Die Wohlanständigen

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Aus der Reihe: Simon Tanner ermittelt #6
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Michel hob seine Augenbrauen.

Ach ja. Interessant. Sind Sie denn schon einmal einem Verbre­cher begegnet?

Sie lachte.

Sie meinen in freier Wildbahn? Nein, noch nie. Zum Glück.

Michel nickte.

Das habe ich mir gedacht. Das heißt, Sie wollen jetzt das praktische Leben kennenlernen.

Ja genau. Fangen wir an? Ich habe gehört, dass wir seit heute Morgen einen neuen Fall haben.

Sie blickte ihn hoffnungsvoll an.

Michel wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte sie eben wir ge­sagt?

Hm. Was mach ich nur mit Ihnen?

Er reichte ihr die Akte, die er gerade angefangen hatte zu lesen.

Da! Studieren Sie die Akte. Ich bin gleich –

Lena Steiner unterbrach ihn.

Entschuldigung, aber die habe ich ja für Sie zusammengestellt.

Michel starrte sie hilflos an. Dann gab er sich einen Ruck.

Gut. Dann begleiten Sie mich in Gottes Namen.

Sie schlüpfte in den Mantel und strahlte ihn mit großen Augen an.

Wohin gehen wir?

Wir besuchen die Frau des Toten.

vier

Warum haben wir uns nicht telefonisch angemeldet?

Lena fragte es flüsternd.

Sie standen schon eine gefühlte Ewigkeit vor dem grünen Eingangstor der Wyttenbach-Villa.

In so einer Situation ist es besser, unangemeldet zu kommen.

Warum?

Weil, äh … –

Jetzt knackte es in der Gegensprechanlage.

– das erkläre ich Ihnen später.

Es meldete sich eine dunkle Frauenstimme und fragte nach Name und Begehr.

Sie verwendete tatsächlich das Wort Begehr.

Michel gab seinen Namen und diesmal auch die korrekte Be­zeichnung seiner Abteilung durch.

In dem Lautsprecher knackte und rauschte es, aber nichts ge­schah. Lena trat vor Aufregung von einem Bein aufs andere.

Endlich ging die Türe auf. Sie traten ein und schlossen das schwere Eingangstor. Ein verschlungener Weg führte durch einen ziemlich verwachsenen, parkähnlichen Garten. Der Weg münde­te in einen Kiesplatz vor einer dreistöckigen alten Villa.

Lena blieb stehen.

Aha, so kann man also auch wohnen, nicht schlecht. Und das mitten in der Stadt.

Michel nickte grimmig.

Mit einem Messer im Rücken hat man nichts mehr davon.

In diesem Augenblick öffnete sich die schwere Eingangstür. In der Tür erschien mit schwerfälligen Schritten eine Frau, die sich auf einen Stock stützte. Ihre Haare, die leicht fettig wirkten, waren nachlässig zu einer Art Dutt zurückgebunden. Ihr Gesicht war aufgedunsen, als ob sie starke Medikamente nehmen musste.

Wer sind Sie? Was wollen Sie?

Michel trat näher, stellte sich vor und zeigte seine Dienstmarke.

Und was wollen Sie denn hier?

In ihrem Tonfall schwang deutlich die Botschaft mit, dass sie in einer Sphäre lebte, die mit der Welt der Polizei rein gar nichts zu tun hatte. Allein das Auftauchen Michels schien für sie ein gesellschaftlicher Fauxpas zu sein.

Bevor Michel antworten konnte, zeigte sie mit dem Stock auf Lena.

Und was ist das?

Michel ignorierte ihre Frage.

Sind Sie Frau Beckmann?

Sie lachte rau auf.

Wer soll ich sonst sein?

Wissen Sie, wo ihr Mann ist?

Wieso wollen Sie das wissen?

Dürfen wir reinkommen? Das ist meine Assistentin Frau Steiner. Es gibt eine sehr ernste Situation, die wir nicht gerne hier draußen besprechen würden.

