Odessa-Komplott

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

8

Jagdschloss Grunewald, britischer Sektor | 03.45 h

»Melde gehorsamst – Befehl ausgeführt!«, bellte der Zweimetermann, der trotz der morgendlichen Kühle nur ein Unterhemd, Khakihosen und Wehrmachtsstiefel trug. Im Dritten Reich war er bei der Waffen-SS gewesen, und das merkte man ihm auch an. Bürstenschnitt, markantes Kinn, Schmiss und muskulös – ein nordischer Recke wie aus dem Bilderbuch.

Einer von der ganz harten Sorte.

»Und die bolschewistischen Untermenschen?«, fragte der mittlere der drei Maskierten, denen der SS-Hüne Meldung gemacht hatte. »Was ist mit denen?«

»Liquidiert.«

»Überlebende?«

»Keine.«

»Gut gemacht, Kamerad Maschke. Wegtreten.«

Der Zweimetermann, auf dessen Oberarm eine Wolfsangel4 eintätowiert war, schlug die Hacken zusammen und riss den Arm zum Hitlergruß empor. Dann gesellte er sich zu dem knappen Dutzend schwarz gekleideter Männer, die sich auf der Waldlichtung in der Nähe des Jagdschlosses Grunewald um ein Hakenkreuz aus Pechfackeln geschart hatten.

»Und was jetzt?«, fragte der zweite Maskierte, korpulent und mittelgroß. »Du glaubst doch nicht etwa, dass die Russen das auf sich sitzen lassen.«

»Wem es nicht passt, der kann ja aussteigen!«, schnauzte ihn der Dritte im Bunde, der dem Tätowierten höchstens bis zur Schulter reichte, wie einen Offiziersburschen an. »Hätte ich mir ja denken können, dass du kalte Füße …«

»Klappe halten – aber sofort!«, fuhr der mittlere der drei Maskierten dazwischen. Und fügte, an seinen Nachbarn zur Rechten gerichtet, hinzu: »Damit wir uns richtig verstehen, Nummer zwei – einen Weg zurück gibt es nicht. Jetzt nicht mehr. Die ›Operation Wotan‹ wird in Kürze anlaufen. Und niemand, nicht einmal du, wird es wagen, mir im allerletzten Moment noch in die Quere zu kommen. Haben wir uns verstanden, Kamerad?«

Der Angesprochene holte tief Luft, doch ging seine Antwort im Getriebelärm einer amerikanischen B-29 mit Kurs auf den Flughafen Tempelhof unter. »Scheiß Amis!«, presste er stattdessen hervor, worauf sich die Körperhaltung seines Gegenübers merklich entspannte. »Na also, warum denn nicht gleich«, konstatierte dieser zufrieden, bemüht, seiner Fistelstimme einen markigen Unterton zu verleihen. Mehr schlecht als recht, wie die hochgezogene Braue des Zweimetermannes bewies. »Falls irgendjemand unter euch noch Zweifel hegt, Kameraden: ›Operation Wotan‹ wird den gewünschten Effekt erzielen. Vorausgesetzt, ein jeder von uns tut seine Pflicht. Vom morgigen Tage an werden die Geschicke unseres Vaterlandes einen anderen Verlauf nehmen. Wir, die Gruppe Werwolf, dem Andenken des Führers in immerwährender Treue verbunden, werden weder rasten noch ruhen, in seinem Sinne zu wirken. Was bedeutet, dass der Plan, auf den wir uns festgelegt haben, unter allen Umständen in die Tat umgesetzt werden muss. Gelingt uns dies, wird die Herrschaft des Bolschewismus für immer beendet sein. Glaubt mir, Kameraden: Tritt der erwünschte Effekt der ›Operation Wotan‹ ein, werden die Amerikaner nicht umhin kommen, uns Deutsche wieder zu den Waffen zu rufen. Und dann, Kameraden, beginnt der Kreuzzug gegen den Bolschewismus, die jüdische Weltpest, deren Vernichtung wir uns mit Haut und Haaren verschrieben haben. Wie weiland der Führer, dem es versagt blieb, dass seine welthistorische Mission zu einem glücklichen Abschluss gelangte.« Keuchend vor Erregung, legte der Anführer des Kommandotrupps eine Pause ein. Kurz darauf fuhr er mit sich überschlagender Fistelstimme fort: »Liegt Sowjetrussland dank unserer Waffenhilfe erst am Boden, knöpfen wir uns die Amerikaner vor. Dekadent, wie diese nun einmal sind, werden sie nicht imstande sein, uns ernsthaft Paroli zu bieten. Schon gar nicht die Briten, auf dem besten Wege, ihr Empire für immer zu verlieren. Und darum, Kameraden, seid guten Mutes, dass unser darbendes, am Boden liegendes und auf das Widerwärtigste geschundenes Vaterland dereinst zu alter Macht und Größe emporsteigen wird. Mit eurer Hilfe, Kameraden der SS, wird dies nicht nur möglich, sondern vom morgigen Tage an Realität werden. Noch irgendwelche Fragen?«

