Buch lesen: «Hide and Seek», Seite 3

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Kapitel 3

Reinen Tisch machen

Dusty warf einen Blick über die Schulter, während er Megan den Gang entlang zum Stationszimmer folgte. Er wartete, bis sie sich ein ganzes Stück weit entfernt hatten, bevor er zu sprechen begann. »Wie lange wird er mit dem Medikament jetzt schlafen?«

»Mindestens ein paar Stunden, hoffentlich länger. Ich habe die Dosis erhöht, weil die Wirkung das letzte Mal so schnell nachgelassen hat. Wieso?«, fragte sie.

»Ist der Doktor noch auf Visite?«

Sie legte den Kopf schräg und sah ihn misstrauisch an, bevor sie sich umdrehte und einen der Schränke gegenüber dem Stationszimmer öffnete, um ein abgetragenes OP-Hemd hervorzuziehen, damit Dusty sich für die Nacht umziehen konnte. »Ich kann den Doktor anpiepsen, aber ich wüsste gerne, was Sie von ihm wollen.«

Er nahm ihr das OP-Hemd ab und ging einige Schritte in Richtung der Toiletten. »Können Sie dem Doktor sagen, dass er zu uns kommen soll? Dann erkläre ich alles.« Sie nickte und er wandte sich ab, um sich in den Toiletten umzuziehen.

Sie wartete bereits auf ihn, als er zurückkam, das Gewicht auf den einen Fuß verlagert, während sie mit dem anderen ungeduldig auf den Linoleumboden tippte. »Jetzt spucken Sie’s schon aus.«

Dusty schüttelte den Kopf und musste sich ein Lachen verkneifen. Sie war wirklich hartnäckig. »Ist der Doktor da?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Okay, sobald er hier ist, rede ich. Aber ich will nicht alles zweimal erzählen, also …«, er nickte in Richtung des Kaffeeautomaten, »wollen Sie einen Kaffee?«

Als der Doktor schließlich kam, führte Megan sie in ein kleines Wartezimmer für Familien und schloss die Tür. Dusty dachte, dass es an der Zeit war, reinen Tisch zu machen, also tat er es auch. Angefangen von der ersten Nacht, in der er Megan und eine andere Schwester in Davids Zimmer hatte reden hören, bis hin zu seiner Beziehung zu Kory und Jon.

»Ich gebe zu, als ich das erste Mal in sein Zimmer gekommen bin, war ich wohl einfach nur ein bisschen neugierig, aber als ich ihn dann gesehen habe …« Er unterbrach sich und starrte auf seine Füße, versuchte, die richtigen Worte zu finden, zu entscheiden, was er sagen sollte, um nicht doch noch aus dem Krankenhaus geworfen zu werden.

»Reden Sie weiter«, spornte der Doktor ihn an.

Na ja, zumindest klingt er nicht wütend, dachte Dusty.

»Als ich ihn dann gesehen habe und was sein Bruder ihm angetan hat, da hat sich die Wut darüber, was Dale Thompson meiner Familie angetan hat, einfach aufgelöst. Mir ist bewusst geworden, dass David auch nur ein Opfer ist, genauso wie Gio, der im Leichenschauhaus liegt, und Jon, der zu dieser Zeit nur fünf Türen von David entfernt im Krankenbett lag. Als dann Tage und Wochen vergangen sind und niemand gekommen ist, um ihn zu besuchen, hat einfach dieser Beschützerinstinkt übernommen und ich konnte ihn nicht mehr allein lassen. Ich denke, dass es auf irgendeine verdrehte Weise Schicksal gewesen sein muss, dass ich ihm begegnet bin. Ich weiß noch nicht, was dabei meine Aufgabe ist, aber ich will bei ihm bleiben und es herausfinden.«

Der Doktor warf Megan einen kurzen Blick zu. Die beiden schienen sich ohne Worte zu verständigen. Sie nickte dem Doktor zu, bevor sie sich an Dusty wandte. »Wieso sagen Sie uns das ausgerechnet jetzt, Dusty? Wir wussten von nichts und hätten jedes Recht, Sie von ihm fernzuhalten, das ist Ihnen bewusst. Also wieso sollten Sie uns davon erzählen?«

»Weil ich wissen muss, was ich ihm sagen kann und was nicht. Er stellt eine Menge Fragen und irgendwann werde ich sie beantworten müssen. Aber wenn ich ihm alles sage, bevor er sich daran erinnern kann, was mit ihm passiert ist … Ich glaube nicht, dass er damit umgehen könnte.« Dusty wusste, dass er aufgeregt klang, vielleicht sogar ein bisschen übergeschnappt, doch er musste sie davon überzeugen, dass er nur das Beste für David wollte.

