MANATOA und Die Wandlungen des Heiligen Wendelin

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Während der Alte mir diese Geschichte erzählte, fragte ich mich, ob er nicht selbst so ein Schrat sei, ein Weltflüchtiger, ein Geächteter, ein heiliger Narr?

Anton hatte seine Erzählung beendet und ich bedankte mich und sagte: „Es gibt das Sprichwort: wenn es auch nicht wahr ist, so ist es doch gut erzählt.“

Er aber lächelte und antwortete: „Mitunter sollten wir aber auch das, was gut erzählt ist, für wahr halten.“ Ich bedankte mich für seine Erzählung, und sagte, dass auf solche Weise wohl zu erklären sei, dass uns der Wald nicht nur als ein geheimnisvoller Ort erscheine, sondern auch als ein Hort der Freiheit.

Auf die Berge will ich steigen

wo die frommen Hütten stehen

wo die Brust sich frei erschließet

und die freien Lüfte wehen.

zitierte ich Heine und er gab mir vollkommen recht.

„Auch ich fühle mich im Walde völlig gelöst von allem Druck des Alltags, von allen Verpflichtungen, deren Sinn kaum einzusehen ist, sobald man nur etwas höhere Einsicht erlangt hat“, sagte ich. „Auch dies kann ich vollkommen einsehen“, antwortete er, „doch bedenkt, es ist etwas anderes, im Walde spazieren zu gehen, als im Walde zu leben.“ Ich fragte ihn, ob es auch heute noch Waldschrate gebe.

„Ganz gewiss gibt es diese!“, entgegnete er. „Es hat immer Waldmenschen gegeben, und es wird sie immer geben, solange es Wälder gibt. Mitunter liest man in der Zeitung, dass einer entdeckt worden ist. Meist aber sind es Sonderlinge, Abseitige, die nicht über die Strahlkraft des Heiligen verfügen. Und so ist es, wie mit den Menschen überhaupt auch mit dem Walde und seinen Bewohnern anders geworden: das Heilige ist auch hier geschwunden, ja verloren gegangen.“

Wir saßen noch eine Weile schweigend am Brunnen. Ich schaute das Gewirr der Himbeer- und Farrenkräuter umher und dahinter die ragenden Fichten. Das Gewässer lief zwischen uns durch die Kieseln, und mir fiel auf, dass es ganz unsichtbar bliebe, wenn es sich nicht bewegte. Die Sonne versank allmählich hinter den fernen Wäldern. Dann brachen wir auf und gingen wieder über die Wiese bis zum Fahrweg zurück. Dort trennten wir uns. Ich dankte ihm nochmals für alles und ging ins Tal hinunter, um auf kurzem Wege ins Dorf zurück zu kehren; er ging denselben Weg weiter, den wir gekommen waren. Dies war meine erste Begegnung mit dem Manne, den man „den alten Anton“ nannte, und den die Einheimischen für einen liebenswürdigen, aber auch wunderlichen Kauz hielten.

Zwei Tage später suchte ich den alten Anton auf, um ihm seine Trinkflasche zurück zu bringen. Der Wirt hatte mir gesagt, dass ich ihn im Hause des Heimatmuseums finden könne, weshalb ich mir vorgenommen hatte, zugleich dem Museum einen Besuch abzustatten.

Das Heimatmuseum befand sich in einem breiten, behäbigen Fachwerkhaus in der Mitte des Dorfes gegenüber der Kirche. Zur Straße hin war ihm ein mit niedrigen, gut beschnittenen Hecken eingerahmter Platz vorgelagert, in dessen Mitte eine kleine Sonnenuhr aufgestellt war. Eine Tafel verkündete Tag und Stunde der Öffnung, und diese hatte ich mir für meinen Besuch auserwählt. Ich ging zu dem Eingang an der Seite des Hauses und drückte die Klinke der Tür nieder, aber es war verschlossen. Ich klingelte. Niemand öffnete. Ich klingelte nochmals, aber wieder tat sich nichts. Ich lauschte an der Tür; es war kein Ton zu vernehmen. Nun ging ich vorn um das Haus herum, um zu schauen, ob ich auf der anderen Seite mehr Erfolg hätte. Zwischen dem Haus und einer Mauer schlüpfte ich hindurch und fand tatsächlich eine kleine Tür, die offen stand. Ich ging hinein und einen dämmerigen Gang unter einer Treppe hindurch. Nun stand ich in der Diele des Hauses, hinter der Tür, an welcher ich Einlass begehrt hatte. Links und rechts von mir waren die Türen, welche in die Zimmer des Hauses führten, hinter mir die Treppe ins Obergeschoss. Ich klinkte an allen Türen, aber keine davon fand ich offen. Im Obergeschoss war es nicht anders. Enttäuscht zog ich mich zurück. Als ich aber durch den dämmerigen Gang wieder hinaus wollte, sah ich, dass dort eine Tür, an welcher ich zuvor achtlos vorübergegangen war, einen Spalt offen stand. Ich klopfte, ich rief; niemand antwortete. Dann schob ich die Tür vorsichtig auf und sah hinein. Drinnen standen Küchenmöbel und Geräte. Ich zog die Tür wieder zu und ging hinaus ins Freie. Da aber kam mir der alte Anton entgegen. Er grüßte mich und war voller Freude. Ich grüßte ihn zurück und sagte, dass ich ihm seine Trinkflasche zurück bringe, und hoffe, dass er sie nicht entbehrt habe. Dann sagte ich ihm, dass ich bei dieser Gelegenheit gedacht hatte, das Museum zu besichtigen, und dass ich nun enttäuscht wäre, alles verschlossen zu finden, obwohl doch der rechte Tag und die rechte Stunde sei.