Auf der einsamen Waldlichtung, über die soeben die nächste B-29 hinwegdonnerte, kehrte atemlose Stille ein. Herbstgeruch lag in der Luft, vermischt mit dem Rauch der Fackeln, von denen mehrere bereits erloschen waren.

»Sehr schön«, quäkte die Fistelstimme, nachdem der Maskierte einen Blick in die Runde geworfen hatte. »Somit wären wir uns ja wohl …«

»Aber das ist doch Wahnsinn, Kamerad.«

Dabei sich abzuwenden, fuhr der Anführer herum, presste die Hände gegen die Hüften und schlenderte auf den ausgezehrten Mittdreißiger in der Uniform eines SS-Panzergrenadiers zu. »Wie meinen?«, stieß er hervor und tat so, als habe er sich verhört. Sein Tonfall verriet jedoch das genaue Gegenteil. »Was hast du gerade eben gesagt, Grenadier?«

»Dass das, was Sie vorhaben, Wahnsinn ist, Kamerad.«

»So, ist es das.« Trotz der Maske, die der Anführer trug, war ihm sein Jähzorn deutlich anzumerken. Wie seine Begleiter aus Erfahrung wussten, würde eine Eruption nicht mehr lange auf sich warten lassen. »Hast du vielleicht eine bessere Idee, Grenadier?«

Der Angesprochene wandte den Kopf ab und schwieg.

»Aber ich.« Von dem Kopfnicken, das der Maskierte in Richtung des Zweimetermannes machte, bekam kaum einer der Umstehenden etwas mit. Von dem, was im Folgenden geschah, umso mehr. Dennoch rührten sie sich keinen Zentimeter von der Stelle.

Ohne erkennbare Emotionen löste sich der Hüne mit der Tätowierung aus dem Halbdunkel, trat hinter den

SS-Grenadier und presste ihm eine 9 mm Luger Parabellum ins Genick. Bevor dieser wusste, wie ihm geschah, hatte der Zweimetermann bereits abgedrückt. Die Augen weit aufgerissen, sackte sein Opfer zu Boden.

»Noch irgendwelche Fragen?«, wiederholte der Maskierte, als der SS-Grenadier sein Leben ausgehaucht hatte.

Keine Antwort.

»Dann können wir ja zur Tagesordnung übergehen«, fügte er nach einer Kunstpause hinzu, mit dem Zweck, seine Abgebrühtheit zu demonstrieren. »Frage: Uhrzeit?«

»Genau vier«, antwortete der Tätowierte, ein boshaftes Grinsen auf den bläulich schimmernden, von tiefliegenden Lidern überwölbten Augen. »Noch exakt 20 Stunden bis OP-Beginn.«

»Sehr schön. Noch Fragen?«

»Nein, Brigadeführer!«, hallte es dem Maskierten aus dem Kreis seiner Getreuen entgegen. Auf den Getöteten, aus dessen Schädel immer noch Blut sickerte, verschwendete niemand einen Blick.

