MANATOA und Die Wandlungen des Heiligen Wendelin

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MANATOA und Die Wandlungen des Heiligen Wendelin
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Ulrich Elste

MANATOA

und

DIE WANDLUNGEN

DES HEILIGEN WENDELIN

Zwei Erzählungen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

MANATOA

Vorbericht: Der König des Waldes

Erster Teil der Erzählung – Manatoa

Burgschlundern

Zweiter Teil der Erzählung – Manatoa

Bad Schlundern

Anhang – Die Wandlungen des heiligen Wendelin

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Titelzeichnung: Broken castle © RATOCA (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

MANATOA

Vorbericht: Der König des Waldes

In früheren Zeiten war es mir unbegreiflich wie jemand Jahr für Jahr an immer denselben Ort zurückkehren konnte, um dort Erquickung für Leib und Seele zu finden. Freilich wusste ich zu jener Zeit noch nicht, dass einer der weisesten unter den Menschen schon vor langer Zeit das Geheimnis ausgesprochen hat, dass es einem, mit dem es recht steht, an allen Orten recht ist, und ein Wechsel des Ortes ihm darum kaum etwas zu- oder abtragen kann. Heute aber, da ich reifer geworden bin, leuchtet mir die Wahrheit jenes Wortes immer deutlicher auf. Ja, es will mir scheinen, dass es ein Zeichen einer Schwäche ist, wenn jemand in späten Jahren sich unfähig zur Einkehr zeigt. Und so bin ich nun selbst mehrfach an Orte zurückgekehrt, an welchen ich bereits in früheren Zeiten weilte.

Da sind es nun weniger ferne und unbekannte Gegenden, die sich mir im Geiste zeigen, als vielmehr Orte, an welche sich freundliche Erinnerungen knüpfen. Für jemanden, der seinen Wohnsitz niemals lange aus der Stadt seiner Geburt verlegt hat, liegen die Stätten seiner Jugend sehr nahe, vielleicht noch zu nahe, um schon ausreichend Aufmerksamkeit zur Betrachtung zu finden. Nur wenig weiter finden sich die Orte der Vorfahren, die nicht weit im Lande umher kamen, nahebei heirateten und wohnten. Dort, im nördlichen Thüringen, bei den Großeltern verbrachten wir die ersten Ferien, und jedes mal, wenn ich an diesen Gegenden vorüber fahre, steigen wundersame und gute Erinnerungen an längst vergangene Zeiten auf. Hinter den Wiesenauen, am Fuße der ragenden Berge liegt da das kleine Städtchen mit seinen einst sehr holperigen Straßen und Gassen und verwinkelten Fachwerkhäuschen. Da liefen Gänse und Enten herum, und das Abwasser schoss unversehens aus Rohren mitten auf die Straße, wo es dann von uns Kindern aufmerksam verfolgt, irgendwohin verschwand. Stand einmal eines der großen Hoftore offen, dann sah man Wagen und wundersame Geräte stehen, die man in der Stadt niemals zu Gesicht bekam. In der Ecke lag der Misthaufen und unter den Dächern klebten die Nester der Schwalben. Man hörte vielleicht Schweine grunzen und ein Pferd wiehern. All das gab es damals noch in solchen Orten. Und es war für uns fremd und neu und aufregend. Gleich hinter dem Häuschen, in welchem die Großeltern wohnten, führte ein Weg durch die Gärten, der mit den scharfkantigen Resten des Perlmutts belegt war, aus dem man Knöpfe ausgestanzt hatte. Da fanden wir manch seltsam geformtes und wundersam glänzendes Stück, das uns wert schien, gesammelt zu werden. Nicht fern des Hauses fuhr damals noch die Kleinbahn vorüber; und sahen wir, auf dem Bahndamm spielend, in der Ferne eines der dampfenden Ungetüme erscheinen, dann blieb noch genügend Zeit, kleine Steinchen zu suchen und auf die Gleise zu legen. War der Zug vorüber, so erstaunten wir jedes mal wieder über die ungeheure Gewalt, mit welcher das uns unzerstörbar Erscheinende zermalmt worden war. Auf den Feldern standen noch geschichtete Garben, in denen man sich verstecken konnte, und am Fuß der Berge prallten die reifen Kirschen. Im Schatten der Eichen und Buchen führten Wege auf die Berge, zu den Burgen und zu dem mächtigen Kaiserdenkmal hinauf, wohin wir oft gegangen waren. Später baute man über das Auental einen Damm, und jener Weiler, in welchem unsere Mutter einst ihre Kindheit zwischen Wiesen, Feldern und waldigen Bergen verbrachte, versank in den gestauten Wassern. Auch dahin schaue ich immer wieder hinüber, wenn ich diese Gegenden durchfahre.

