Odessa-Komplott

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Odessa-Komplott
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Uwe Klausner

Odessa-Komplott

Tom Sydows zweiter Fall

Zum Buch

TÖDLICHE SEILSCHAFTEN Berlin, 31. August 1948. Die verstümmelte Leiche einer Stadtstreicherin wird in der Nähe des Lehrter Bahnhofs gefunden. Nichts Besonderes im Berlin der Nachkriegszeit und so glaubt Hauptkommissar Tom Sydow zunächst an einen Routinefall. Die Obduktion des Leichnams und die Überprüfung der Behausung der Toten überzeugen ihn jedoch rasch vom Gegenteil. Das Auffällige daran: Die Frau hatte Zeitungsausschnitte gesammelt, die sich samt und sonders mit Paul Mertens, einem stadtbekannten Kriegsgewinnler, Schieber und Spekulanten, beschäftigen. Die Ermittlungen kommen nur schleppend in Gang. Doch dann wird der Mann mit „besten Verbindungen“ selbst Opfer eines Mordanschlags in seiner Nobelvilla am Wannsee. Um dem flüchtigen Täter auf die Spur zu kommen, muss Kommissar Sydow nicht lange suchen: Die Tätowierung unter der linken Achsel Mertens ist auffällig genug …

Uwe Klausner, Jahrgang 1956, hat Geschichte und Anglistik in Heidelberg studiert. Heute lebt er in Bad Mergentheim. Im Gmeiner-Verlag hat er bereits drei historische Kriminalromane um den Zisterziensermönch Hilpert von Maulbronn veröffentlicht. Im Frühjahr 2009 erschien mit „Walhalla-Code“ sein erster Roman in der zeitgenössischen Krimireihe des Verlags, der in „Odessa-Komplott“ seine Fortsetzung findet.

Impressum

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Katja Ernst / Katja Ernst, Sven Lang

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von GettyImages, Fotograf: Walter Sanders

ISBN 978-3-8392-3476-1

Widmung

Für die Männer und Frauen der Luftbrücke

und die betagte Dame Berlin-Tempelhof,

die man einfach ins Altersheim gesteckt hat.

Reale Hauptfiguren

Heinrich Himmler (1900–1945), Reichsführer-SS

Martin Bormann (1900–1945), Reichsleiter und Sekretär Hitlers

Wassili Danilowitsch Sokolowski (1897–1968), Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD)

Josef Stalin (1878–1953), sowjetischer Diktator

Lawrenti Berija (1899–1953), Geheimdienstchef der UdSSR

Harry S. Truman (1884–1972), Präsident der USA

James V. Forrestal (1892–1949), US-Verteidigungsminister

Lucius D. Clay (1897–1978), Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone und Befehlshaber der US-Landstreitkräfte in Europa, ›Vater der Luftbrücke‹ nach West-Berlin

Fiktive Hauptfiguren

Tom von Sydow, 35 Jahre, Hauptkommissar der Kripo Berlin

Nikolai Borodin, 21 Jahre, Überlebender des Massakers von Babi-Yar

Lilian Matuschek, 27, Stenotypistin

Juri Andrejewitsch Kuragin, 32, Major des MGB (russ. Ministerium für Innere Angelegenheiten)

Luise von Zitzewitz, 74, Toms Tante

Kurt Bechtel, 34, Polizeifotograf

Eduard Krokowski, 20, Kriminalassistent

Gladys McCoy, 28, Agentin des britischen MI6

Erwin Hattengruber, 48, Kriminalrat und Sydows Vorgesetzter

Hartmuth von der Tann, 43, Justizrat und Mitglied des Berliner Senats

Plakatanschlag vom 28.09.1941

›Sämtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September 1941, bis 8 Uhr an der Ecke der Melnik- und Dokteriwski-Straße (an den Friedhöfen) einzufinden. Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen.‹

Prolog

(Kiew/Ukraine, September 1941)

1

Kiew/Ukraine, Babi-Yar-Schlucht | 29.09.1941, 17.55 h

Am Tag, als das Morden begann, wurde Nikolai 15. Als es zu Ende ging, war er zum Greis geworden.