Sie schaute einen Moment mürrisch auf den silbernen Knauf ihres Stocks, entschloss sich dann aber doch, sie reinzulassen. Sie führte sie in einen hell gestrichenen Salon im Erdgeschoss.

Sie nahmen an einem großen ovalen Tisch Platz. Frau Beckmann behielt ihren Stock in der Hand. Sie blickte Michel herausfordernd an. Er ließ sich Zeit und blickte sich im Raum um.

Hinter dem Tisch erweiterte sich der Salon zu einer Art Wintergarten. Dort stand ein imposanter Flügel. Er war von einer Art Go­belindecke zugedeckt. Man hatte nicht den Eindruck, dass er jeden Tag bespielt wurde. Auf dem Flügel standen eine ganze Reihe von Fotos in silbernen Rahmen. Michel erhob sich, ging ein paar Schritte zum Flügel und deutete auf das Foto, das eindeutig Karl Beckmann zeigte. Etwas jünger und in einem tadellos sitzenden schwarzen Anzug.

Ist das Ihr Mann?

Sie nickte.

Verraten Sie mir endlich, was Sie wollen.

Michel setzte sich wieder auf seinen Stuhl, griff sich eines seiner Tücher aus der Manteltasche und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Frau Beckmann beobachtete den Vorgang mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.

Wir kommen mit einer schlechten Nachricht. Ihr Mann ist heute Morgen tot aufgefunden worden.

Frau Beckmann starrte ihn an, der angewiderte Gesichtsausdruck verhärtete sich jetzt zur unbeweglichen Maske.

Das kann gar nicht sein. Er hat mir gestern Abend gesagt, dass er heute auf eine Geschäftsreise nach London muss.

Hat Ihr Mann denn nicht hier übernachtet?

Frau Beckmann scharrte ungeduldig mit ihrem Stock über den Teppich.

Nein, wenn er früh verreisen muss, übernachtet er oft in seinem Büro.

Michel schwieg. Er spürte, wie Lena ihn von der Seite ansah.

Und was heißt überhaupt «aufgefunden worden»? Wie meinen Sie das?

Wir haben ihn im Wasser gefunden.

Im Wasser? Wo denn?

Michel nannte ihr den See und den genauen Ort.

Was soll er denn dort gemacht haben? Er ist nie ins Wasser ge­gangen. Einen wasserscheueren Menschen gibt es gar nicht. Er konnte nicht einmal schwimmen.

Einen Moment später zuckte sie zusammen, als ob sie die Ab­sur­dität ihrer Aussage realisiert hätte.

Hatte er denn eine Badehose an?

Nein, er war vollständig angezogen.

Michel zögerte etwas.

Und er hatte ein Messer im Rücken.

Sie starrte ihn entsetzt an, ließ den Stock los und legte die Hand vor den Mund.

Lena, die neben ihr saß, hatte reaktionsschnell den Stock aufgefangen. Sie lehnte ihn sorgfältig an den Tisch und ging leise aus dem Raum.

Michel runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

Einen Moment später kam Lena wieder mit einem Glas Wasser zurück. Sie stellte es leise vor Frau Beckmann auf den Tisch. Sie griff danach und leerte das Glas in einem Zuge.

Danach sprach sie kein Wort und starrte vor sich hin. Michel ließ sie gewähren. Erst als Michel nach einem Tuch griff und sich Gesicht und Stirn erneut trocknete, blickte sie auf.

Warten Sie auf etwas Bestimmtes?

Michel ließ sich nicht irritieren.

Sie müssen Ihren Mann identifizieren.

Sie starrte ihn mit kalten Augen an.

Wann?

Heute oder morgen.

Lena erhob sich und legte eine Karte mit der Adresse des Gerichtsmedizinischen Instituts auf den Tisch.

Dann können Sie ja jetzt gehen.