Später fuhren wir in den Ferien an einen See im Brandenburgischen oder einmal auch an die Ostsee. Aber immer wieder kehrten wir in das Städtchen zurück, in welchem die Großeltern wohnten. Dann aber kamen die Jahre, da wir Söhne unsere eigenen Wege gingen. Ein Ort aber aus diesen frühen Erinnerungen, als wir noch mit den Eltern in die Ferien fuhren, ist mir besonders wert geworden. Er heißt Deesnitz und ist ein kleines Dorf im Thüringischen Schiefergebirge. Es waren damals die Jahre, in welchen sich für uns der Übergang vom Kinde zum Jüngling vollzog, die Jahre, in denen sich auch der Sinn für die Schönheit einer Landschaft zu entfalten beginnt. In der bürgerlichen Pension, in welcher wir wohnten, verbrachte auch ein Student der Botanik seine Ferien. Oft streiften wir mit ihm durch die Wiesen und Wälder, und erfuhren von ihm allerlei, was da wuchs, und was es damit auf sich hatte. An anderen Tagen saßen wir mit den Eltern auf einer Bank und zeichneten, was wir vor uns sahen: Berge und Wälder und Wiesen und die Wolken über allem. Einmal führte uns der Vater auf einen Berg und sagte zu uns, dies wäre der höchste Berg, den wir bisher erstiegen hätten. Für meinen zwei Jahre älteren Bruder hat diese Mitteilung, dass auch Berge einen persönlichen Wert haben können, Bedeutung erlangt, denn in späteren Jahren zog es ihn immer wieder zu den Felsen und in die höheren Gebirge. Ich aber bin ein Stadtmensch geblieben, habe mich den Büchern und den Studien zugewandt, und es ist gut möglich, dass jener Berg noch immer die größte Höhe ist, die ich jemals erstiegen habe. Mehr als zwanzig Jahre später bin ich in dieses Dorf zurückgekehrt, und habe in sechs aufeinander folgenden Sommern viele Tage dort verbracht.

Unser Leben wird von Entscheidungen bestimmt, welche wir zu einer Zeit fällen, in welcher wir oft nicht die genügende Reife dafür haben, und die Leidenschaften in uns lauter als die Vernunft sprechen. So müssen wir bereits in jugendlichem Alter einen Beruf wählen, und können seine Forderungen und Möglichkeiten kaum wirklich schätzen. Ebenso sollten wir, von der Natur bedingt, in einem Alter heiraten, in welchem es uns nur allzu oft an gründlicher Lebens- und Menschenkenntnis fehlt. Den Rat oder die Mahnungen der Eltern und anderer Älteren legen wir dann oft missgünstig aus, da sie unserem Gefallen meist entgegen stehen. Später folgen dann beinahe notwendig Jahre, in denen wir uns fragen, ob wir den rechten Beruf ergriffen, ob wir den rechten Partner fürs Leben gefunden haben; Jahre, in denen uns mannigfache Unlust heimsucht, wo ein Weiterkommen nicht mehr zu hoffen ist. Dies war auch die Situation, in welcher ich mich befand, als ich in einem Faltblatt eine Anzeige jener Pension in Deesnitz fand, in welcher wir vor vielen Jahren geweilt hatten, und an welche ich noch immer so angenehme Erinnerungen bei mir trug. In der Abgeschiedenheit und Stille dieses Ortes glaubte ich Abstand vom Vergangenen finden, und mit mir über das Künftige zu Rate gehen zu können. Was ich an diesem Orte erlebt habe, möchte ich auf den folgenden Seiten darstellen, und besonders Kunde geben von einem der merkwürdigsten Menschen, der mit jemals begegnet ist. Von seinen Mitmenschen wurde er nur „der alte Anton“ genannt; für mich aber war er der König des Waldes.

Deesnitz liegt ganz abseits der Verkehrswege, im Tal der Sellnitz, eingebettet zwischen sanftgebirgigen, mit Wald und Wiesen bestandenen Höhen. Es gibt nichts Imposantes, nichts die Sinne erregendes in dieser Gegend, und wer keinen Sinn für das Still- Erhabene; für das Rauschen der Wälder, für den Zug der Wolken, für das unermüdliche Rinnen des Baches, für den Flug des Bussards und der Schwalben hat, wer nicht berührt wird von der Pracht der blühenden Wiesen und von der unermesslichen Stille des Landes, der ist in diesen Gegenden nicht an seinem Platze. Man muss die Erzählungen Stifters lieben können, dann wird man auch am Sellnitzland eine unverlierbare Freude finden.