Und das binnen einer Viertelstunde.

Es war kalt an diesem Abend, und der Wind, welcher über das Brachland in der Nähe der Friedhofsmauer fegte, ließ Nikolai Borodin frösteln. Dies hier war ein unwirtlicher Ort. Kein Platz zum Verweilen. Der Vorhof des Todes. Wäre es nach ihm gegangen, hätten Vater und er sich aus dem Staub gemacht. Wie so viele, die der Aufruf vom Vortag in Furcht und Schrecken versetzt hatte. Doch Vaters Wille war nun einmal Gesetz. Und dagegen kam er mit seinen 15 Jahren nicht an.

Der dunkelhaarige, schlaksige und in sich gekehrte Junge schüttelte den Kopf, wischte seine Nickelbrille am Hemdsärmel ab und setzte sie umständlich wieder auf. Menschen, so weit das Auge reichte. Tausende, wenn nicht gar Zehntausende, die zum Sammelpunkt strömten. Nikolai erschauderte. Dies alles hier war so unwirklich, so beklemmend, dass einem der Atem stockte. Wäre Vater nicht gewesen, dem es gar nicht schnell genug gehen konnte, hätte er auf der Stelle das Weite gesucht.

Doch dazu war es längst zu spät. Unter den Argusaugen der Miliz, die sie mit Hohn überschüttete, reihten sich der 15-jährige Gymnasiast und sein Vater in die Warteschlange ein. Der Ton war rau, hasserfüllt, und die ukrainischen Handlanger der SS trieben sie zur Eile an.

Gepäck abgeben – weiter.

Mäntel aus – weiter.

»Schuhe ausziehen – auf geht’s, Judenbastard, sonst mach ich dir Beine! Hosen runter – oder hörst du schlecht?«

Nikolai sah sich Hilfe suchend um. Und hielt entsetzt den Atem an.

Sein Vater wehrte sich. Und nicht nur das. Er gab dem Milizi­onär Kontra. Der wiederum, ein stiernackiger Schlägertyp, schien nur darauf gewartet zu haben, zückte den Gummiknüppel und drosch auf den 53-jährigen Rabbiner ein.

Nikolai war wie erstarrt. Er konnte es einfach nicht glauben. Niemand rührte einen Finger. Das konnte, das durfte einfach nicht sein. Obwohl seine Leidensgenossen Tausende und die Milizionäre lediglich Dutzende zählten, war Jitzchak Borodin, Rabbiner der Hyzalka-Synagoge, der Wut seiner Peiniger hilflos ausgeliefert.

Das galt auch für seinen Sohn. Denn in dem Moment, als er seinem Vater zu Hilfe eilen wollte, wurde Nikolai gepackt, zu Boden gerissen und getreten, dass ihm fast die Luft wegblieb.

Wie er es geschafft hatte, wieder auf die Beine zu kommen, wusste er hinterher nicht mehr. »Davai, davai!«, dröhnte es in seinen Ohren, und so rappelte sich Nikolai auf, tastete nach seiner Brille und stolperte davon. Wohin, war ihm anfangs gleichgültig, doch als er die Gewehr­salven hörte, die von den Wänden der nahen Schlucht widerhallten, traf es ihn wie der Blitz.

Nikolai Borodin, 15 Jahre, wohnhaft in der Schyljanska-­Straße, war ein aufgeweckter Junge. Und überdurchschnittlich intelligent. Und da dem so war, dämmerte ihm, was nun geschehen würde. Was ihn daran hinderte, sein Heil in der Flucht zu suchen, war allein die Tatsache, dass er sich ein derartiges Ausmaß an Barbarei nicht vorstellen konnte.

Das konnte, das durfte einfach nicht sein.

Nur Sekundenbruchteile später wurde er eines Besseren belehrt. »Keine Müdigkeit vorschützen!«, fuhr ihn die hohntriefende Stimme an, auf Deutsch, wie Nikolai feststellte. Doch der SS-Obersturmführer hatte sich den Falschen ausgesucht.