Lena blickte zu Michel, der nickte und erhob sich. Lena war sichtlich verblüfft.

Wir kommen wieder.

Michel erwartete keine Antwort.

Er durchquerte eilig den Garten. Lena im Schlepptau. Als sich das Tor hinter ihnen schloss, legte sie los.

Warum haben Sie sie nicht befragt? Ob er Feinde hatte? Wer seine engsten Geschäftspartner waren? Ob er sich in letzter Zeit verändert hatte? Was er in London wollte? Ob er vielleicht eine …

Michel unterbrach sie.

Alles zu seiner Zeit.

Lena schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

Wir hätten jetzt nichts aus ihr herausgebracht. Wir müssen warten, bis sie den Schock überwunden hat.

Gut. Und was machen wir jetzt?

Michel guckte auf seine Uhr.

Ich mache jetzt Mittagspause und …

Sie strahlte ihn an.

Fein. Und wo gehen wir essen? Ich habe einen Wahnsinnshunger.

Michel seufzte. Er hatte insgeheim gehofft, sie für eine Weile los­zuwerden.

Weiter unten ist eine Art Arbeiterrestaurant mit etwas altmodischen Menus. Ich weiß nicht, ob Ihnen das zusagt.

Sie nickte und ging gleich los.

Jetzt war es an ihm zu staunen. Offensichtlich liebte sie diese Art Kneipe, wo Lastwagenfahrer und Arbeiter riesige Teller voller Fleisch, Würste und Kartoffeln aßen; grüne Speisen sah man äußerst selten, am ehesten noch in Form von Erbsen aus der Büchse.

Sie zwängten sich in das vollbesetzte Gasthaus und fanden gerade noch zwei Plätze. Es war so lärmig, dass sie einander anschreien mussten.

Wissen Sie, als Studentin konnte ich mir nur alle zwei Tage ein richtiges Essen leisten und in so einem Lokal wird man wenigstens satt.

Sie betrachtete ganz ungeniert, was ihre Nachbarn aßen. Als sie bestellen konnten, zeigte sie bloß auf die Teller und nickte. Auch auf die großen Biergläser. Michel machte es ebenso. Er war jetzt wirklich gespannt, wo diese schmale Person mit all dem Essen hinwollte. Als dann das Essen kam, musste er schmunzelnd erkennen, dass er sie total unterschätzt hatte, mindestens, was ihre Essenskapazität betraf. Ihr Teller war vor seinem leer, und er war beileibe auch kein langsamer Esser. Ein Gespräch war in diesem Lärm nicht möglich, so vollzog sich das Essen praktisch stumm. Die Männer links und rechts von ihnen schrien in allen möglichen Sprachen kreuz und quer durch den Raum. Erstaunlicherweise schienen sie sich trotz des Lärmpegels gut zu verstehen.

Als sie draußen waren, beschlossen sie, in ein ruhiges Café zu wechseln und den Kaffee dort zu trinken.

Lena schüttelte sich kurz.

Puh, war das laut, aber das Essen war lecker. Vielen Dank, Michel, für die Einladung. Den Kaffee – und falls es Torten gibt – bezahle ich. Als Einstand sozusagen.

 

Ihr Appetit schien grenzenlos zu sein. Wider Willen musste Michel lächeln, sagte aber nichts.

Es gab tatsächlich Torten. Michel verzichtete darauf, um we­nigstens etwas anders zu machen als Lena. Er begnügte sich mit einem Espresso. Sie fiel unbekümmert über ein großes Kuchenstück her, als hätte sie heute noch nichts gegessen. Natürlich bereute er kurz darauf seine Entscheidung, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Nachdem sie den letzten Krümel vertilgt hatte, lehnte sie sich über den Tisch.

Wie sehen Sie den Fall, Chef? Haben Sie schon eine Vermutung?

Michel nahm den letzten Schluck seines Espressos.