„Habt Ihr denn nicht die Telefonnummer auf der Tafel gelesen?“, fragte er.

„Doch, ich habe sie gesehen“, antwortete ich, „aber was sollte ich mit dieser?“

„Ihr hättet diese Nummer anrufen sollen, dann wäre der Doktor Schröder aus Schornburg gekommen, und zwar zu der angegebenen Zeit, und nur zu dieser, und er hätte Euch die Zimmer aufgeschlossen, hätte Euch alles gezeigt und erklärt.“

„Und ich habe es so gelesen, als sei heute offen, und nur, wenn ich an einem anderen Tage das Museum besichtigen möchte, müsse ich mich an diese Telefonnummer wenden!“

„Also wäre das gründlich misslungen“, rief er. „Grämt Euch aber nicht! Ihr müsst nämlich wissen, dass ich in diesem Hause wohne, und als so eine Art Hausmeister für alle Zimmer Schlüssel verwahre. Ich will Euch daher gern alles aufschließen und Euch alle hier verwahrten Sachen zeigen. Und obgleich ich kein promovierter Kunstwissenschaftler bin, wie der Doktor Schröder oder wie seine Vertreterin Frau Paffrath, und ich daher eigentlich gar keine diesbezügliche Berechtigung vorweisen kann, werde ich Euch vielleicht das Eine oder Andere auch erklären können.“

Ich bedankte mich und nahm seine Einladung gern an. Er ging in seine Kammern, holte die Schlüssel und führte mich in die Zimmer. Es war in ihnen das, was in einem solchen Museum zu erwarten war: alte Schautafeln und Bilder zu den Gewerken im Dorf, alte Fotos von Pfarre und Schule, Dorfkonsum und Gemeindehaus. Erinnerungen an den Besuch des letzten regierenden Fürsten. Vor allem aber dienen solche Museen als Sammelstätte von Urväters Hausrat. Tische, Stühle, Betten, Teller, Töpfe, Kannen, Butterfässer, Nachttöpfe, und was dergleichen alles in den Häusern unserer Vorfahren vorhanden war, und was den heutigen Bewohnern nur noch Krempel vorstellt. In den letzten Jahren waren dann noch vielleicht die Schreibmaschine des Bürgermeisters von 1968 oder die Wanderfahne der Rinderzuchtbrigade hinzugekommen, errungen im Sozialistischen Wettbewerb zum IX Parteitag der SED.

Über einige Sachen, nach denen ich gefragt hatte, ergaben sich Betrachtungen über die Geschichte des Dorfes.

„Es hat in diesen Gebirgsgegenden zu keiner Zeit eine Landwirtschaft im eigentlichen Sinne gegeben.“ erzählte der alte Anton. „Als ich vor vielen Jahren hierher kam, da gab es zwar noch einige Felder, auf denen ein wenig Roggen, Kohl und Gemüse angebaut worden ist, aber es war mehr zur Selbstversorgung der Bewohner, als etwa zum Verkauf geeignet. Als dann die Genossenschaften gebildet wurden, und selbst dieses kleine Dorf davon nicht verschont geblieben ist, da wurde alles in Weideflächen verwandelt, und die blühenden Wiesen sind wie ein prachtvoll gesticktes Tuch, in welches das Dorf gehüllt liegt. Ernähren konnte sich von den geringen Feldern und von den Wiesen aber kaum jemand. Das ist heute so, und das war früher nicht anders. Viele haben im Forst Arbeit gefunden, andere aber vor allem im Bergbau und in den Steinbrüchen. Wenn Ihr aufmerksam über die Wiesen schaut, so könnt Ihr mitunter Baumgruppen entdecken, die auf Schutthügeln wachsen. Dies sind die Halden von dem Bergbau, welcher hier auf das Eisen oder zuletzt sogar auf Uran umging. Leider, oder sollte man nicht besser sagen, zum Glück, wurde man andernorts besser fündig, und man gab das Schürfen hier auf. Sonst hätte man wohl das ganze Gebirge um und um gewälzt, und es sähe jetzt ganz anders aus.“