»In Ordnung, junger Mann, wir nehmen Sie fürs Erste beim Wort.« Im Blick des Doktors lag eine Intensität, die deutlich zeigte, dass es ihm damit ernst war.

Dusty nickte rasch und all die Ängste und Sorgen, die ihn erfüllt hatten, seit er im Warteraum Platz genommen hatte, fielen von ihm ab.

»Woran kann er sich bis jetzt erinnern?«, fragte der Doktor.

»Als er das erste Mal aufgewacht ist, hat er gefragt, wo sein Bruder ist. Zum Glück kam die Schwester rein und hat ihn abgelenkt, sodass ich ihm die Frage nicht beantworten musste. Aber dann hatte er einen Traum über den Tag, an dem er sich gegenüber seiner Mutter und seinem Bruder geoutet hat, ganz nah an der Grenze zu einem Albtraum. Er war ganz rot im Gesicht, verschwitzt und ein wenig durcheinander, als er aufgewacht ist«, erzählte Dusty den beiden von Davids Traum. »Oh und er weiß, dass er mich nicht kennt, aber er erinnert sich an meine Stimme. Sie beruhigt ihn. Ich weiß, dass er ein Recht hat, die Wahrheit zu erfahren, aber denken Sie nicht auch, dass ich warten sollte, um zu sehen, ob er sich von selbst erinnert?« Dusty sah den Doktor an, davon überzeugt, dass er ihm die richtige Antwort geben konnte.

Der ältere Mann mit dem ergrauenden, schwarzen Haar und den intensiven blauen Augen schürzte die Lippen und nickte langsam. »Ja, ich denke, damit haben Sie recht, junger Mann. Bevor Sie ihm irgendetwas sagen, sollten wir ihm allerdings, denke ich, einen Psychiater zur Seite stellen, nur zur Sicherheit. Wenn er sich irgendwann daran erinnert, was sein Bruder ihm angetan hat, könnte das negative Auswirkungen auf seine Psyche haben. Ich werde das an die Krankenhauspsychiatrie übermitteln …«

Dusty unterbrach den Doktor mit einer Handbewegung. »Ich kenne einen Therapeuten. Ich kann ihn fragen, ob er mit David sprechen würde. Wenn das für Sie in Ordnung ist, natürlich.« Dusty kramte in seinen Hosentaschen nach seinem Handy.

»Wer ist dieser Therapeut, den Sie kennen? Und woher genau kennen Sie ihn?«, fragte Megan.

Dusty scrollte durch seine Kontakte, bis er bei Tristans Nummer angelangte. »Er ist, genau genommen, der Bruder des Partners meines besten Freunds, Tristan Brennan.«

»Moment mal, Dusty, ist das nicht Jon Brennans Bruder? Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, äußerte Megan ihre Bedenken bezüglich Dustys Vorschlag unter Berücksichtigung, wer David war.

»Das ist kein Problem, ehrlich. Tristan ist Therapeut mit Leib und Seele und stellt seinen Eid über alles. Er wird niemandem etwas sagen. Selbst wenn er David nicht als Patienten annimmt, würde er niemals irgendjemandem auch nur ein Sterbenswort erzählen. Er wird mir vielleicht in den Hintern treten, weil ich das alles vor den Jungs geheim halte, aber hey, das ist mein Problem, nicht Ihres«, versuchte Dusty Megan zu überzeugen.

»Ist schon in Ordnung, Megan.« Der Doktor klopfte mit der Hand auf ihr Knie. »Ich habe schon mit Tristan Brennan zusammengearbeitet. Er ist ein absoluter Profi.« Er sah wieder zu Dusty. »Lassen Sie mich wissen, was Tristan geantwortet hat.«

Dusty nickte.