Nur wenig oberhalb des alten Stammsitzes eines hochberühmten Fürstengeschlechtes mündet aus einem nach Südost streichendem Wiesental ein Bach in das Flüsschen Schorna. Dieser Bach zwischen den steilen und mit dunklen Fichten bestandenen Bergen heißt Sellnitz, und die Berge sind im Ost die Ausläufer des Keils und im West die des Quittel. Fährt man auf der Straße im Tal aufwärts, dann erscheinen bald voraus in einer Weitung die wenigen Häuser der Bockschmiede. Hinter dieser kleinen Ansiedlung treten die Berge näher an den Bach und an die Straße heran, als wollten sie den Zugang ins tiefere Gebirge verwehren. Nur wenig weiter sieht man über den Bach hinweg die Häuser der Waldmühle, einer Gaststätte, und dann, mittlerweile in Gestrüppen verborgen, die verlassenen Gebäude der Sellnitzmühle. Hier teilt sich das Tal und auch die Straße. Nach rechts gelangt man weiter im Tal der Schwarzen Sellnitz zu dem kleinen Dorf Rohrau und fernerhin zu den Dörfern auf der Höhe. Der linke Abzweig hingegen führt nur nach Deesnitz hinein, und endet dort. Und ganz am Ende dieses Ortes, dort wo die Straße zum Feldweg wird, steht noch immer, beinahe unberührt von aller Zeit, die trauliche Pension, wie sie in meiner Erinnerung und auf den alten Photos erhalten geblieben war. Und auch im Innern fand ich es nicht anders. Wohl waren in den letzten Jahren neue Fenster eingesetzt worden, man hatte die Heizungen erneuert und Duschen in die Zimmer eingebaut, aber man hatte verstanden, das Neue dem über siebzig Jahre alten Haus einzufügen, ohne dass seine Wohlgestalt gestört worden wäre.

 

Auch im Dorfe war es mir nicht anders, als ich am Abend auf der einzigen Straße ab- und aufging. Die Hecken am Bach, die kleinen Sitzgruppen, die man angelegt hatte, die Häuser, auch der Gasthof und die Kirche oben am Hang; alles machte auf mich einen sehr gepflegten Eindruck. Aber seine Eigenart von Alters her, als eines in Wiesen und Wäldern versunkenen Stückes Welt, war ihm bewahrt geblieben. Von meinem Zimmer aus sah ich auf die Wiesen, welche gleich hinter den Häusern hinauf ziehen, und über welche die Kühe still wandelten. Schwalben schwirrten durch die Lüfte, unablässig rauschte der Bach. Auf den Bergen stand der dunkle Wald der Fichten und die Wolken zogen über ihn hin. Ein Raubvogel zog seine Kreise. Als sich der Abend herab gesenkt hatte, erschienen die Sterne und bald wandelte die Scheibe des Mondes durch die obersten Wipfel. Alles dies nahm mich vom ersten Tage an so gefangen, dass ich schon bald wusste, dass ich hier einen Ort gefunden hatte, an den ich zurückkehren würde.

Doch möchte ich mich nicht weiter bei meinen Empfindungen und Erlebnissen in diesen Tagen aufhalten, sondern ich möchte lieber auf jenen merkwürdigen Mann zu sprechen kommen, vom welchem ich vorhin geschrieben habe.