Ich fragte nach der deutlich sichtbaren Halde unmittelbar oberhalb des Dorfes am Pfarrberg.

„Diese Halde und auch die weiter oben im Sellnitztal, gehören den Schieferbrüchen an“, erklärte er. „Der hiesige Schiefer eignet sich aber nicht für Platten, sondern man hat aus ihm die Griffel hergestellt, mit denen jedes Schulkind noch vor einigen Jahrzehnten das Schreiben gelernt hat. Als aber andere Schreibgeräte in Gebrauch gekommen sind, ist auch dieses Gewerbe wieder eingegangen, und aus der Griffelfabrik wurde die heute noch bestehende Holzwarenfabrik am unteren Eingang des Ortes, der einzige produzierende Betrieb, den es hier noch gibt. Schließlich findet man in der Umgebung noch einen sogenannten Marmor, einen dunklen, von ockergelben Bändern durchzogenen Kalk, der früher gern als Baustein verwendet wurde. Am Ablassbrunnen, an seinen Einfassungen, habt Ihr ihn bereits kennen gelernt. Die Kirche hier im Ort hat man aus ihm errichtet, auch findet Ihr ihn in den Einfassungen des Baches. Der Gedenkstein zur Erinnerung an den Fürstenbesuch vor dem Gemeindehaus ist auch von diesem Material, das, wie man dort sehen kann, im polierten Zustand durchaus ansehnlich wirkt. Auch hat es der Fürst selbst im Schloss zu Schornburg für Fußböden und Wandverkleidungen ausgiebig benutzt. Diese Steinbrüche, von denen Ihr noch hinter der Kirche oder hinter Eurer Pension finden könnt, waren es, welche Goethen im Jahre 1782 in dieses abgelegene Tal lockten, um sie zu besichtigen.“

Er zeigte mir einen abgelichteten Auszug aus den Tagebüchern des Dichters, welcher sein Hiergewesensein dokumentierte. Ich fragte ihn, ob ein solcher Eintrag für ein Thüringer Dorf so etwas wäre wie die Erhebung in den Adelsstand. Er lachte und sagte: „Das ist wohl so. Diese Tagebücher werden aufs Genaueste nach solchen Einträgen untersucht. Und als man den Deesnitzer Eintrag gefunden hatte, da wurde ein kleiner Brunnen zum Gedenken errichtet und ein kleines Fest gefeiert. Da suchte man einen leibhaftigen Goethe, der dort umher wandeln sollte; und man kam auf keinen andern, als auf mich, der den Dichter vorstellen sollte. Den ganzen Tag über bin ich im Rocke mit dem Ordensstern im Dorf auf und ab gewandelt und habe mich fotografieren lassen, habe auch hin und wieder einige Verse oder Weisheiten des großen Mannes zum Besten gegeben, am Abend sogar an jenem Brunnen den „Granit“ vorgelesen. Als ich aber spät mein Zimmer betrat, da verwunderte ich mich, und ich begann zu rechnen, und stellte fest, dass ich gar nicht den alten, sondern den dreiunddreißigjährigen Goethe hätte vorstellen müssen, und mit meinem schon damals grauem Haar dafür ganz ungeeignet gewesen bin. Gesagt habe ich aber von dieser Entdeckung niemandem.“

 

Er wies mich nun in ein neues Zimmer des Museums. Darin befanden sich neben allerlei Geräte vor allem ein bemalter Schrank mit einer Vielzahl von Fächern mit lateinischen Aufschriften und ein dazu gehörender Tresen. Ich fragte, ob dies die historische Apotheke sei, von der ich schon gehört hatte.