Nikolai blieb einfach stehen, setzte seine Brille auf und starrte den schwarz Uniformierten unverwandt an. Totenkopfmütze, SS-Runen, Pistole und eine Miene, aus der die personifizierte Niedertracht sprach – ein Mann zum Fürchten. Aber nicht für Nikolai. Er hatte nichts zu verlieren. Und so trat er gegenüber dem Uniformierten auch auf. »Warum tun Sie das?«, fragte er, während eine weitere Gewehrsalve durch die Schlucht hallte und sich mit dem Wehklagen seiner Landsleute, die an ihm vorbei in die Schlucht eskortiert wurden, vermischte.

Der SS-Obersturmführer stutzte, fing sich jedoch wieder und setzte ein Lächeln auf, das den passionierten Sadisten verriet. »Ein ukrainischer Untermensch, der Deutsch spricht!«, spottete er und zündete sich eine Zigarette an. »Welch eine Überraschung.«

»Zu Ihrer Information – meine Mutter ist Deutsche.«

»Rassenschande, aha.«

»Auch dann, wenn meine Eltern 1920 geheiratet haben?«

Wenn Nikolai gehofft hatte, der SS-Mann würde zur Pistole greifen, sah er sich getäuscht. Die Wolfsaugen unter den wie Unkraut sprießenden Brauen blitzten kurz auf, das war alles. Für den Moment jedenfalls. »Gerade dann, Hurenbankert, gerade dann!«, knurrte der SS-Mann, während er seinen Schulterriemen zurechtzurrte, die Zigarette austrat und so tat, als sei nichts gewesen. Danach zeigte er auf seine Schulterklappen. »Hast du überhaupt einen Schimmer, mit wem du es hier zu tun hast?«

»Mit einem Obersturmführer der SS«, antwortete Nikolai mit Blick auf die Schulterklappen der tadellos sitzenden Uniform.

 

»Und was will uns das sagen, Untermensch?«

Nikolai stöhnte innerlich auf. Herr, mach ein Ende, flog es ihm durch den Sinn.

Als könne er Gedanken lesen, packte ihn der Obersturmführer am Kragen, schlug ihm ins Gesicht und rammte ihm das Knie in die Magengrube. Mit Blut­geschmack im Mund brach Nikolai zusammen. Um ihn herum nichts als schemenhafte Gestalten, Gespenster im Laufschritt, die Hände hinter dem Kopf. »Meine Brille, meine Brille!«, ächzte Nikolai, während ihm Blut aus Mundwinkeln und Nase rann. Sein Kiefer tat höllisch weh, und obwohl er hart im Nehmen war, wurde ihm speiübel. »Wo in Gottes Namen ist meine …«

Die Antwort auf seine Frage, durch eine weitere Gewehrsalve untermalt, ließ nicht lange auf sich warten. »Da hast du deine Brille«, hörte er die Stimme des Obersturmführers sagen, während er auf allen vieren im Staub herumkroch. Kaum war sie verklungen, nahm er dieses Geräusch wahr. Ein Knacken, begleitet von splitterndem Glas. Ein Laut, der keinerlei Zweifel mehr offenließ. »Und gute Reise.«

Viel Muße, über diese drei Worte nachzugrübeln, blieb Nikolai nicht. Was nun geschah, lief wie im Zeitraffer ab, mit rasender, unwiderstehlicher Geschwindigkeit. Zuerst war da der Arm, der ihn emporriss und den Serpentinenweg in die Schlucht hinunterschleifte. Er gehörte zu einem hinkenden SS-Mann, der Nikolai wie ein Stück Vieh traktierte. Und dann weitere Gewehrsalven, gellende Schreie, inständiges Flehen. Kommandorufe, Flüche und jede Menge Fußtritte. Auch und gerade in seinem, Nikolai Borodins, Fall.

In Gedanken immer noch bei seiner Brille, taumelte der 15-Jährige voran. Weder imstande, etwas zu erkennen, noch dazu, etwas zu fühlen oder zu sagen. Außerstande, die Welt, seine Peiniger oder seine Glaubensbrüder, die sich widerstandslos zur Schlachtbank treiben ließen, zu verstehen.

Außerstande, überhaupt etwas zu verstehen.