Meinen ersten Aufenthalt verbrachte ich damit, das Sellnitzland in großen Zügen zu durchstreifen, die beiden Täler und die umliegenden Dörfer kennen zu lernen, und gab dabei wenig acht auf die Kleinigkeiten am Wege. Im zweiten Jahr jedoch, als ich mir zu Betrachtungen mehr Muße gab, und mehrfach die schönsten Stellen aufsuchte, um dort zu verweilen, fielen mir verschiedene Veränderungen auf, die mir wie ein Hinweis auf das Walten eines dienstbaren Geistes im Walde erschienen. Da war etwa ein herab gefallener Ast, welcher gestern noch quer über dem Weg gelegen hatte, heute aber zur Seite geräumt lag. Oder es war eine Bank, auf welcher man gern geruht hätte, wenn sie nicht im hohen Gras und im Gestrüpp eingewachsen gewesen wäre. Kam man jedoch einige Tage später an dieser Stelle vorüber, so konnte es sein, dass die Bank vom Kraut freigelegt war. Hatte es geregnet, so bildeten sich in den Spurrinnen der Wege tiefe Pfützen, doch irgendjemand hatte, so dies nur möglich war, einen kleinen Graben gezogen, durch welchen das Wasser ablaufen konnte. Lag in einem der Rasthäuschen im Walde vielleicht ein Kram umher, so war dieser später weggetan worden, oder man fand es vom störenden Spinnweb frei. Eines Abends lobte ich darum gegenüber dem Wirt die Arbeit des hiesigen Fremdenverkehrsvereines; und dies umso mehr, da doch nur noch wenige Touristen in diese Gegend kommen. Aber der Wirt wehrte ab, und sagte, dass um diese Dinge nicht mehr viel sei. Die Gemeinde kümmere sich um die Anlagen im Dorf, und der Heimatverein halte den Sommer über einige Wege über die Weiden frei, die sonst völlig überwachsen würden. Um den Wald aber kümmere sich niemand mehr außer dem alten Anton, und was ich dort bemerkt habe, wird wohl sein Werk sein. Auf mein weiteres Fragen berichtete der Wirt noch, dass der alte Anton vor vielen Jahren ins Dorf gekommen sei, und seitdem hier gelebt habe, und was er im Walde tue, das sei ganz aus freien Stücken. Früher hätte er im Forst und auf den Wiesen gearbeitet, heute aber lebe er von seiner kleinen Rente und von den Früchten seines kleinen Gartens am Hause. Er kenne alle Stellen, wo sich Beeren und Pilze und Kräuter finden. Er helfe auch in der Kirche, bei Begräbnissen oder im Heimatmuseum. Wenn ich nur weiter durch die Wälder streife, werde es gar nicht ausbleiben können, dass ich einmal den alten Anton treffe. Dies also war das Erste, was ich über den alten Anton erfuhr, und es machte mir diesen Mann durchaus merkwürdig.

Der Wirt sollte recht behalten. Einige Tage später war ich zum Schwarzen Berg hinauf gestiegen und war dort in die Dickichte geraten. Ich hatte bisher gar nicht bedacht, dass es in diesen Wäldern Wildschweine geben könne, und wurde nun eines Besseren belehrt, als nur wenig voraus ein kräftiger Schwarzkittel aufsprang, und gegen mich Stellung bezog. Nicht weniger erschrocken als das Tier, verharrte auch ich. So verblieb es vielleicht eine Minute lang. Plötzlich tönte hinter mir ein lautes Schlagen, als ob Holz auf Holz geworfen wird. Das Schwein drehte sich um und lief davon. Aber auch ich hatte mich erschrocken umgedreht, und sah hinter mir einen Mann stehen.

„Nun da wäre die Gefahr vorbei“, sprach er.

Der Mann war sehr einfach gekleidet. Er trug nicht mehr als eine Art Kittel von rostbrauner Farbe, eine graue Arbeitshose und festes Schuhwerk. In seiner nicht mehr neuen und derben, aber durchaus reinlichen Kleidung machte er eher den Eindruck eines Waldarbeiters als eines Wanderers. In der Hand hielt er den bald mannshohen Stock, mit welchem er soeben an den Baum geschlagen hatte. Sein noch volles, aber bereits ergrautes, ja silbernes Haar hielt er unbedeckt und ein nicht zu üppiger Bart gleicher Farbe rahmte sein gebräuntes und von leichten Falten durchzogenes Gesicht. Er mochte in der Mitte des achten Lebensjahrzehntes stehen, war aber durchaus rüstig und ehrwürdig anzusehen. Offenbar gehörte er zu den Menschen, welchen die Jahre nicht schaden, sondern sie adeln. Es war mir im ersten Ansehen deutlich, dass es sich nur um den Mann handeln könne, den man mir als den „alten Anton“ bezeichnet hatte.

Er trat näher auf mich zu und sagte: „Ich dachte mir wohl, als ich Euch hier herüber gehen sah, dass es zu einer solchen Begegnung kommen könne, denn es liegen die Sauen gern in den Dickichten des Schwarzen Berges.“

Ich sprach ihm meinen Dank aus, und sagte ihm, dass ich zum ersten Mal einem solchen Tier begegnet sei. „Nun, so habt Ihr Euch fürs Erste recht wacker gehalten“, antwortete er. „Es ist gut, ihnen zu zeigen, dass man sich nicht fürchtet. Lässt du mich in Ruh', dann lass ich dich auch in Ruh'; das sollte man ihnen andeuten. Dann trollen sie sich zumeist.“

Es verwunderte mich, dass er mich mit dem altertümlichen „Ihr“ anredete. Aber ich fand es der Rede des ehrwürdigen Mannes durchaus angemessen. Er fragte nun, ob er mir noch in anderer Weise behilflich sein könne. Wahrscheinlich dachte er, dass ich mich im Walde verlaufen habe. Meine Auskunft, dass ich zur Erholung und Geisteserfrischung die Wälder durchstreife ohne besondere Ziele zu verfolgen, bereitete ihm Freude.