„So ist es“, antwortete er. „Dieser Schrank, der Tresen und die anderen Geräte sind die Hinterlassenschaft des einst berühmten Apothekers Johann Michael Zerenner, der in dem Hause direkt hinter dem Gasthof wohnte und wirkte. Alle Gewerke, von denen wir bisher gesehen haben, die Forste, die Landwirtschaft, der Bergbau und die Steinbrüche reichten nicht hin, die auch in diesen abgelegenen Gebirgen wachsende Bevölkerung zu nähren. Und so begannen die Menschen einen weiteren Reichtum des Landes zu erschließen, nämlich die hier so mannigfaltig wachsenden Kräuter des Waldes und der Wiesen. Und so entstand das, was man als das Laboranten- und Olitätenwesen bezeichnete. Weiblein und alte Männer gingen in den Wald und sammelten, was es da an nützlichen und wohltuenden Kräutern und Wurzeln gab. Sie brachten es zu den Laboranten und Apothekern, die es zu verschiedenen Arzneien verarbeiteten, die mitunter seltsame Namen trugen, wie Stinkbalsam, Hingfong, Painexeller oder Opodeldok.“

„Opodeldok?“, fragte ich.

„Ihr kennt Opodeldok?“

„Ich kenne es aus der Literatur“, antwortete ich. „Mit Opodeldok rieb sich der brave Soldat Schwejk sein rheumatisches Knie ein.“

„Das verwundert mich nicht“, entgegnete der alte Anton, „denn die hiesigen Arzneien wurden weit hinaus in die Länder verbracht, von den sogenannten Buckelapothekern, die ausgestattet mit einem fürstlichen Reisepass und mit einem Reff, einem Gestell auf dem Rücken durch die Länder zogen, bis nach Holland, in die Schweiz und nach Polen oder auch nach Böhmen. Da wird es dann auch zu dem braven Soldaten gelangt sein.“

Er zeigte mir nun ein altes Buch und wies darauf hin, dass dieses zu den bedeutenden Besitztümern des Museums gehöre. Ich las den umständlich barocken Titel:

Kurze, doch hinlängliche Nachricht vom nützlichen Gebrauch und kräftiger Wirkung verschiedener bewährt gefundener Medicamenten, welche von Johann Michael Zerenner, geschworenen Laboranten zu Deesnitz in dem Fürstenthum Schornburg verfertigt und daselbst ausgegeben werden.

Auf dieses Buch, das in mehreren Auflagen gedruckt worden ist, gründete sich der Ruhm Zerenners, erklärte der alte Anton. Aber auch dieses Gewerke konnte sich nicht halten, mit der Gesetzgebung des Deutschen Reiches fand es sein Ende. Ich sprach mein Bedauern aus, dass damit dieses Wissen wahrscheinlich verloren gegangen ist.

„Es ist nicht ganz verloren gegangen“, erwiderte der alte Anton. „Es gibt hier in den Dörfern durchaus hier und da ein Weiblein, welches das Laborantenwesen noch immer betreibt. Ist es auch verboten, selbstgemachte Olitäten gewerblich zu verkaufen, so kann man sie für den Eigengebrauch durchaus herstellen und verwenden. Auch ich habe mich in diese Kunst vertieft, und habe verschiedene Mittel zur Hand. Ich gebrauche sie aber nur selten. Denn da ich viel im Freien bin, und vor allem mäßig lebe, werde ich nur selten krank. Wenn mich aber doch einmal, wie es im Alter kaum zu vermeiden ist, ein geringes Unwohl befällt, dann reichen die Mittel der Kräuterapotheke hin, der Gesundung beizustehen.“

Auf diese Weise kamen wir auf die Dinge der Gesundheit zu sprechen. Dann führte er mich in das letzte Zimmer der Ausstellung. Hier ging es um den Tourismus, der etwa zur gleichen Zeit begann, als das Laborantenwesen einging.

„Im späten neunzehnten Jahrhundert kamen dann die Touristen“, erklärte mein Führer. „Die Mühlen, die Blechhämmer schlossen und bauten um zu Gasthäusern und Pensionen, bald mit fließend kaltem Wasser und mit elektrischem Licht. Mittlere Beamte, Offiziere, Handwerksmeister, Lehrer und Pfarrer mit ihren Familien weilten dort zur Sommerfrische, wie es damals hieß. Nach dem letzten Kriege folgten dann die Gewerkschaften und die Betriebe, die ihre Urlauber nach Deesnitz brachten. Ich glaube, ich habe Euch schon gesagt, dass es mitunter arg viele waren.“