Keine fünf Minuten später, am Rande der frisch ausgehobenen Grube, aus der noch vereinzeltes Wimmern drang, hatte es Nikolai Borodin geschafft. Sein Weg schien beendet, und das in nicht einmal 15 Minuten. Was fehlte, war ein Kommandoruf, eine Gewehrsalve und die immerwährende Dunkelheit, die auf das Krachen der Karabiner folgen würde.

Die Hände auf die Oberschenkel gepresst, kniete Nikolai am Boden, auf den Lippen ein Gebet, das Vater ihn gelehrt hatte. Wieso er auf die Idee kam, sich einfach in die Grube fallen zu lassen, wusste er hinterher nicht mehr, aber immerhin kam sie, und dann auch noch zur rechten Zeit.

Nämlich Sekundenbruchteile, bevor das Erschießungskommando auf die am Boden knienden Männer, Frauen und Kinder feuerte.

Und auf einen Greis namens Nikolai Borodin.

Wenig später, als sich der Obersturmführer über die Grube beugte, um sich von der Effektivität des Erschießungskommandos zu überzeugen, war der

15-Jährige unter einem Berg von Leichen begraben. Doch er blieb verschont. Zum einen, weil die Henker des Mordens für heute überdrüssig waren und es nicht für nötig hielten, ihre Opfer mit mehr als nur einer hauchdünnen Schicht Sand zu bedecken. Und zum anderen, weil er ein Bild zu fassen bekam, das aus der Brusttasche des Obersturmführers gerutscht war.

Glück im Unglück sozusagen.

Doch das sollte Nikolai Borodin, wohnhaft in der Schyljanska-Straße, erst viel später bewusst werden. Für den Augenblick, der ihm länger als ein Jahrhundert vorkam, hatte er genug damit zu tun, sich tot zu stellen, die Dunkelheit abzuwarten und in ihrem Schutz das Weite zu suchen.

Hermann Löns: Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik.

›Da, wo der Dietweg die Heerstraße schnitt, standen etliche hohe Birken beieinander. Fünf Männer und zwei Frauen hingen daran. Über jedem war eine aufrecht­stehende Wolfsangel in die Rinde gehauen, und der älteste Mann, ein Kerl mit einem schwarzen Bart, hatte ein Brett zwischen die Hände gebunden; mit Rötel waren darauf folgende Worte geschrieben:

Wir sind Unser 3 Mal Elve

und nennen uns die Wölwe

und geben auf jedweden Acht

der Lange finger macht.‹

ZITADELLE

(London, März 1945 / Berlin, April 1945 / Lüneburg, Mai 1945)

2

Aus den Akten der GESTAPO | Mittwoch, 10. Juni 1942

Eilt sehr!

AZ: Sy/1942/6/46185

Name des steckbrieflich Gesuchten: Thomas R. von Sydow

Derzeitiger Aufenthaltsort: unbekannt, vermutlich London

Alter: 29

Geburtsort und -datum: Berlin, 13.3.1913

Beruf: Kriminalhauptkommissar

Körpergröße: 1,88 Meter, athletische Figur

Haarfarbe: rotblond

Augen: hellblau

Bes. Kennzeichen: nachlässige Kleidung, bisweilen ungepflegt

Bemerkungen: Wegen Hoch- und Landesverrats, Mordes in mehreren Fällen und Unterstützung der ebenfalls flüchtigen Jüdin Rebecca Kahn wird für die Ergreifung bzw. Liquidierung des Gesuchten eine Belohnung von 10.000 Reichsmark ausgesetzt.

Berlin, den 10.6.1942

Strattmann, SS-Obersturmführer

3

London-Stepney, Vallance Road | 27.03.1945, 07.15 h

»Ich liebe dich, Tom.« Zwischen dem Kuss, mit dem Rebecca ihn weckte, und dem Einschlag der V2-Rakete lagen exakt fünf Minuten.

300 Sekunden, an die er sich sein Lebtag lang erinnern würde.

Der Wecker, das warme Bett und eine geballte Portion Müdigkeit. Alles so wie immer. Und auch wieder nicht. Dieser Dienstag nämlich sollte kein Tag wie jeder andere werden.