„Wahrhaftig!“, rief er. „Mitunter wandle ich tagelang durch die Wälder, ohne nur einen Menschen zu treffen; und wenn doch, dann ist es jemand vom Forst, oder einer, der eine entlaufene Kuh sucht. Früher, da war das freilich anders, da waren hier in den Dörfern viele Urlauber von den Gewerkschaften und den Betrieben, mehr als die Dörfer an Einwohnern hatten. Die gingen, da nicht viel anderes war, in den Wald. Vielleicht waren es damals sogar ein wenig zu viele. Heute aber kommt kaum noch jemand in diese stillen Gegenden. Es gibt hier nichts, sagen sie. Aber seht Euch doch nur um! Gibt es denn etwas Schöneres, als in einer schönen Natur zu wandeln?“

„Eben das ist es, was ich zu empfinden beginne“, antwortete ich.

Er lud mich nun ein, ein wenig zurück zu gehen, wo man eine schöne Stelle am Waldrand besuchen könne. Wir gelangten zu einer Bank am oberen Rand einer Wiese, welche sich in weitem Bogen ins Tal hinabzog. Sie lag im Schatten des Waldsaums, so dass man angenehm auf ihr rasten konnte. Wir setzten uns nieder und schauten über die Wälder und Wiesen und ahnten der Talgründe mit ihren einsamen Mühlen und stillen Weilern. Die leichten Wolken, die über uns dahin zogen, stellten die Gegenstände des Landes in wechselndes Licht. Der sanfte Wind wehte die Düfte der harzigen Fichten und Kiefern und der vielfachen Kräuter über das Land. Wir sprachen nur wenig. Ich ließ mir von ihm die Namen der Vögel nennen, welche am Himmel kreisten oder deren Stimmen aus dem Walde erklangen. Ich fragte ihn auch wie viele Tiere es im Walde gebe, und ob man sie auch sehen könne.

„Für viele Wanderer, ja selbst für die Erfahrenen unter ihnen“, antwortete er, „ist der Wald vollkommen von Tieren leer. Sie begegnen nie einem und sehen auch keines. Und das liegt nur daran, dass sie sich nicht in der richtigen Weise im Walde bewegen. Der Mensch ist für die meisten Tiere schon allein durch seine Größe respektabel. Unsere aufgerichtete Gestalt erscheint ihnen bedrohlich. Auch sind wir zu laut. Selbst wenn wir allein gehen und uns mit niemanden unterhalten, gehen wir unachtsam. Wir trappen zu fest auf, wir brechen Zweige am Boden, wir rascheln im Gras. Vor allem aber gehen wir zu schnell und zielgerichtet. All das ist den Tieren fremd und unheimlich, und sie verstecken sich vor uns. Aber mehr noch, sie warnen einander. Es gibt im Walde so etwas wie einen Nachrichtendienst, wo sie einander Gefahren melden. Der Eichelhäher ist so ein wachsamer Geselle. Habt Ihr schon einmal bemerkt, wie er vor dem Wanderer von Baum zu Baum fliegt, ihn beobachtet, und mit seinem Krächzen dem ganzen Wald verkündet, wo Ihr seid und wohin Ihr geht?“

Ich sagte ihm, dass ich diesen Krächzer durchaus schon bemerkt, nicht aber bedacht hätte, dass er ein Wächter des Waldes ist.

„Setzt man sich aber stille nieder, so wie wir es machen“, fuhr er fort, „so lassen auch die Vögel ab, und es wird selten fehlen, dass man vielleicht ein Reh, einen Hasen oder einen Fuchs in geringer Entfernung vorüber ziehen sieht.“

„Es liegt ein tiefer Frieden in diesen Wäldern“, sagte ich. „Aber man sollte sich nicht täuschen. Unbemerkt von uns findet hier der ewige Kampf ums Dasein statt.“