»Dann also wie gehabt: Beginn von Kommandounternehmen Nummer eins um 10 Uhr, Nummer zwei um 14 Uhr und Nummer drei bei Einbruch der Dunkelheit. Für den Fall, dass sich die Amerikaner mit den Sowjets danach noch nicht im Kriegszustand befinden, erfolgt der Hauptschlag. Voraussichtlicher Beginn: 24 Uhr. Heil Hitler, Kameraden.«

»Heil Hitler, Brigadeführer!«

»Wegtreten.«

Während sich seine Gefolgsleute in Windeseile zerstreuten, wies der Maskierte den Zweimetermann an, den Leichnam zu beseitigen und wandte sich dem korpulenteren seiner beiden Begleiter zu. »Was ist eigentlich mit der dreckigen kleinen Salonnutte, die versucht hat, dich zu erpressen?«, fragte er, woraufhin sich dieser verlegen räusperte. »Ich hoffe, du hast getan, worum ich dich ersucht habe?«

Bevor sich die Nummer zwei der ›Gruppe W 45‹ eine Antwort zurechtgelegt hatte, war ihm der Tätowierte bereits zuvorgekommen. »Melde gehorsamst: Habe in gut einer Stunde ein kleines Tête-à-tête mit ihr arrangiert«, schnarrte er.

»Sehr schön!«, wiederholte der Anführer. »Noch Fragen?«

4 germanisches Runenzeichen

9

Berlin-Karlshorst, Sowjetische Militäradministration | 06.05 h

Ein Plauderstündchen beim Marschall. In aller Herrgottsfrühe. Das hatte sich Juri Andrejewitsch Kuragin, Major des MGB, schon immer gewünscht.

»Raus mit der Sprache, Kuragin – was führt Sie zu mir?«, gab sich Wassili Danilowitsch Sokolowski,

51-jähriger Sowjetmarschall und Oberkommandierender in Deutschland, betont jovial und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

Kuragin, knapp 20 Jahre jünger, sportlich, mit dunklem Teint und Oberlippenbart, tat sich mit einer Antwort schwer. »Schwer zu sagen, Wassili Danilowitsch«, druckste er herum. »Aber ich dachte mir, Sie sollten über das, was hier so vor sich geht, auf alle Fälle Bescheid …«

»Setzen Sie sich, mein Junge.« Sokolowski sortierte ein paar Akten, verschränkte die Hände und ließ sich in seinen gepolsterten Lehnsessel sinken. »Tee?«, fügte er mit Blick auf den Samowar hinzu, einzige Zierde in dem ansonsten schmucklosen Büro.

»Vielen Dank, Wassili Danilowitsch, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber erst mein Anliegen vorbringen«, antwortete der MGB-Offizier mit Blick auf das Stalin-Porträt, unter dem sein Vorgesetzter thronte. »Um Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr zu strapazieren.«

»Dann schießen Sie mal los, Kuragin«, forderte ihn Sokolowski auf, dessen goldene, mit einem fünfzackigen Stern verzierten Schulterklappen ihre Wirkung gewöhnlich nicht verfehlten. »Was führt Sie zu mir?«

»Eine Angelegenheit von großer Wichtigkeit.«

»Und die wäre?«

»Uniformen, Wassili Danilowitsch. Circa ein Dutzend Uniformen aus den Beständen der Sowjetarmee.«

»Uniformen?«, flachste Sokolowski und kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Nasenwurzel. »Wusste gar nicht, dass sich das MGB für die neueste Mode interessiert.«

»Bei allem schuldigen Respekt, Wassili Danilowitsch: Mir ist leider nicht zum Scherzen zumute.«

 

»Sondern?«

Kuragin rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Genosse Oberkommandierender: Laut Informationen des dafür zuständigen Unteroffiziers in Wünsdorf ist aus der dortigen Kleiderkammer rund ein Dutzend Uniformen entwendet worden. Wann genau, konnte er mir nicht sagen. Und auch nicht, von wem.«

Sokolowski seufzte gequält. »Und deswegen wollten Sie mich sprechen, Kuragin? Wegen einem Dutzend geklauter Uniformen? Kommen Sie schon, Major. Sie wissen doch selbst, wie es unseren Jungs da draußen geht. Um an Wodka, Machorka oder eine Stange Camel zu kommen, würden die doch das Allerheiligste ihrer Freundin verhökern. Kein Wunder, dass der Schwarzhandel blüht. Unter uns, Kuragin – ich kann’s ihnen nicht verdenken.«

»Ich auch nicht. Bei den paar lausigen Kopeken Sold.«

Sokolowski gab ein ungehaltenes Räuspern von sich. »Wo liegt dann das Problem?«

»Das Problem, Wassili Danilowitsch«, fügte Kuragin mit ernster Miene hinzu, »besteht darin, dass außer der Kleiderkammer anscheinend auch noch das Waffendepot dezimiert worden ist.«

Sokolowski schnellte nach vorn. »Dezimiert?«, stieß er entgeistert hervor.