Sehen Sie, Lena, zu Beginn eines Falls sollte man sich unter allen Umständen vor Thesen hüten und sich auf keine Vermutung versteifen. Sonst sucht man die ganze Zeit nach Bestätigung für seine These und übersieht leicht Hinweise oder Indizien, die in eine andere Richtung deuten. Und nennen Sie mich bitte nicht Chef.

Lena nickte eifrig.

Gut, dann sage ich Michel. Darf ich trotzdem eine, äh … eine Fantasie äußern?

Er verdrehte die Augen, nickte aber seufzend und verkniff sich eine beißende Bemerkung.

Auch wenn wir noch nichts wissen, ist doch die Kleidung, die der Tote anhatte, ein starkes Zeichen. Eigentlich der größtmögliche Gegensatz, den man sich sowohl zu seiner Frau als auch zu seinem Beruf vorstellen könnte.

Lena schaute ihn fragend an.

Michel wiegte den Kopf.

Kann sein, kann nicht sein. Sehen Sie, das ist genau das Problem mit solchen Vermutungen. Ich habe schon Zahnärzte und renommierte Anwälte in Lederanzügen auf gewaltigen Motorrädern gesehen. Das war ihr Wochenendvergnügen. Und? Was sagt uns das jetzt? Dass jemand ein abgedrehtes Hobby oder eine ausgefal­lene Leidenschaft hat.

Sie nickte.

Ja, ja, oder renommierte Bürger, die in Gummianzügen zu Swinger-Partys gehen. Gut, ich verstehe schon.

Sie nahm die Brille ab und putzte sie mit einer Serviette.

Insofern ist das Hawaiihemd nichts Besonderes. Zumal am See. Vielleicht war er auf eine Yacht eingeladen? Oder er besitzt selber eine?

Sie zückte ihr Smartphone.

Das können wir gleich feststellen, ob ein Boot auf seinen Namen eingetragen ist.

Sie beugte sich konzentriert über ihr Telefon.

Michel staunte, mit welcher Geschwindigkeit sie darauf eintippte. Und wie kam sie damit überhaupt in die entsprechenden amtlichen Listen?

Sie blickte auf.

Nein, unter seinem Namen ist kein Schiff eingetragen.

Sie steckte ihr Smartphone weg.

Das heißt natürlich noch nichts. Er könnte trotzdem auf einem Schiff gewesen sein, oder es ist unter einem Firmennamen einge­tragen. Oder er hat es gemietet.

Sie blickte auf.

Was schauen Sie mich so komisch an? Ich habe nichts Illegales getan oder, sagen wir, nichts Schlimmes. Die Listen sind ja nicht geheim.

Michel verzog seinen Mund.

Sind Sie eine Hackerin?

Jetzt verdrehte sie ihre Augen.

Was heißt hier Hackerin? Jeder, der Informatik studiert, weiß, wie man in Systeme reinkommt und so. Sobald man technisch ein System durchschaut, ist das ja auch ein Kinderspiel. Die meisten Sachen sind so banal, also das ist kein Hexenwerk.

Michel lachte.

Gut zu wissen.

Lena lachte auch.

Wissen Sie, die meisten Menschen machen sich ein ganz falsches Bild von einem Hacker. Ein Hacker ist in erster Linie jemand mit einer großen technischen Neugierde. Wie soll ich Ihnen das erklären? Ein bekannter Computeraktivist hat einmal gesagt: Ein Hacker ist jemand, der versucht, einen Weg zu finden, wie man mit einer Kaffeemaschine einen Toast zubereiten kann. Ein Hacker will wissen, wie etwas funktioniert und wo die Grenze des Machbaren liegt. Zufrieden?

Michel hob die Hand.

Nicht ganz. Es gibt ja auch kriminelle Hacker.

Ja, das ist klar. Und genau deswegen braucht es auch leidenschaftliche Hacker, die in der Lage sind, Sicherheitsmängel aufzuzeigen, ohne dass sie die Kenntnisse zu ihren eigenen Vorteilen ausnutzen. Die Firmen, vor allem Banken und Regierungen, können dann ihre Sicherheitsmaßnahmen danach ausrichten, bevor ein krimineller Hacker die Lücke ausnutzt.