Aber davon wollte er nichts wissen. „Ich bin lange durch die Wälder gestreift, ich habe in ihnen gearbeitet“, entgegnete er, „und je länger ich durch die Wälder gestreift bin, desto gewisser ist mir geworden, dass diejenigen, welche von dem ewigen Kampf ums Dasein reden, den Wald nicht kennen. Wohl gibt es diesen Kampf, wohl ist es so eingerichtet, dass die Schöpfung nur von der Schöpfung leben kann, denn anders müsste immer etwas von außen hinzukommen, und das ist wohl nicht der Fall. Aber je mehr Ihr den Wald kennen lernt, werdet Ihr finden, dass die Wesen des Waldes zumeist nicht kämpfen, sondern einander aus dem Weg gehen und sich wechselseitig Raum lassen. Und auch wenn sie einander auffressen oder einander behindern, dann aus Notwendigkeit des Lebens und niemals aus Habgier oder Machtgelüst, wie es mir beinahe alle zu denken scheinen, welche vom Kampf ums Dasein so gern reden.“

Wir schauten über die Wiese in den Talgrund hinab, wo einige Kühe dahin zogen. Nach einer Zeit berührte mich der alte Anton leicht am Arm und wies still mit seinem Stock auf einen Wiesenstreifen hin. Zwei Rehe standen in den hohen Gräsern und Kräutern und ästen, und wenn sie aufschauten, waren sie gut zu erkennen. Sie mussten auch uns erkennen, da wir uns aber vollkommen still verhielten, störten sie sich nicht an uns. Langsam verschwanden sie im Wald.

„Aber so viel habe ich in der kurzen Zeit, die ich jetzt in den Wäldern zubringe, bereits erfahren“, sagte ich, „dass diejenigen, welche meinen, es sei hier gar nichts los, im Unrecht sind.“

„Nun, da habt Ihr in kurzer Zeit gute Fortschritte in den Betrachtungen gemacht“, antwortete mein Begleiter. „Die Unerfahrenen haben auf ihre Weise durchaus recht, wenn sie hier nichts entdecken. Denn hier ist nichts, was von rohen Sinnen durch Lärmen oder grellen Effekt bemerkt werden kann. Hier ist wirklich nichts los. Jedenfalls geschieht hier nichts Besonderes; nichts, was die Leute gemeinhin suchen. Aber dennoch geschieht hier etwas; nämlich das Notwendige; das, was immer geschehen muss, damit überhaupt etwas geschehen kann. Es geschieht hier das Wachsen und Reifen des Grases, der Kräuter und der Bäume, und das Leben der vielen Tiere, das Wehen der Lüfte und das Fließen des Wassers. Was aber wären wir ohne das alles? Und so habe ich schon vor langer Zeit begonnen, meine Aufmerksamkeit und meine Gedanken auf dieses Notwendige zu richten, und es will mir scheinen, dass Ihr denselben Pfad zu wandeln beginnt.“

 

Nach einer Weile, da wir ohne zu reden gesessen hatten, sagte er: „So Ihr denn möchtet, so führe ich Euch noch zu einem nahen Quell, Ablassbrunnen genannt, den kaum jemand von den Fremden, ja nicht einmal noch die Einheimischen kennen, obgleich dort das beste Wasser, wie man es nur haben kann, dem Berg entspringt. Ich hole mir gern eine Flasche voll des kostbaren Wassers, wenn ich hier vorbei komme, und nehme es mit nach Hause. Früher galt den Leuten das Wasser als heilkräftig, heute aber glauben sie den Chemikern, welche in diesen Wassern nichts Besonderes gefunden haben.“

Wir gingen am Waldrand ins Tal hinunter und überquerten auf einem Steg den kleinen Bach, welcher im Grunde dahinfloss, und gingen jenseits des Fahrwegs wieder aufwärts. Bald zweigte nach links ein Weg ab, welcher auf einer Wiese endete. Vom Wipfel einer nahen Fichte erhob sich ein großer Raubvogel in die Lüfte, um über uns zu kreisen. Seine schrillen Rufe hallten über das Tal.

„Hört Ihr“, fragte Anton, „da ist wieder so ein Wächter, der dem ganzen Wald unsere Ankunft vermeldet.“ Er zeigte dann mit der Hand über die Wiese und sagte: „Wer bis hierher kommt, und sich nicht auskennt, wird wohl wieder umkehren, weil er denkt, der Weg führe nicht weiter. Es ist aber nicht richtig.“

Wir überquerten die Wiese und tatsächlich führte der Weg jenseits wieder in den Wald hinein, und rechtsbiegend in eine Talrinne. Aus dem in der Gegend vorkommenden Gestein war hier eine kleine Mauer errichtet worden, aus welcher ein Rohr einen Wasserstrahl in ein darunter gemauertes Becken leitete. Aus einem Überlauf lief das Wasser vom Becken ab. Über dem Rohr war eine Tafel von Messing angebracht, mit der Inschrift:

Ablassbrunnen oder Heiliger Born.