„Und mir will scheinen“, sagte ich, „dass darin ein wesentlicher Grund liegt, dass die Leute über ihrem fürsorglichen Staat mit seinen Gewerkschaften und Betrieben unzufrieden wurden. Jahr für Jahr immer nur nach Deesnitz zu fahren, war ihnen am Ende zu langweilig. Und fuhren sie nach Bad Liebenstein, dann sah es dort nicht viel anders aus als in Deesnitz und in all den anderen Orten, in denen sie schon waren. Überall gab es nur diesen immer selben Wald, hier und da eine Burg und ein Forsthaus mit Ausschank. Mehr nicht. Und das war ihnen auf Dauer zu langweilig.“

„Aber nicht nur das war ihnen zu langweilig“, entgegnete der alte Anton, „es war ihnen auch zu langweilig immer dieselben Autos zu fahren, in immer denselben Wohnungen mit den immerselben Möbeln, zu wohnen, immer dieselben Speisen zu essen, immer dieselben Personen an der Spitze des Staates zu sehen, und von ihnen immer dieselben Reden zu hören. So ist wahrscheinlich dieser Staat zuletzt an nichts anderm zugrunde gegangen als an der Langeweile seiner Bewohner. Und kluge Regenten werden ihre Schlüsse daraus gezogen haben.“

„Aber das haben sie schon seit vielen Jahrhunderten getan“, erwiderte ich. „Wahrscheinlich mangelte es den regierenden Sozialisten an der klassischen Bildung, denn wie sonst ist es zu erklären, dass sie nicht wie die staatsklugen Römer wussten, dass der Mensch nicht vom Brote allein lebt, sondern auch der Spiele bedarf?“

Wir waren mittlerweile wieder auf der Diele des Hauses angelangt, da wir alle Zimmer besehen hatten. Ich fragte, was ich für Eintritt und Führung im Museum schuldig sei. Er wies auf einen Kasten an der Tür und sagte: „Legt dort hinein, was es Euch wert war, und damit soll es gut sein.“ Ich legte etwas hinein. Anton verschloss reihum die Türen und sagte dabei zu mir: „Ihr erwähnt die Klugheit der Römer, aber ein Anderer, hat zur Ergänzung des Brotes anderes genannt als die Spiele, nur möchte davon heute bald gar niemand mehr etwas wissen.“

Dann sagte er: „Die meisten Menschen lieben nichts so sehr wie die Abwechslung, und zwar in einem solchen Maße, dass man behaupten kann, sie lieben die Abwechslung um ihrer selbst willen, und sie stürzen sich lieber in Abenteuer, nur um nicht bei einem Bewährten verharren zu müssen. Wie oft kann man von ihnen hören, so etwas tue oder sage man heute nicht mehr, und wenn man sie nach den Gründen dafür fragt, bekommt man nicht viel mehr zu hören, als dass das eben heutzutage so sei; es wäre nicht modern und nicht fortschrittlich. Mode und Fortschritt gelten allgemein als Werte an sich, und wer sich glaubhaft als fortschrittlich darzustellen versteht, der rennt überall offene Türen ein. Sie scheuen das Einerlei wie der Teufel das geweihte Wasser. Sie kennen nicht das Wort eines Weisen, dass es neben dem gewöhnlichen Einerlei auch ein Einerlei gibt, welches so erhaben ist, dass es als Fülle die ganze Seele ergreift und als Einfachheit das All umschließt. Als wir zuletzt an der Wiese verweilten, und als wir das rinnende Wasser sahen und lauschten, haben wir vielleicht einen Abglanz dieses hoch erhabenen Einerleis erfahren können.“

Ich bedankte mich nun für alles, was er mir gezeigt, und was er mir gesagt hatte, und wollte mich von ihm verabschieden. Er hielt mich aber zurück und sagte: „Ihr habt Euch bei mir bedankt, aber auch ich muss mich bei Euch bedanken, denn es war mir ein hohes Vergnügen, mit Euch durch diese Räume zu wandeln. Es kommt nicht häufig vor, dass ich mich über bedeutende Gegenstände unterhalten kann, und so Ihr nichts anderes vor habt, möchte ich Euch bitten, noch ein wenig in meine Gemächer zu kommen, wo ich Euch vielleicht noch dies oder das zeigen, wenigstens aber Euch eine Erfrischung anbieten könnte.“

Ohne zu zögern nahm ich seine Einladung an.