Michel bestellte noch einen Espresso.

Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen einige grundlegende Kniffe.

Michel winkte ab.

Dafür sind Sie zuständig. Aber danke.

Okay. Und was machen wir jetzt?

Sie rufen jetzt Frau Beckmann an und bieten ihr an, sie ins Gerichtsmedizinische Institut zu begleiten.

Lena machte ein verdutztes Gesicht.

Geben Sie ihr zu verstehen, dass Sie das ohne mein Wissen machen, weil Sie denken, dass das für sie doch ein sehr schwieriger Gang sein würde und dass sie vielleicht lieber mit Ihnen als mit mir gehen würde. Verstehen Sie? Schmieren Sie ihr ein bisschen Honig aufs Brot, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Ist das jetzt auch ein Kniff?

Michel setzte sein unschuldigstes Gesicht auf.

Wie kommen Sie darauf? Jemand muss sie doch begleiten.

Fünf

Michel betrachtete stirnrunzelnd das auf Hochglanz polierte ­Na­mensschild. Es handelte sich um eine der vornehmen Anwalts­so­zie­täten in der Hauptstadt. Anwälte, Notare, Treuhänder, Steuer- und Finanzspezialisten. Einige Professoren, viele Herren oder Da­men mit Doktortiteln waren darunter. Michel pfiff durch die Zähne.

Genau die Sorte, die ich liebe.

Den Namen Beckmann fand er allerdings nicht. Er prüfte noch einmal die Adresse in den Unterlagen, die seine Assistentin im Auftrag des Chefs zusammengestellt hatte. Er war am richtigen Ort. Er zuckte mit den Achseln und klingelte. Bevor die Tür sich mit einem leisen Surren öffnete, versuchte er sich vorzustellen, wie Lena mit Frau Beckmann im Gerichtsmedizinischen Institut eintreffen würde.

Was für ein genialer Schachzug!

Er klopfte sich gedanklich auf die Schultern. Es befreite ihn vom unangenehmen Gang zur Identifizierung der Leiche und gleichzeitig von Lenas Anwesenheit, die ihn nervös machte.

Er betrat das Gebäude. Über eine knarrende Treppe ging er in den ersten Stock, wo sich die Anmeldung befand.

Ein Schild an der Tür forderte zum Eintritt auf. In einem kleinen Vorraum saß eine schlanke Frau im weißschwarzen Kostüm – sogar als Modemuffel erkannte er Chanel. Sie hatte wilde rote Haare, die wie die untergehende Sonne leuchteten. Als sie sich umdrehte, hielt er spontan eine Hand hoch.

Mein Gott, ihre Haare blenden mich ja.

Sie lachte.

Na, na, so schlimm wird es doch nicht sein. Was kann ich für Sie tun? Sie kommen ja nicht, um mir Komplimente zu ma­­­chen.

Sie war nicht mehr ganz so jung, wie sie von hinten wirkte, aber sie war außerordentlich attraktiv und hatte ein bezauberndes La­chen, kurz: Sie war der ideale Empfang, der zumindest den Herren das Herz sofort öffnete.

Nein, nein, ich komme wegen Herrn Beckmann.

Er wählte bewusst diese etwas unkonkrete Formulierung.

Sie runzelte ihre schöne Stirn.

Aber Herr Beckmann ist doch schon seit gut, äh … vier Jahren oder … nicht mehr bei uns. Vielleicht sind es auch mehr. Da müsste ich jetzt nachschauen.

Jetzt war er wirklich überrascht und sah wohl sehr verdutzt drein.

Die Empfangsdame erhob sich.

Tut mir sehr leid, dass Sie extra hergekommen sind.

Soweit zur Genauigkeit der Unterlagen, liebe Lena.