Der Doktor starrte ihn eine Weile an und schien zu überlegen, was er noch sagen wollte. »Vergessen Sie nicht, Davids Zustand ist instabil, junger Mann. Ich weiß die Zuwendung und Fürsorge zu schätzen, die Sie ihm bisher entgegengebracht haben, und ich vertraue darauf, dass Ihre Intention unverändert bleibt.«

Bevor Dusty antworten konnte, stand der Doktor auf und ließ ihn mit Megan allein im Warteraum zurück.

»Ich hoffe, das war die richtige Entscheidung, Dusty. Der arme Junge musste schon genug durchmachen. Ich sehe noch mal nach ihm, solange Sie mit dem Therapeuten telefonieren.« Damit ließ sie Dusty in dem kleinen Warteraum allein zurück.

Dusty musste unwillkürlich an die Redensart Gut gemeint heißt nicht gut gemacht denken. Er schnaubte und drehte sich um. Sein Blick blieb an dem Cola-Automaten in der Ecke hängen, der noch immer eine Delle hatte, dort, wo Korys Stiefel ihn getroffen hatte. Das war in der Nacht der Schießerei gewesen, als er erfahren hatte, dass Gio tot war. »Die Welt ist wirklich verdammt klein«, murmelte Dusty. Dann tippte er auf das Telefon-Icon neben Tristans Namen in seiner Favoritenliste.

***

»Ich weiß, dass wir uns nicht so gut kennen, Dusty, aber du hättest dir denken können, dass ich davon nicht begeistern sein würde.« Tristan seufzte und ging in dem kleinen Warteraum auf und ab. »Dir ist schon bewusst, dass das hier derselbe Raum ist, in dem Kory, meine Familie und ich um das Leben meines Bruders gebangt haben, während er operiert wurde, weil er von seinem verdammten Bruder angeschossen worden ist, oder?« Tristan starrte ihn an und deutete mit dem Daumen wütend in Richtung von Davids Krankenzimmer.

Dusty stand auf und hob beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, Tris, ich weiß, aber das ist nicht Davids Schuld. Er ist genauso ein Opfer wie Jon.«

Tristan hielt mitten in der Bewegung inne, wandte sich um und starrte ihn an. Dusty konnte sehen, wie sich die Wut in Tristans Augen mit einem Schlag auflöste und sein Körper sich entspannte. Tristan rieb sich mit den Handflächen über die Augen und seufzte. »Das verstehe ich, Dusty, aber das war trotzdem sehr unbedacht von dir.«

Bevor einer von ihnen noch etwas sagen konnte, stieß Megan mit Davids Krankenakte zu ihnen.

Tristan griff nach der Akte und ließ sich in den Stuhl neben Dusty fallen. Dusty streckte den Arm aus und blätterte zur nächsten Seite vor, um Tristan zu zeigen, wie David ausgesehen hatte, als er ins Krankenhaus eingeliefert worden war, doch Tristan schlug seine Hand weg. »Mach dich nützlich und hol mir einen Kaffee. Schwarz, zwei Stück Zucker.«

»Wie bitte?« Megan starrte Tristan finster an.

Er sah nicht einmal zu ihr auf. Stattdessen wedelte er nur mit der Hand. »Nicht Sie, Ma’am, er.« Er wies mit dem Daumen wütend in Dustys Richtung.

Sie folgte Dusty aus dem Raum und stapfte leise fluchend davon, um noch einmal nach David zu sehen.

Tristan sah auf, als Dusty mit zwei Bechern Kaffee zurück in den Warteraum kam. »Nachdem ich das hier gelesen habe«, Tristan wies auf die Akte auf seinem Schoß, »brauche ich, glaube ich, etwas Stärkeres.« Er nahm Dusty einen der Becher ab, bedankte sich und kam direkt zum Punkt. »Ich kann nicht behaupten, je einen Menschen mit derartig vielen Verletzungen gesehen zu haben. Und ich komme aus einer Familie, die mit dem größten Abschaum der Menschheit zu tun hatte.« Er wandte sich zu Dusty um. »Ich habe immer angenommen, dass ‚Halb zu Tode geprügelt’ nur ein geflügeltes Wort ist. Aber dieser arme Junge«, Tristan tippte noch einmal auf die Akte, »wurde im wörtlichen Sinne halb zu Tode geprügelt.« Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee und stellte ihn zu seinen Füßen auf dem Boden ab. »Okay, also er kann sich an den Vorfall nicht erinnern, richtig?«

Dusty nickte.