Sondern etwas ganz Besonderes.

Der Grund, weshalb Rebecca es im Bett nicht mehr aushielt, sich anzog und Kaffee machte. Fünf Minuten Galgenfrist, wenigstens das. Danach würde es kein Pardon mehr geben. Raus aus den Federn, rein in den Anzug und rüber in die Küche, wo es bereits nach Eiern, Speck und Kaffee roch. Und dann nichts wie ab aufs Standesamt. Wenigstens heute, am Tag seiner Hochzeit, würde Scotland Yard ohne ihn auskommen müssen.

Dass er nie wieder dort arbeiten würde, konnte der 32-jährige Berliner freilich nicht ahnen.

Der Tod kam lautlos, mit einer Geschwindigkeit von 5.000 km/h. Um London zu erreichen, brauchte die V2 gut fünf Minuten, unsichtbar für das britische Radar. Sie trug eine Tonne Sprengstoff mit sich, genug, um das Mietshaus, in das sie einschlagen würde, in Schutt und Asche zu legen. Es war ein Gegner, gegen den die 134 Opfer, die der letzte Raketenangriff auf London fordern sollte, absolut machtlos waren. Niemand, auch nicht Tom Sydow, konnte etwas dagegen tun.

Das Letzte, woran er sich erinnerte, war das Lied, das Rebecca vor sich hinsummte. Es war ein Klezmer-Lied, in Hebräisch, voller Wehmut und Melancholie. Im Verlauf der drei Jahre, die sie beide in London verbracht hatten, war es so etwas wie sein Lieblingslied geworden, obwohl er keine einzige Silbe verstand. Sydow setzte sich schlaftrunken auf, und als wäre dies ein Zeichen, flogen die letzten drei Jahre im Zeitraffer an ihm vorbei. Das Zerwürfnis mit seiner Familie, die Arbeit bei der Berliner Kripo und der letzte Fall, bei dem es ihm beinahe an den Kragen gegangen war. Das Wiedersehen mit Rebecca und die Entdeckung des Protokolls von Heydrichs Wannsee-Konferenz, das sie aus Deutschland hinausgeschmuggelt hatten. Eine Geschichte, die genauso gut hätte schiefgehen können. Und die letzten zweieinhalb Jahre, die zu den glücklichsten seines Lebens zählten. Jahre, die er um nichts in der Welt hätte missen wollen. Was machte es da schon aus, dass er und Rebecca kaum etwas zu beißen hatten. Hauptsache, sie waren zusammen. Und der Krieg, dessen Ende er buchstäblich herbeisehnte, wäre möglichst schnell vorbei.

Zwanzig nach Sieben. Und lausig kalt. Mit einem Wort: England pur. Die Handfläche auf der Bettkante, rappelte sich Sydow auf. Die Aussicht auf Kaffee und vor allem die Umarmung der Frau, ohne die er nicht mehr leben konnte, wirkten wie ein Aufputschmittel.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

Alles, woran er sich später erinnern konnte, waren diese fünf Minuten gewesen. Die Zeit zwischen Himmel und Hölle, zwischen Traum und Tag. Der bläulich-grelle Blitz, die ohrenbetäubende Detonation, die herumfliegenden Trümmer, Holzsplitter und Gesteinsbrocken – kein Gedanke daran, nicht einmal die Andeutung davon. Von dem Moment an, als die V2 den Wohnblock an der Vallance Road in Sekundenbruchteilen zu Staub pulverisierte, war die Erinnerung wie ausgelöscht für ihn. Was blieb, war der Abgrund, in den er hinabgeschleudert wurde, schier endlos, dunkel und ohne Aussicht auf Wiederkehr.