Michel fing sich wieder.

Aha, und wo arbeitet er jetzt?

Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr …

Michel zückte seine Dienstmarke und nannte Name und Abteilung.

Jetzt war es an ihr, verdutzt zu sein. Aber nicht aus dem Grund, den Michel meinte.

Sie kam auf ihn zu, lächelte und streckte ihm ihre Hand entge­gen.

Mein Gott, das gibt’s ja nicht. Serge, erkennst du mich denn nicht? Wir sind doch zusammen zur Schule gegangen. Ich habe dich zuerst auch nicht erkannt, aber jetzt natürlich, als du deinen Namen nanntest.

Sie schlug die Hände zusammen.

Mein Gott, das ist ja auch ewig her. Du warst damals so dünn …

Sie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund und wurde rot im Gesicht.

Entschuldige Serge, das war jetzt nicht sehr diplomatisch.

Michel war ziemlich verwirrt, denn er konnte sich überhaupt nicht erinnern.

Entschuldigen Sie, aber … ist das vielleicht eine Verwechslung?

Sie lachte.

Nein, nein, ich bin Marlene. In der Schule nannte man mich Mali. Wir waren beide bei der Meyerhofer in der Primarschule. Weißt du nicht mehr?

Langsam dämmerte es Michel. Er sah vor sich ein mageres, rothaariges Mädchen mit vielen Sommersprossen.

Ja, ja, jetzt erinnere ich mich. Das war wie in einem anderen Le­ben. Du hattest Zöpfe und tausendundeine Sommersprosse, stimmt’s?

Ja, genau. Ich habe sehr unter diesen Sommersprossen gelitten und alle möglichen Cremes und todsicheren Rezepte ausprobiert. Es half alles nichts. So ab sechzehn Jahren wurden sie dann von alleine heller und immer heller – und jetzt sieht man sie fast gar nicht mehr.

Sie lachten beide. Dann wurde sie wieder ernst.

Was willst du denn vom Beckmann?

In diesem Moment betrat durch eine Seitentür ein untersetzter Mann in einem sehr seriös wirkenden Anzug den Raum. Seine Haare waren streng nach hinten gekämmt. Seine Wangen hatten etwas Hamsterartiges und seine kleinen Augen huschten unruhig hin und her.

Guten Tag. Ich höre den Namen Beckmann. Wer will etwas von ihm?

Marlene kam Michel zuvor.

Das ist Serge Michel von der Polizei. Er hat sich nach Herrn Beckmann erkundigt.

Sie wandte sich wieder zu Michel.

Und das ist Herr Schneider, unser Bürochef.

Wir sind tatsächlich von der Geschäftsleitung angehalten, keine weiteren Auskünfte über Herrn Beckmann zu geben.

Michel richtete sich auf.

Ja, wenn das so ist, dann führen Sie mich bitte zur Geschäftsleitung, Herr Schneider.

Der untersetzte Mann fuhr nervös durch seine Haare.

Ich weiß nicht, ob der Herr Professor im Hause ist …

Marlene unterbrach ihn.

Er ist im Hause. Ich habe ihn gesehen.

Aha, dann müssen Sie mit seinem Sekretariat einen Termin vereinbaren. Sie können das telefonisch machen. Frau Bächler kann Ihnen gerne die Nummer geben.

Einspruch, Euer Ehren. Die Polizei macht keine Termine. Entweder Sie führen mich jetzt zu ihm oder ich lade ihn aufs Polizeirevier vor. Fragen Sie bitte den Herrn Professor, was ihm lieber ist.

Marlene wandte sich ab, offenbar um ein Lächeln zu verbergen.

Schneider wischte sich vor Aufregung über den Mund.

Gut. Ich werde sofort zu ihm gehen. Warten Sie bitte hier. Frau Bächler wird Ihnen sicher einen Kaffee anbieten.

Mit einem wütenden Blick zu Marlene verließ er den Raum.