Er führte mich nun durch den Gang und wir betraten das Zimmer, in welches ich vorhin durch die angelehnte Tür geschaut hatte. Wie ich bereits vermutet hatte, diente es ihm als Küche. Die Schränke, der Tisch und die beiden an ihm stehenden Stühle mochten bald fünfzig Jahre alt sein und machten einen ziemlich abgenutzten Eindruck. Aber es war überall reinlich und aufgeräumt, nirgends lagen Küchen- oder Essgeschirre herum, wie es bei mir der Fall gewesen wäre, hätte ich unverhofft Besuch empfangen müssen. Er führte mich nun nach links durch eine niedrige Tür in seine Stube, aber im Hindurchgehen hatte ich noch bemerkt, dass er außer einem Wasserkocher und zwei elektrischen Kochplatten über kein modernes Gerät, wie etwa Kühlschrank, Herd oder Mikrowelle verfügte. Einem König des Waldes, dachte ich, steht so etwas wohl auch nicht an.

In der Stube jedoch erstaunte ich. Es war ein niedriges Gemach, das nur von zwei kleinen Fenstern erhellt wurde, wie in einem so alten Haus nicht anders zu erwarten. In der Ecke stand ein kleiner Kachelofen, der in die Küche hinüber ging und von dort geheizt wurde. An den Wänden war weiße Tapete ohne Muster. Über die Decke zogen sich zwei braun gebeizte Balken und der Boden bestand aus ebensolchen Dielen. Was mich aber staunen machte, waren die Möbel, die ich hier vorfand. Auch sie waren nicht mehr ganz neu und zeigten geringe Spuren von Alter und Gebrauch. Aber weder das mit Schubfächern versehene Schränkchen, noch das Bücherregal, der Sessel, die Sitzbank in der Ecke mit dem Tisch und dem Stuhl davor, machten auf mich den Eindruck, als wäre so etwas jemals in einem Möbelhaus zu kaufen gewesen. Alles war sehr solide, ohne Schnörkel, aber in gefälligen Maßen und aus ansehnlichem Holze gearbeitet, und zwar so, als wäre es einzig nur für dieses Zimmer geschaffen worden. Er schien meine Verblüffung zu bemerken und sagte: „Ich habe mir vor ungefähr fünfzehn Jahren diese Möbel für dieses Zimmer bauen lassen. Es war eine schwierige Zeit, und die Holzwarenfabrik hier im Dorfe suchte dringend Aufträge, während ich eine kleine Lebensversicherung ausgezahlt bekam. Dabei hatte ich gedacht, die Leute im Dorf würden meinem Beispiel folgen, wenn sie sehen, was man für schöne Möbel haben kann. Aber Ihr habt ja gesehen, sie geben ihre besten Sachen lieber ins Museum und kaufen sich für teures Geld schwülstige und hässliche Dinge, die zudem nichts taugen und bald kaputt gehen.“

Er wies mich auf bestimmte Eigenschaften hin, auf welche er Wert gelegt habe. „Vor allem sollten Möbel keine scharfen Kanten und Ecken haben an denen man sich stoßen könnte“, sagte er. „Tische und Gesiedel sollten auch nicht zu niedrig sein, so dass man sich quetschen und wälzen muss, und nur mühsam wieder auf kommt. Auch diese Weichlichkeit von Polstern, in denen man fürchten muss, bis über die Ohren zu versinken, war mir stets ein Greuel. Es sollte echtes Material verwendet werden und alle Zier sollte aus dem Unterschiede der Hölzer und den gefälligen Proportionen der Dinge stammen. In der nächsten Kammer hier hinten würdet Ihr noch einen größeren Kleiderschrank und ein Bett finden, die nach denselben Grundsätzen gebaut worden sind.“ Er machte mich noch auf eine Klappe an dem oberen Ende des Tisches aufmerksam, die mit einem leichten Eingriff versehen, abgehoben werden konnte. Darunter befand sich ein flacher Kasten, in dem allerlei Schreibgeräte aufbewahrt waren.

Er lud mich nun ein, mich auf die Eckbank am Tische, dem „Gesiedel“, wie er sich auszudrücken pflegte, zu setzen. Von den Getränken, die er mir dann anbot, wählte ich wieder das Wasser vom Klingeborn. Er ging hinaus, das Gewünschte zu holen, und ich sah mich noch einmal um. Auch dieses Zimmer war reinlich und es lagen keine Gegenstände umher. Auf dem Tische stand eine Schale mit Äpfeln. In einer Ecke des Zimmers befand sich ein gedrechselter Ständer mit einer Topfpflanze darauf. Wiederum sah ich keinerlei moderne Geräte, keinen Fernsehapparat, kein Radio, auch keinen Computer. Ich vermutete, dass er auch über kein Telefon verfüge. Neben dem Ständer mit der Pflanze sah ich einen Behälter, in welchem sich Zeitungen befanden. An den Wänden befand sich außer einer Stickerei in einem ovalen Rahmen, welche eine Vase mit Blumen zeigte, kein weiterer Schmuck.