Als er die Augen aufschlug, dachte Sydow, es sei alles vorbei. Von dem, was passiert war, hatte er keine Ahnung, und er kam auch nicht dazu, darüber nachzugrübeln. Der Steinbrocken auf seinem Brustkorb schnürte ihm den Atem ab, die stickige, von Schwelbränden und dem Gestank von ausströmendem Gas durchtränkte Luft tat ein Übriges. Das muss die Hölle sein!, durchfuhr es ihn, und als ihm dämmerte, worin die Ursache für all das hier lag, wollte Thomas Randolph von Sydow schreien. Doch der Schrei, der Name, der ihm auf der Zunge lag, kam ihm nicht über die Lippen. Zu schwer wog der Stein, zu schwer die Erkenntnis, die ihn in diesem Moment beschlich. Sydow rang verzweifelt nach Luft. Nein!, durchzuckte es ihn jäh. Dies hier ist nicht die Hölle. Dies hier ist der Krieg, schlimmer als sämtliche Höllenvisionen dieser Welt zusammen.

*

Bis sich der Bergungstrupp zu ihm vorgekämpft hatte, waren volle drei Stunden vergangen. Am Anfang war da nur dieses Klopfgeräusch gewesen, das Heulen von Sirenen, vereinzeltes, wie aus weiter Ferne an sein Ohr dringendes Rufen. Mit jeder Minute, die er inmitten der Trümmer ausharrte, kam es jedoch näher. Nicht lange, und er war imstande, einzelne Stimmen zu unterscheiden, was die Erkenntnis, Opfer eines Raketenangriffes geworden zu sein, immer wahrscheinlicher machte.

Von der Befürchtung, die seine Überlebensinstinkte beinahe zunichte gemacht hätte, nicht zu reden.

Doch dann, im Angesicht des Todes, dessen Hand er bereits an der Kehle spürte, war es vorüber. Licht. Gleißend helles, die Dunkelheit durchbrechendes Licht. Und ein Arm, der sich vom Himmel auf ihn herabsenkte.

Doch die Freude über die Rettung, die ihm zuteilgeworden war, blieb aus. Und nicht nur das. Kaum hatten ihn die Feuerwehrleute geborgen, fiel sein Blick auf eine Hand, die unweit von ihm aus dem Schutthaufen ragte. Schlank, feingliedrig und cremefarben. Eine Hand mit einem Verlobungsring: Rebeccas Hand.

Jetzt erst, als ihn der Schmerz wie eine Stahlklinge durchbohrte, brachte es Tom Sydow fertig, zu schreien.

So laut, dass jedes Geräusch ringsum erstarb.

4

Berlin-Mitte, Neue Reichskanzlei | 20.04.1945, 19.30 h

Der Tag, an dem Heinrich Himmler seinen Führer zum letzten Mal sah, war der vierte Tag mit schönem Wetter in Folge. Und zugleich dessen Geburtstag. Für den Reichsführer-SS die Krönung eines rabenschwarzen Tages. Am Vormittag hatte es einen der schwersten Bombenangriffe des gesamten Krieges gegeben, und jetzt, wo es ans Eingemachte ging, kam die Nachricht, die Rote Armee habe die Vororte bereits erreicht. Deutlicher hätte sich der herannahende Untergang nicht ankündigen können.

Doch Heinrich Himmler, 44 Jahre, nur 1,71 Meter groß und kurzsichtig, hatte vorgesorgt. Er hatte einen Trumpf im Ärmel. Einen, von dem er glaubte, dass er stechen würde. Dass er stechen musste. So mir nichts, dir nichts abtreten, kam für den Herrn über die KZs, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte, nicht infrage. Dazu war sein Überlebenswille viel zu groß. Und seine Skrupellosigkeit, von der er einmal mehr Gebrauch zu machen gedachte.

Er würde retten, was zu retten war, sich den Alliierten als Mittelsmann andienen. Am Vorabend, an dem er mit Champagner auf den Führer angestoßen hatte, war der erste Schritt dazu getan worden. Und weitere würden zweifelsohne folgen. Immerhin, so sein Kalkül, waren Zehntausende von Juden immer noch in seiner Hand. Ein Pfund, mit dem sich wuchern ließ. Und das sich bestens dazu eignete, als generös und kompromissbereit dazustehen. Das heißt, falls die Alliierten mitspielen würden. Aber daran hegte Heinrich Himmler keinen Zweifel.