Hui, was ist aus dem kleinen Serge ein wichtiger Mann geworden. Kommissar! Respekt.

Sie lachte.

Willst du einen Kaffee?

Nein, lieber ein Glas Wasser.

Sie ging in einen Nebenraum.

Treffen wir uns mal?

Mit der Frage auf den Lippen brachte sie ihm das Glas.

Wir können ja hier keine Erinnerungen austauschen. Also nur, wenn du magst.

Michel nickte.

Gerne. Hier ist meine Karte.

Marlene steckte die Karte gerade noch rechtzeitig in eine Schublade, schon kam Schneider zurück.

Bitte folgen Sie mir, Herr Kommissar. Herr Professor Krättli emp­fängt sie sofort.

Der Schneider liebte offenbar Titel. Sie gingen schweigend die knarrende Treppe einen Stock höher.

Michel dachte, dass sie ganz bewusst die knarrende Treppe nicht erneuerten, denn sie wirkte altmodisch, sparsam, einschüchternd und stand für die Aussage: Uns sind andere Dinge wichtig. Welche, war noch die Frage.

Der Herr Professor empfing Michel in der Tür zu seinem Büro. Er war ein sympathisch lächelnder, älterer Herr, wohlanständig, mit vollem weißen Haupthaar.

Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Wir haben schon viel von Ihnen gehört, Herr Michel. Kommen Sie herein und machen Sie es sich bequem.

Sie betraten das Büro. Auch dies war sparsam und altmodisch möbliert. Der einzig moderne Gegenstand war der silbern schimmernde Bildschirm des Computers, der in augenfälliger Konkurrenz zur dunkel gehaltenen Einrichtung stand.

 

Michel setzte sich auf den geschnitzten Holzstuhl, der für Besucher vor dem Schreibtisch des Anwalts stand. Bequem war dieser nicht, aber Michel war sicher, dass diese altmodische Einrichtung sehr genau kalkuliert war. Er hatte auch schon ganz andere Büros gesehen, die mit kühler, aber teurer Eleganz vom Erfolg der Kanzlei erzählen sollten. Hier fand eine andere Erzählung statt. Michel war sich aber über den Inhalt der Geschichte noch nicht im Klaren.

Ich bin ein Freund Ihres ehemaligen Vorgesetzten, wissen Sie. Deswegen …

Er lächelte und öffnete seine Hände, wie es auch der Papst zu tun pflegt.

Michel konterte.

Kennen Sie auch den neuen?

Jetzt vollführten die Hände eine Abwehrbewegung. Danach legte er sie langsam, aber bewusst auf den Schreibtisch.

Nein, den kenne ich nicht. Aber Sie wollten zu Herrn Beckmann, höre ich. Was wollen Sie denn von ihm?

Seine Hände zuckten leicht, als ob sie sich wieder von der Tischplatte lösen wollten, aber gezwungen wurden, da liegenzubleiben.

Ich habe nie gesagt, dass ich zu Beckmann möchte. Ich habe gesagt, dass ich wegen Beckmann komme.

Jetzt falteten sich die Hände auf dem Tisch.

Aha! Ja, das ist ein Unterschied. Demzufolge wussten Sie also, dass Herr Beckmann schon seit fünf Jahren nicht mehr bei uns ist.

Michel schüttelte den Kopf und war gespannt, was die gepflegten Hände des Herrn Krättli weiter im Schilde führten.

Nein, das wusste ich nicht.

Aha! Ja, was wollen Sie denn?

Mit dieser Frage stützten sich die Hände mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte, was Herrn Krättli eine Art Sprungbereitschaft verlieh, auch wenn der Körper ganz ruhig blieb.

Frage – Gegenfrage.

Warum ist Herr Beckmann nicht mehr bei Ihnen? Er ist doch ein angesehener Treuhänder und Finanzmann, so habe ich we­nigs­tens gehört.