»Ganz recht«, erwiderte Kuragin, runzelte die Stirn und fuhr durch das dichte schwarze Haar, dem er den Spitznamen der Kaukasier zu verdanken hatte. »Unter anderem auch …«

»Ein Dutzend Kalaschnikows?« Die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, war Sokolowski plötzlich ganz Ohr.

»Inklusive der etwa gleichen Anzahl an Tokarews, Modell SWT-40. Und jede Menge Pistolen vom Typ TT-33. Plus eine Kiste Sprengstoff. Bajonette und Handgranaten nicht zu vergessen.« Kuragin gab ein verlegenes Räuspern von sich. »Und dann noch eine nagelneue 2M-3.«

»Wie bitte – eine 2M-3?«

»Sie haben richtig gehört, Genosse Oberkommandierender.«

»Ganz schöner Flurschaden«, brummte Sokolowski vergrätzt. »Und wie erklären Sie sich das?«

Kuragin entfernte eine Staubfaser von seiner Uniform und zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen, Wassili Danilowitsch«, antwortete er. »Wie Sie bereits sagten: Es gibt Subjekte in unserer Armee, die würden für eine Stange Camel alles tun. Wenn es sein muss, sogar ihre Freundin auf den …«

»Ärgerlich ist die Sache allemal«, fiel Sokolowski dem MGB-Major rasch ins Wort. »Um nicht zu sagen suspekt. Fragt sich nur, wie derlei Saboteuren beziehungsweise kriminellen und antisowjetischen Elementen das Handwerk gelegt werden kann.«

Im Begriff, eine Antwort zu geben, wurde Kuragins Absicht durch das Läuten des Telefons durchkreuzt.

»Sokolowski – was gibt’s?« Im Büro an der Zwieseler Straße 4, Teil eines ehemaligen Offizierskasinos der Wehrmacht, kehrte schlagartig Ruhe ein. An der Miene, die der Sowjetmarschall machte, war zu erkennen, dass es sich um etwas Wichtiges handelte. Etwas, womit er nicht im Traum gerechnet hatte. Je mehr sich Sokolowskis Miene verfinsterte, umso tiefer wurden Kuragins Sorgenfalten, und der Geruch nach Bohnerwachs, Kautabak und Tee, der dem Büro anhaftete, begann dem MGB-Offizier auf den Magen zu schlagen.

»Nachrichtensperre, absolute Geheimhaltung und erhöhte Alarmbereitschaft – was denn sonst?«, bellte Sokolowski schließlich ins Telefon. »Das gibt’s doch nicht, dass vier Angehörige der Sowjetarmee einfach so verschwinden. Desertiert? Womöglich. Und wenn, werden wir es herauskriegen. Beziehungsweise das MGB. Wehe, die Amerikaner stecken dahinter, dann ist aber was los. Luftbrücke – wenn ich das Wort nur höre! Spätestens, wenn der Winter kommt, können die doch einpacken. Bilden sich ein, sie könnten uns Paroli bieten. Da haben die sich aber getäuscht. Und zwar gewaltig.« Sokolowski schäumte vor Wut. »Was? Na klar – Ausgehverbot für sämtliche Einheiten in und um Berlin. Weitere Befehle? Keine Sorge, Hauptmann, das werde ich Sie rechtzeitig wissen lassen. Ja, ja, schon gut. In Ordnung. Daswidanja.«5

»Schlechte Nachrichten?«

Sokolowski ließ einen Fluch vom Stapel, der mit zum Derbsten gehörte, was Kuragin in den vergangenen Jahren zu Ohren gekommen war, schüttelte den Kopf und starrte sekundenlang ins Leere. »Das werden Sie nicht glauben, Kuragin«, brach der Sowjetmarschall schließlich das Schweigen, krebsrot im Gesicht. »Ich frage mich, wie so etwas überhaupt möglich ist.«