»Zeit, sich auf die Socken zu machen, was, Reichsführer?« Im Begriff, in seine gepanzerte Limousine Marke Mercedes Benz W 150 mit dem Nummerschild ›SS-1‹ zu steigen, blieb Himmler unverrichteter Dinge stehen. Nicht etwa, weil er übermäßig viel Zeit gehabt hätte, sondern weil er den Spott, der in der Stimme hinter ihm mitschwang, nicht so einfach auf sich sitzen lassen wollte. »Wer weiß, vielleicht schnappt die Falle ja schon in ein paar Stunden zu.«

 

»Zu Ihrer Information, Bormann –«, fuhr Himmler den stiernackigen, ihm in puncto Skrupellosigkeit zumindest ebenbürtigen Privatsekretär Hitlers an, »dies hier ist keine Flucht, sondern der Versuch, die Sache des Führers bis zum letzten Atemzug …«

»Und wozu dann die Eile?«, warf Bormann höhnisch ein, gänzlich unbeeindruckt von dem Höllenlärm, den der sowjetische Granathagel, die Kanonen der T-44-Panzer und die Stalinorgeln verursachten. »Sie wissen doch: Beim Endkampf um Berlin ist der Führer auf jeden Mann angewiesen.«

Himmler nahm seine Brille ab, rieb sie am Ärmel seines Ledermantels und setzte sie wieder auf. Dieser Bormann mit seiner vulgären Visage war ihm schon immer suspekt gewesen. Am heutigen Tage mehr denn je. »Mag sein«, gab er gelassen zurück, während sein Adjutant zum wiederholten Male auf die Uhr schaute. »Aber jeder ist doch am besten dort aufgehoben, wo er für die Sache des Führers am nützlichsten ist.«

»Oder die eigene«, kommentierte Bormann süffisant, ohne Himmler auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Und fügte hinzu: »Je nachdem.«

»Was soll das heißen?«, giftete Himmler und warf dem mit Hakenkreuzbinde und Parteiuniform bekleideten Reichsleiter wütende Blicke zu. »Schon mal davon gehört, dass mich der Führer den getreuen Heinrich genannt hat?«

»Umso wichtiger, Ihre Treue zum Führer einmal mehr unter Beweis zu stellen.«

»Und wie?«

»Indem Sie mir das da aushändigen«, ließ die Antwort von Hitlers Privatsekretär nicht lange auf sich warten, während er den Blick wie zufällig auf Himmlers Aktentasche richtete. »Damit nur ja nichts in falsche Hände gerät.«

Himmlers Griff um die Tasche verstärkte sich, und die Zornesader an seinem Hals schwoll an. Doch bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, kam ihm Hitlers braune Eminenz zuvor. »Befehl des Führers!«, schnarrte er, ohne sich an der erbosten Miene des Reichsführers im Geringsten zu stören. »Keinerlei Akten von Brisanz mehr hinaus aus der Reichskanzlei. Ab sofort.«

Wäre unweit der Reichskanzlei nicht gerade eine Katjuscha-Rakete detoniert, hätte Himmler seinem Kontrahenten vermutlich einen Fausthieb verpasst. »Haben Sie den Verstand verloren, Mann!«, brüllte er über das Krachen, Heulen und die dumpfen Detonationen hinweg, die mit jeder Minute näherkamen, in der er sich mit dem größten Speichellecker weit und breit herumschlagen musste. »Und überhaupt: Was glauben Sie eigentlich, wen Sie hier vor sich haben?«

Martin Bormann, ebenfalls 44, Reichsleiter und Sekretär des Führers, gab sich keine Mühe, mit seiner Antipathie hinterm Berg zu halten. »Einen, der den Führer in der Stunde der höchsten Not seinem Schicksal überlässt. Um es dezent auszudrücken.«

»Vorsicht, Bormann. Sie spielen mit dem Feuer.«

»Wenn das hier einer tut, dann Sie. Was glauben Sie, würde der Führer dazu sagen, wenn er erfährt, dass Sie sich gestern Abend mit einem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses getroffen haben? Um quasi in allerletzter Minute noch ein bisschen auf lieb Kind zu machen. Mal ehrlich, Himmler: Glauben Sie wirklich, mit so was könnten Sie Ihren Kopf noch aus der Schlinge ziehen?«

Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Befehlshaber des Ersatzheeres und Innenminister des Deutschen Reiches, blieb die Luft weg. Derartiges war ihm schon lange nicht mehr untergekommen.