Die gespreizten Finger hoben sich nun vom Tisch, die Ellbogen wurden aufgestützt und zehn Fingerkuppen, leicht aufeinandergepresst, wurden vor Krättlis Mund geführt.

Wer hat Ihnen das erzählt?

Darauf hatte Michel gewartet. Die Antwort genoss er.

Mein neuer Chef.

Aha! Wie heißt er schon wieder, Ihr neuer Chef?

Michel nannte ihm den Namen.

Seine Hände strichen kurz beidseitig über die glattrasierten Wangen, um wieder in der vorigen Position zu landen, die Kuppen etwas stärker zusammengepresst als zuvor.

Sagen wir so: Beckmann hatte sich in riskante Geschäfte verwickelt, die für unsere Sozietät nicht mehr tragbar waren.

Heißt das, dass Sie Geld verloren haben?

Krättli hob die Hände gen Himmel, also zur Zimmerdecke.

Nein, nicht wir, Gott bewahre. Aber unsere Kunden. Und das konnten wir natürlich nicht zulassen.

Die Hände sanken zurück und fanden zärtlich in eine Stellung zueinander, so als ob ihr Besitzer sie waschen wollte.

Michel schwieg und hielt Krättlis Blick stand.

Wir haben das nicht an die große Glocke gehängt, da Beckmann für uns auch sehr viel Gutes gemacht hat. Verstehen Sie?

Michel blieb immer noch regungslos. Krättli klatschte jetzt in seine Hände, als ob er Michel zu einer Reaktion zwingen wollte.

Er hat uns sogar gebeten, es vor seiner Familie zu verschweigen.

Michel nickte.

Ging es um viel Geld?

Jetzt verschwanden Krättlis Hände unter dem Tisch.

Ja, was heißt viel?

Er schaute fragend zu Michel.

Sagen Sie es mir, Herr Professor.

Die Hände kamen wieder abwehrend aus der Versenkung.

Aber wieso kommen Sie jetzt? Die Sache ist doch schon längst vergessen.

Michel ignorierte die Frage.

Wann haben Sie Herrn Beckmann das letzte Mal gesehen?

Die Hände begannen in der Luft zu schweben.

Ja, damals vor etwa fünf Jahren. Seither haben wir keinen Kontakt mehr.

Haben Sie Kontakt zu seiner Frau?

Nein, warum sollte ich?

Krättli hielt es jetzt nicht mehr auf dem Stuhl. Unter dem Vorwand, das Fenster zu öffnen, stand er auf. Dann drehte er sich lachend um.

Wird das jetzt ein Verhör, Herr Kommissar?

Michel stand auch auf.

Nein, nein, sicher nicht. Ich wollte ja nur ein paar Informationen. Dafür bedanke ich mich recht herzlich.

Krättli begleitete ihn offensichtlich erleichtert zur Tür, so er­leichtert, dass er sogar nicht noch einmal fragte, warum Michel denn gekommen war. In der Tür blieb Michel stehen.

Ach ja, Sie wissen auch nicht zufällig, was Beckmann jetzt macht?

Krättli gab sich Mühe, ein Gesicht zu machen, das Ich-überlege-ernsthaft heißt, schüttelte aber dann den Kopf.

Nein, tut mir leid. Ich habe keine Ahnung.

Und ich glaube dir kein Wort, dachte Michel und verabschiedete sich freundlich, wie es zu diesem ganzen Interieur passte.

Jetzt wusste er, wie die Geschichte heißen könnte, die das Haus und die ganze Einrichtung dieser Anwaltssozietät erzählte: Die Wohlanständigen.

Er schaute nochmals in das Büro der Anmeldung, aber Mar­lene war leider nicht da.

Schade, schade. Hoffentlich meldet sie sich.

Kurzentschlossen machte er sich auf den Weg ins Gerichtsmedi­zinische Institut. Jetzt hatte er das Bedürfnis, den Toten aus dem See noch einmal zu sehen.