Gestiftet von August Gebhard

Fürstlich-Schornburgischer Forstinspector

im Jahre 1897.

Zu beiden Seiten der Quelle waren gemauerte Bänke, auf denen Holzleisten zum Sitzen angebracht waren. Der alte Anton reinigte zunächst den Überlauf und das Wasserbecken von herein gefallenem Laub und von Zweigen, reinigte dann auch die Inschrift und das Rohr von Moos und von Flechten. Dann entnahm er seinem Rucksack einen emaillierten Becher, füllte ihn mit dem Wasser und reichte ihn mir zum Trinken dar. Ich trank und befand das Wasser sehr erfrischend und köstlich. Er nahm nun auch seine Flasche, welche zur Kühlung mit einem Überzug von grünem Filz versehen war, und sagte: „Da Ihr wahrscheinlich kein geeignetes Behältnis bei Euch tragt, so gebe ich Euch diese Flasche voll des Wassers mit. Stellt es daheim nur wieder kühl, so wird es seine erquickende Wirkung neu entfalten. Die Flasche könnt Ihr mir bei Gelegenheit wieder geben.“

Dann reinigte er mit einem Lappen die Sitzbänke und sagte zu mir: „Lasst uns noch ein wenig auf diesem Gesiedel ruhen. Es ist angenehm dem rinnenden Wasser zu lauschen, und es ist nützlich seiner Wohltätigkeit zu gedenken. Wenn es Euch genehm ist, so kann ich Euch auch erzählen, wie dieser Born vor langer Zeit entdeckt worden ist.“

Wir setzten uns gegenüber und ich sagte ihm, dass ich gern die Geschichte der Quelle hören würde. Anton trank noch etwas Wasser aus seinem Becher und begann zu erzählen:

„Vor vielen Jahrhunderten schon führte nahe diesem Orte, an dem wir verweilen, der alte Handelsweg über das Gebirge, den man die Alte Hohe Straße nennt. Wenn auch ein Saumpfad nur, so zog über ihn nicht nur der stille Händler in ferne Reiche, um das Gold des Meeres, den Bernstein, in das der Erde zu tauschen. Auch ganze Völker sind diesen Weg gegangen, namenlose, die wir nur noch aus ihren Gräbern kennen, alsdann aber auch Schwaben, Hermunduren oder Longobarden, die nach Süden zogen, neue Wohnsitze einzunehmen. Abseits dieses im Ganzen nur wenig begangenen Weges, dehnten sich aber unabsehbare, dichte Wälder über das Gebirge; das unbestrittene Reich der Bären, Luchse und Wölfe, der Auerochsen und Hirschen und aller anderen Tiere der Erde, der Lüfte und der Bäche auch. Denn die Menschen mieden die Wälder als Wohnstatt, sie waren auch damals schon Bauern geworden und gruben im Lehm der Auen und im Löß der Ebenen. Im Gebirge aber waren die Böden karg, die Winter lang und die Wetter rau. Und so verweilte nur selten ein Mensch für länger in diesen Einöden.

Als nun aber die Verkünder des Christentums über den Hohen Weg gezogen kamen, da ward eine neue Zeit im Lande. Grafen und Herzoge mit ihren zahlreichen Vasallen setzten sich über die Völker, und neben sie traten bald auch geistliche Herren, Bischöfe, Äbte und Pfaffen. Überall entstanden Burgen und Schlösser, Kirchen und Klöster. Da bedurfte es der Steine und des Holzes, und man ging in die Wälder, in die Gebirge, solches zu holen. Auch ward es eine eiserne, eine waffenklirrende Zeit, die da heraufgezogen war, und so zog man auch hinaus, das Erz zu suchen und zu schürfen, es zu pochen, es zu schmelzen und zu schmieden. So kamen immer mehr Menschen in die Gebirge: die Holzhauer, die Bergmänner, die Köhler, die Schmiede, die Fuhrleute. Doch nicht nur diese! Wie nun die heiligen Männer der Christenheit den wahren Gott verkündigt, und die heidnischen Götzen umgestürzt hatten, und wie nun gestrenge Herren von ihren Burgen herab das Land regierten, und allerorten Zins, Gült und Zehnt und vielerlei Frohnden einforderten, da ergrimmte doch so mancher von den einstmals Freien, schwur, solches nicht zu ertragen, schüttelte den Ackerlehm von seinen Schuhen und zog hinaus in die Gebirge, in die Freiheit der Wälder.