»Was denn, Genosse Oberkommandierender?«

Sokolowski verkniff sich einen neuerlichen Fluch, griff nach dem Telefonhörer und erwiderte: »Sieht so aus, als bekämen Sie allerhand zu tun, mein Junge.« Und fügte beim Wählen hinzu: »So, und jetzt lassen Sie mich mal kurz allein, Herr Major. Wenn Stalin mich zur Schnecke macht, braucht das keiner mitzukriegen.«

5 dt.: auf Wiedersehen

10

Berlin-Wilmersdorf, britischer Sektor | 09.00 h

»Hier ist RIAS Berlin. Eine freie Stimme der freien Welt. Zu Beginn die Nachrichten. Berlin. Aus noch ungeklärter Ursache sind in der vergangenen Nacht am Grenzübergang Glienicker Brücke zwei amerikanische GIs …«

»Meinetwegen.« Ohne richtig hinzuhören, schaltete Tom Sydow, 35-jähriger Kriminalhauptkommissar, das Radio aus, faltete den Tagesspiegel zusammen und sah durch das Wohnzimmerfenster der in die Jahre gekommenen Villa auf die Koenigsallee hinaus. Er hatte schlecht geschlafen, und er kannte auch den Grund. Es war die Vergangenheit gewesen, die ihn wieder einmal eingeholt hatte. Allen Bemühungen, aus ihrem Schatten zu treten, zum Trotz.

Und so tat der hoch aufgeschossene, breitschultrige und eine Spur zu blasse Berliner mit der rotblonden Mähne genau das, was er bereits Hunderte Male getan hatte. Er rieb die übernächtigten, von dunklen Rändern überschatteten Augen, trat an die bernsteinfarbene Louis-quinze-Kommode und nahm das Porträt zur Hand, das ihn zusammen mit seiner Verlobten Rebecca zeigte. Und wie all die Male zuvor fragte er sich, wann genau das Bild aufgenommen worden war. Die Antwort stand von vornherein fest. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es irgendwann im Winter 1944/45 gewesen sein musste. Kurz bevor die V2 eingeschlagen und das Leben der Frau, ohne die sein Leben nur die Hälfte wert war, in Sekundenbruchteilen ausgelöscht hatte.

»Kopf hoch, mein Junge – wird schon werden.« In den Augen ihrer Mitmenschen war Luise von Zitzewitz, geborene von Sydow und Toms Tante, eine eher spröde Frau. Am heutigen Tage war das jedoch anders. Da klang ihre rauchige Stimme ausgesprochen besorgt.

»Das sagt sich so leicht, Tante Lu«, erwiderte Sydow und stellte das Bild wieder auf die Kommode zurück. »Aber …«

»Kein Aber, mein Junge«, erstickte die resolute Hausherrin mit dem rollenden R die Einwände ihres Neffen bereits im Keim. »Es hat einfach keinen Zweck, dass du dich in deinem Kummer vergräbst. Wie lange ist das eigentlich her?«

»Drei Jahre, fünf Monate und vier Tage.«

»So furchtbar es klingt, Tom: Das Leben muss weiter­gehen.«

»Mag sein, dass du recht hast, Tante Lu«, erwiderte Sydow, knöpfte sein Hemd zu und begab sich zur Tür. »Trotzdem kann ich nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.«

»Sollst du auch nicht, mein Junge«, erwiderte die Hausherrin in ungewohnt zärtlichem Ton. »Vor allem dann, wenn du keinen Bissen zu dir genommen hast. Mit leerem Magen zum Dienst – wo kämen wir da hin!«

Die Hand auf der Klinke, drehte sich Sydow lächelnd um. Gegen den 74-jährigen Adele Sandrock6-Verschnitt kam er nicht an. Und wollte es auch nicht.

