heiligen Leinwandladen betrat. Jetzt, da zwei Kenner unter sich, war es Zeit für mich, meinen Rundgang fortzusetzen. „Man Bruder, war echt cool. Aber ick muss, wa!“

„Was muss, das muss! Na dann, bis zur nächsten Ernte.“

„Schnittlauch, wa?“

„Mir kommt nix anderes in die Pfeife.“

Der Späthippie hob unsicher fragend seinen Zeigefinger. Wie er ihm das erklären wollte, wollte ich mir nicht mehr antun, auch wenn es bestimmt interessant gewesen, war ich schon zwei Zelte weiter.

Vorbei an selbstgedrechseltem Holzspielzeug heimelicher Hinterhofwerkstätten Südsachsens (man hätte keinen besseren Standort wählen können), welchem sich eine moderne Zelt-Hexe mit traditioneller Glaskugel, über welcher ein eigenwilliges Pendel schwebte, anschloss. Rechts dieses Utensils ein Weihnachtsteller mit etwas abwegigem Belag, bestückt mit ein paar Würfeln, in welche das runische ABC graviert, seltsam verbrannten Federn, Knochen von Ratten, dem Schädel einer Krähe, zwei größeren Eierschalenhälften, aus deren Inhalt von Mausespeck geformte, blutunterlaufene Augen herausklotzten, sodass man diese Gesamtpräsentation, dank eingebläuter Höflichkeit, freundlich grüßte. Auf der linken Hälfte der zu groß geratenen Christbaumkugel, befand sich ein schwarzer Drache. Schon wieder so ein kurioses Getier, nur dass anstatt des Teelichtes, wie bei seinem Vorgänger im Kreolenzelt, jener sich auf zwei stinkende Räucherstäbchen stützte und ihm der aufgeklappte Blätterwald von Tarot zu Klauen lag. Unzufrieden flackerte im Rücken dieses anhaltinischen Versuchsmediums vor weinrotem Samt in mattgelbem Neon „Deine Zukunft aus meiner Hand“ – ein Druckfehler, wie ich meinen möchte. Ich konnte nicht anders, ich las laut: „Deine Zukunft aus meiner Hand. Ist da nicht was verkorkst? Wär’ nicht deine Zukunft dann meine Zukunft? Und meine Hand nicht deine Hand?“

„Klugscheißer“, erschrak sie mich und sprang hinter ihrem Tresen hervor, um nach meiner Rechten zu greifen: „Jetzt ist deine Hand, also deine Zukunft, in meiner Hand. Kurzum: Deine Zukunft, aus meiner Hand!“

Verdutzt zog ich meine Hand zurück: „Ist das nicht Quatsch?“

„Quatsch? Das ist sicher!“

„Ich kenn meine Zukunft auch so.“

„Ach?“, sah sie mich hinterhältig grinsend an. „Naja, also … äh, ja also ich denke das, ich esse nachher noch ’ne Bratwurst.“

„Ne Bratwurst, aha!“

„Na nich, oder doch?“, kamen mir Zweifel, wie sie mich so durch ihr Kassengestell süffisantierte: „Und das wär dann deine Zukunft? ’Ne Bratwurst!“ Ich erweiterte um ein Brötchen mit Senf. Wieder sah sie mich spöttelnd an.

„Was ist jetzt?“, wollte ich schon wissen.

„Bei dem Senf geh ich noch mit.“

„Aber?“

„Aber mit dem Brötchen seh ich schwarz.“

„So schwarz wird das Brötchen schon nicht sein?“

„Es geht nicht um die Farbe, es geht um dessen Existenz.“

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Ein Brööhtchän“, versuchte ich es noch einmal in verbaler Slomogen. Es ist mir schon klar, dass so’n Brötchen nicht das ewige Leben hat. Auf was hab ich mich da nur eingelassen?

„Ich hab dich schon verstanden. Nur, das mit dem Brötchen hängt von deiner Geschwindigkeit ab.“

„Jetzt ist es aber gut“, winkte ich ab: „Habt ihr hier Rennsemmeln?“