Und eine solche Unverfrorenheit auch nicht.

Wo hatte dieser Zuchtbulle bloß seine Informationen her?

»Ins Schwarze getroffen, stimmt’s?«, spöttelte Bormann, während Himmlers Adjutant den Motor demonstrativ aufheulen ließ. »Wusste ich’s doch, dass wir uns verstehen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann, lieber Himmler, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Führer von Ihren – gelinde gesagt – Eskapaden in Kenntnis zu setzen.«

»Dafür werde ich Sie zur Verantwortung ziehen, Bormann.«

»Lieber nicht!«, erwiderte der Reichsleiter barsch und wippte auf den Absätzen hin und her. »Und jetzt die Aktentasche, und zwar schnell.«

Himmler riss den Mund auf, um Bormann nach allen Regeln der Kunst zusammenzustauchen. Doch daraus wurde nichts. Die Einschläge und Detonationen wurden immer heftiger und hallten wie ein vielfältiges Echo im Ehrenhof wider. Just in dem Moment, als Himmler seinem Jähzorn Luft machen wollte, schlug in unmittelbarer Nähe eine Granate ein. Der Reichsadler über dem Eingang löste sich aus seiner Verankerung und zerbarst mit lautem Krachen auf den Stufen.

»Die Aktentasche, Reichsführer«, wiederholte der Reichsleiter mit tonloser Stimme, während sich Himmler von den Trümmerteilen, dem gespenstisch erleuchteten Hof und dem mit Einschusslöchern übersäten Portal nicht losreißen konnte. »Oder wollen Sie es tatsächlich darauf ankommen lassen?« Nein, das wollte der mit Abstand meistgefürchtete Scherge des NS-Regimes nicht. Er wollte nur eines: Überleben. Raus hier. Solange noch eine Chance bestand.

Und so konnte sich Martin Bormann, Hitlers braune Eminenz, jeden weiteren Kommentar sparen. Gerade einmal eine Viertelminute sollte vergehen, bis Himmler ihm seine Beute überlassen und sich auf den Rücksitz geworfen hatte, um anschließend mit quietschenden Reifen Richtung Wilhelmplatz zu verschwinden.

Martin Bormann hingegen nahm sich Zeit. Wieder zurück im Bunker, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, warf die Aktentasche auf den Tisch und schloss hinter sich ab. Pech gehabt!, schoss es ihm durch den Kopf, als er den Inhalt der Mappe genauer unter die Lupe nahm. Depeschen, Notizen und jede Menge Krimskrams. Schon komisch, was dieser Brillen-Heini so alles mit sich rumschleppte. Von konspirativem Material keine Spur. Bormann fluchte. Mit einer derartigen Ausbeute brauchte er bei Hitler gar nicht erst aufzukreuzen.

Doch dann, als er den Inhalt von Himmlers Tasche sorgsam durchforstet hatte, fiel Bormanns Blick auf die Seitentasche, aus der die Ecke einer schwarzen Ledermappe herausragte. Bormanns Miene hellte sich auf, und sein Jähzorn verflog im Nu.

Im fahlen Licht der Lampe, die der Detonationen wegen immer heftiger hin und her schaukelte, muteten die SS-Runen auf dem Einband wie ein Menetekel an, und Bormann musste sich überwinden, die Mappe aufzuklappen. Doch er wäre nicht der gewesen, für den man ihn hielt, hätte er dieser Versuchung widerstehen können.

Er sollte es nicht bereuen.

Die Akte mit der Aufschrift ›Gruppe W 45‹, das erste einer Reihe streng geheimer Dokumente, war ein wahrer Schatz, und während Bormann sie in seinem Schreibtisch verschwinden ließ, brach ein Lachen aus seinem Mund hervor.

Es sollte ihm jedoch vergehen.

Schneller, als er es sich hatte vorstellen können.