»Setz dich, mein Junge. So viel Zeit muss sein.«

»Und wenn ich keinen Hunger habe?«

»Ein Mann in den besten Jahren und kein Hunger – dass ich nicht lache«, duldete Luise von Zitzewitz keinen Widerspruch, hakte sich bei Sydow unter und dirigierte ihn zum Tisch. »Ausgehungert ins Präsidium – kommt nicht infrage.« Um Zweifel an ihrer Entschlossenheit erst gar nicht aufkommen zu lassen, ließ die ehemalige pommersche Rittergutsbesitzerin mit ihrem Gehstock den Parkettboden erzittern, gab ein indigniertes Schnauben von sich und verschwand.

Schachmatt. Sydow lächelte wehmütig in sich hinein und ließ den Blick durch Tante Lus gute Stube schweifen. Perser, Buffet aus Mahagoni, Standuhr und Rokoko-Kommode – wie sie es geschafft hatte, den Plunder in Sicherheit zu bringen, war ihm ein Rätsel. Rein äußerlich jedenfalls schien die Zeit in Tante Lus guter Stube kaum Spuren hinterlassen zu haben, und wie Sydow überrascht feststellte, fühlte er sich eigentlich ganz wohl bei ihr. In London, wo ihm die Erinnerung noch mehr zugesetzt hatte als hier, hatte er es nicht mehr ausgehalten, und so war er heilfroh, bei Tante Lu eine Bleibe gefunden zu haben. Na ja, das mit dem Hindenburg-Porträt über der Chaiselongue war zwar nicht gerade das Gelbe vom Ei. Ernst Reuter7 wäre ihm da schon wesentlich lieber gewesen. Aber immerhin hatte er ein Dach über dem Kopf, in Berlin beileibe keine Selbstverständlichkeit.

»So, da wären wir wieder«, meldete sich Sydows Tante mit einem Tablett voller Köstlichkeiten zurück. Sydow bekam den Mund nicht mehr zu. Pro Tag und Person konnte es der Durchschnittsberliner mithilfe der Lebensmittelmarken auf gerade einmal 1500 Kalorien bringen. Und jetzt tischte ihm Tante Lu Corned Beef, Leberkäse und Rühreier auf. Wenn das mit rechten Dingen zuging, wollte er Winston Churchill heißen.

Oder so ähnlich.

»Von meinem Bridgepartner, Herrn von und zu Grumbkow«, fügte Sydows Tante erklärend hinzu, als sie die entgeisterte Miene ihres Schützlings bemerkte. »Trifft sich gut, einen Untermieter mit Verbindungen zur britischen Militärverwaltung zu haben, oder?«

Und ob sich das gut traf. Der mysteriöse Herr von und zu, Überlebender der Wilhelm Gustloff und der Fuchtel von Tante Lu, hatte für sie bereits mehrfach CARE-Pakete organisiert. Diese und andere Wohltaten hatten die Ex-Rittergutsbesitzerin über die beiden Flüchtlingsfamilien, die im Obergeschoss einquartiert worden waren, rasch hinweggetröstet. »Na klar, Tante Lu«, antwortete Sydow mit reichlicher Verspätung, nachdem sich seine Verblüffung einigermaßen gelegt hatte. »Heutzutage darf man ja wohl nicht wählerisch sein.«

»Schön, dass wir diesbezüglich einer Meinung sind«, stellte Sydows Tante befriedigt fest. »Ob du es nun wahrhaben willst oder nicht, mein Junge: Du brauchst jemanden, der für dich sorgt, nicht zuletzt, weil deine Mutter in London lebt und mein Bruder und deine Schwester bei diesem schrecklichen Bombenangriff am 3. Februar ’45 …«

Bevor Tante Lu alte Wunden aufreißen, leider aber auch, bevor Sydow zugreifen konnte, schrillte das Telefon. Sydow ließ das Tablett stehen und nahm ab.

»Sydow hier.« Das Präsidium, wie konnte es anders sein. Und das ausgerechnet jetzt. »Eine Tote? Und wo? Am Lehrter Bahnhof, aha. Ja, gut, komme sofort.«

»Und was ist mit dem …«, begehrte Luise von Zitzewitz auf, doch kaum hatte ihr Neffe aufgelegt, befand er sich auch schon im Flur, schnappte sich sein Jackett und verließ das Haus.

6 UFA-Star der 20er- und 30er-Jahre († 1937)

7 Regierender Bürgermeister von Berlin (1948–1953/SPD)

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?