 

Es ist neugierig und ungebührlich, das Bücherregal von anderen Leuten unaufgefordert zu mustern, aber ich konnte mich nicht enthalten, nachzusehen, was so ein Waldschrat, für den ich den alten Anton unbedingt hielt, lese. Ich stand also auf, trat zum Regal und schaute. Aber kaum hatte ich damit begonnen, war er schon wieder im Zimmer. Ich wollte eine Entschuldigung stammeln, aber er sagte: „Schaut Euch nur um. So Ihr ein Buch gebrauchen könnt, dürft Ihr es ruhig mitnehmen und es mir bei Eurer Abreise wieder geben.“

Nun sah ich genauer hin. Vor allem fand ich ältere Dichter, unsere Klassiker: Wieland, Goethe, Jean Paul, Heine, Stifter. Von den Neueren etwa Joseph Roth oder Hesse. Von den Ausländern schien er die Russen zu schätzen, Lew Tolstoi und Leskow fielen mir auf. Dann der Don Quichote und auch Sterne und Flaubert. In der philosophischen Abteilung fand ich neben Schopenhauers Aphorismen auch Spinoza und Pascal, dann, worüber ich am meisten erstaunte, Predigten des Meisters Eckehart und die Sendbriefe des Jakob Böhme.

„Die meisten dieser Bücher habe ich für wenig Geld erstanden“, sagte er. „Denn es steht um die Bücher nicht anders als um all die anderen Dinge: die Leute schätzen es nicht mehr und geben das Beste fort. Ich habe dennoch darauf geachtet, gute Ausgaben zu erhalten, also gebundene Bücher und nicht bloß zusammengeleimte. Nur wenn mir der Inhalt sehr wichtig war und es zu vernünftigem Geld nicht anders zu haben war, dann habe ich mich mit Geringerem zufrieden gegeben. Es sind hier keineswegs bibliophile Kostbarkeiten versammelt, aber seht einmal dies:“ Er zog eine alte Ausgabe von Gotthelfs „Uli der Knecht“ heraus. Er blätterte auf und zeigte mir verschiedene Illustrationen im Buch. „Ich habe die beiden Bände für jeweils einen Euro in einer Wühlkiste gefunden“, sagte er, „aber nicht nur, dass es große Literatur ist, diese unscheinbaren Holzschnitte machen es mir noch werter. Wo findet man heute so etwas Geringes und doch Schönes?“

„Illustrierte Bücher sind heutzutage nahezu unbezahlbar und damit unverkäuflich“, antwortete ich. „Nun, dann besteht darin offenbar der Fortschritt“, sagte er.

Ich sagte ihm nun, dass ich bei Gelegenheit auf sein Angebot mit den Büchern zurückkommen werde. Er lud mich ein, mich am Tisch zu setzen und er schenkte mir aus einer Kanne das Wasser, das er aus dem Keller geholt hatte, in einen Becher.

„Ich habe immer von diesem Wasser vorrätig“, sagte er, „und da in diesem Haus früher Bier gebraut wurde, verfügt es über einen guten Keller, in dem es neben anderen Dingen frisch gehalten werden kann.“ Dann zeigte er mir noch eine Flasche mit der Aufschrift „Herztinctur – destilliert nach den Originalrecepten des Johann Michael Zerenner, geschworenen Laboranten zu Deesnitz“, und sagte: „So Ihr möchtet, schenke ich Euch auch davon etwas ein; es belebt den Kreislauf und somit auch den Geist; es ist in geringer Menge genossen sehr nützlich.“

„Habt Ihr es gemacht?“, fragte ich ihn, und war überrascht, dass ich ihn nun auch so angeredet hatte, wie er mich.

„Nein, ich brenne keinen Schnaps“, antwortete er. „In einem der Nachbardörfer gibt es eine kleine Brennerei, welche sich den alten Rezepten aufs Neue gewidmet hat.“

Ich sagte zu, und er schenkte mir und sich selbst ein kleines Glas davon ein.