Und so ist das Gebirge, ist der Wald zum Zufluchtsort geworden, von Unzufriedenen, freiheitlich Gesinnten, auch von Geächteten, Verbrechern, oder die man dafür hielt, für Gottlose, Narren und Heilige, für alles, was die Gemeinheit nicht versteht, nicht verstehen will.

Diese Weltflüchtigen hausten in Hütten von Reisig, Moos und Rasensoden, sie kleideten sich in die Felle der Tiere und nährten sich von den Früchten des Waldes, von Kräutern, Beeren und Pilzen und von allerlei Wildbret, wie sie es erlangen konnten. Aus dem Harz der Bäume, aus Kräutern und Pilzen sotten sie Schmieren und Tinkturen, Latwergen zu heilsamen, zauberischen Gebrauch. Vom Christengotte, der ihnen Knechtschaft gebracht hatte, wollten sie nichts wissen, sie hingen am alten Brauch und huldigten den heidnischen Götzen. So war in die ungeschlachte Natur des Waldes auch etwas Verwunschenes gekommen, etwas Zauberisches, vom wilden Manne, von Zwergen und Hexenhäuschen, wie es unsere Märchen noch heute erzählen.

Den Herren draußen im Lande war solch loses Treiben freilich ein Ärgernis. Bald häuften sich beim Grafen und beim Bischof die Klagen, droben, auf dem Gebirge, da herrsche ein wüst heidnisches Wesen, eitel Götzendienst und Zauberei, da lästere man des wahren Gottes und seines eingeborenen Sohnes, da spreche man jeglicher Obrigkeit Hohn. Da sei jeder sein eigener Herr und bediene sich seiner Fäuste als seines Rechtes.

Brandis, so hieß einer der wildesten dieser Waldkerle, der hauste nicht fern dieses Ortes hier zusammen mit einem grässlichen Hund in einer Mooshütte, darinnen er sein übles Wesen trieb, lästerlich in allen Dingen vor den Augen des Herrn. Diesen nun befiel eines Tages ein Unflat, ein Aussatz mit eitrigen Beulen und scheußlichen Geschwüren am ganzen Leib. Da halfen nun all seine Tinkturen und Schmieren nichts, davon ward das Übel nur schlimmer. Da halfen auch all die Zauber nicht, die er kannte, alles Beschwören der heidnischen Dämonen, seien es nun die holde Fricka, der Radegast oder gar der grässliche Triglav, auch dieses half ihm nicht. Da trieb es ihn hinaus, sich von einem hohen Felsen zu stürzen. Wie er nun einen solchen erklommen, und ins Tal hinab sah, wo die Menschen wohnen, da hörte er vom fernen Kloster her ein Glöckchen läuten, wie es die Frommen zum Gebet rief. Da lief er von dannen und kam zu diesem Orte hier, und warf sich auf die Erde nieder, schwor den Götzen ab, und gelobte, dem wahren Gott ein Kirchlein zu bauen, wenn er nur von dem garstigen Gebrest erlöst werde. Sogleich hörte er ein nahes Plätschern und Rinnen, und wie er sich erhob, da sah er ein freundliches Bächlein aus der Erde quellen und sich in eine Mulde ergießen. Dahinein warf sich nun der wüste Brandis und wälzte sich darinnen wie eine Sau in der Suhle. Aber siehe! Fortan waren Aussatz und Unflat von ihm gewichen. Da ward Brandis voll des Gotteslobs. Er ging zu seiner Hütte und warf alle Knochen und Tierschädel und alles andere Götzenwerk fort, stürzte die Sudelkessel um, und richtete aus zwei Ästen ein Kreuz zum Zeichen auf. Er lief hinunter zum Abt des Klosters und ließ sich taufen und ward fortan ein eifriger Verkünder des Christengottes im Walde. Wo seine Hütte gestanden hatte, da errichtete er eine kleine Kapelle, Sankt Brandis genannt, denn er stand bald im Rufe großer Heiligkeit im ganzen Land. Selbst sein Hund wurde fromm und ministrierte ihm beim Lesen der Messe mit den Glöckchen. Nach seinem Tode wallfahrten viele Fromme zu diesem abgelegenen Kirchlein auf der Gebirgshöhe als zu einem besonderen Gnadenort. Auf dem Weg dorthin rasteten die Pilgrime zuletzt noch einmal an diesem Ort, am wundersamen Quell, da Brandis Heilung gefunden hatte, und hofften, wie einst Sankt Brandis, selbst Ablass von ihren Sünden zu erlangen. Deshalb also nennt man noch heute diese Quelle Ablassbrunnen – und sie hat uns Gelegenheit gegeben, zugleich ein wenig über das seltsame Weben im Walde zu erfahren.“