Wir unterhielten uns noch über verschiedene Gegenstände. Dann führte er mich hinaus und zeigte mir seinen kleinen Garten hinter dem Hause. Auf den Beeten wuchsen vor allem Gemüse verschiedener Art und Kräuter. Auch hatte er ein kleines Gewächshaus, in welchem er Tomaten zog. An der zum Berghang abschließenden Mauer hatte er Rosenstöcke gepflanzt. „Außer diesem Schmuck werdet Ihr keinen weiteren Zierrat im Garten finden“, antwortete er auf meine diesbezügliche Frage, und er wies in den weiten Umkreis: „Blumen findet man hier um das Dorf genug. Es sind nur die Blumen des Feldes, der Wiesen und der Wegränder, mir aber stehen sie in der Schönheit nicht hinter den kunstvollsten Züchtungen zurück. Besonders ist mir die unscheinbare Karthäusernelke ans Herz gewachsen, und ich erfreue mich jedes mal, wenn ich sie am Wegrand finde.“

Ich bedankte mich noch einmal für alle mir erwiesene Gefälligkeit und verabschiedete mich. Ich ging die Dorfstraße hinauf. Die Sonne war schon hinter den höheren Bergen verschwunden. Die Schwalben segelten in raschem Flug vorüber. Der Bach rauschte unablässig in seinem Bett. Es war kein Mensch auf der Straße zu sehen. Unweit der Pension steht in einem Rondell eine mächtige Linde, die von einer runden Bank umstanden wird. Ich setzte mich darauf und bedachte, was ich gesehen und gehört hatte. Und es fiel mir ein, dass auch ein Mensch einem Baume gleichen könne: kräftig in der Wurzel und zum Himmel ragend seine Zweige.

An den folgenden Tagen begegneten wir uns öfter im Dorf oder im Walde und wir gingen gemeinsam verschiedene Wege. Obgleich wir uns niemals verabredeten oder einander suchten, geschah es, denn wir lernten bald die uns liebsten Plätze und Wege kennen, und da meine Vorlieben sich allmählich den seinen anglichen, trafen wir immer häufiger zusammen. Da gab es das Häuschen ober dem Elschnitztal oder weiter droben das Haus am Talberg, wo man wundersam weit über die Wälder und Berge schauen konnte. Oft traf ich ihn auch am Pfarrberg bei den Steinbrüchen oder, besonders an den heißen Tagen, am schattigen Sommerhäuschen ober Rohrau. Immer wieder aber kehrten wir zum Ablassbrunnen zurück, wo man so angenehm ruhen konnte. Einmal in der Woche ging der alte Anton dorthin mit einem kleinen Fasse auf einem Handwagen, um sich seinen Vorrat am heiligen Wasser zu holen, und ich half ihm hin und wieder dabei.

Eines Tages aber kam Anton zu mir und fragte mich, ob ich ihm bei einer geringen Arbeit helfen möge. Ich sagte zu, und wir gingen zu seiner Wohnung. Aus einem Verschlag holte er seinen Handwagen heraus und wir legten zwei Bretter, die außen an der Wand gelehnt hatten, darauf, und banden sie mit zwei Gurten fest. Anton legte noch eine Sense dazu, und dann zogen wir mit dem Wagen durch das Dorf und auf dem Feldweg zwischen den Weiden talauf, bis zu der Stelle, wo der Weg zur rechten Seite den Wald berührt. Hier befand sich auf älteren Lagern ein neuer eiserner Steg über den Bach; doch war es nur das Gerippe eines Steges, denn ihm fehlten die Metallroste, über welche man hinüber gehen könnte.

„Im vergangenen Herbst hat man zwei neue Stege über den Bach gelegt“, erklärte Anton. „Diesen hier und den anderen bei der Holzwarenfabrik, welchen Ihr bereits kennt. Aber für die Roste dieses Steges hat das Geld wohl nicht mehr gereicht, so dass man nicht bequem darüber gehen kann.“ Und diesem Mangel gedachte er mittels der beiden Bretter abzuhelfen. Ich sagte ihm, dass ich ihm dabei gern behilflich sein wolle, die Bretter über den Steg zu legen, aber dass es wohl kaum den dafür bestimmt vorhandenen Sicherheitsvorschriften genügen werde. Aber davon ließ sich Anton nicht beirren. Er sagte: „Wer hier des Wegs kommt, hat Augen im Kopf und sieht, was es mit dem Steg auf sich hat.“ Ich aber verwunderte mich, dass man in dieser verlassenen Gegend noch Stege baute, aber nur halb, so dass das Ganze nutzlos blieb. Wir legten nun beide Bretter nebeneinander über den Steg und man konnte gut hinüber gehen. Anton nahm die Sense und begann am anderen Ufer das Kraut und die Brennnesseln zu mähen. Unter einem Ahorn erschien eine Bank. Ich fragte ihn, ob der ganze Aufwand nur getan worden sei, um diese wenig einladende Bank erreichen zu können?

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