Tristan blätterte in der Akte nach hinten und deutete auf die Bilder des CT-Scans von Davids Gehirn. »Hier kann man gut erkennen, dass die Schwellung seines Gehirns im Vergleich zu der Nacht seiner Einlieferung zurückgegangen ist. Einige Bereiche sind aber immer noch größer, als sie sein sollten. Wenn die Schwellung weiter zurückgeht, sollte er anfangen, sich zu erinnern.«

Dusty stimmte ihm zu. »Er hatte einen Albtraum und rief nach seiner Mutter, aber als er aufgewacht ist, war er komplett durch den Wind. Ich habe ihn danach gefragt, als er sich wieder beruhigt hat. Er hat mir erzählt, dass er von dem Tag geträumt hat, an dem er seiner Mutter und seinem Bruder gesagt hat, dass er schwul sei. Ich sag’s mal so, sie haben es überhaupt nicht gut aufgenommen. Ich glaube, seine Mutter gehört zu diesen religiösen Fanatikern, die sich aussuchen, welche Teile der Bibel sie glauben wollen, angefangen damit, dass Jesus seinen Jüngern befohlen habe, alle Schwulen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.«

Tristan schnaubte. »Eine von der Sorte, ja? Verdammt, der arme Junge hat einiges durchgemacht, was?«

Dusty war sich sicher, dass es eine rhetorische Frage war, also machte er sich nicht die Mühe, zu antworten.

»Was genau versuchst du hier eigentlich zu erreichen, Dusty?«

Diese hier war nicht rhetorisch. Dusty räusperte sich und entschied sich, Tristan gegenüber ehrlich zu sein. »Ich weiß es selbst nicht genau, Tris. Ich fühle mich … aus irgendeinem Grund zu ihm hingezogen. Ich will ihn beschützen und ich hatte bisher keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Ich weiß nur, er braucht einen Freund, der mit ihm durch dick und dünn geht, und der will ich für ihn sein.«

Tristan beobachtete ihn einen Augenblick lang, sein Gesicht war völlig unbewegt. Schließlich atmete er aus und nickte. »Okay, Dusty, ich werde ihn treffen und mit ihm reden, aber ich kann nichts versprechen.«

Dusty fiel Tristan um den Hals, drückte ihn an sich und dankte ihm überschwänglich.

Tristan lachte, griff nach Dustys Arm und drückte Dusty sanft in seinen Stuhl zurück. »Woah.«

Jetzt lachten sie beide.

»Du weißt schon, dass er auch zustimmen muss, damit ich die Therapie übernehmen kann, oder? Diese Entscheidung können weder du noch ich für ihn treffen.«

Dusty gefiel die Art, wie er das sagte, überhaupt nicht. Er unterdrückte den Impuls, Tristan anzuschreien. Am liebsten hätte er ihm gesagt: Du wirst sein Therapeut, verdammt noch mal. Punkt. Aus. Ende.

»In Ordnung, ich denke, es wird Zeit, dass du mir David vorstellst.« Tristan stand auf und ging auf die Tür zu. Er hielt sie für Dusty auf und folgte ihm dann durch den menschenleeren Flur bis zu Davids Zimmer.

Ein Krankenpfleger baute gerade eine Liege für Dusty auf; David verfolgte jede seiner Bewegungen misstrauisch. Sobald er Dusty bemerkte, verwandelte sich sein Stirnrunzeln in ein Lächeln, seine Augen weiteten sich und er streckte seine zitternden Hände nach ihm aus. »Wer …? Wer ist das?« David griff nach Dustys Hand, sobald sie in Reichweite war, und zeigte mit einem zitternden Finger in Tristans Richtung.

»Alles gut, D. Er ist ein Freund von mir. David, ich möchte dir Tristan vorstellen«, beschwichtigte Dusty ihn.

Tristan stand am Fußende des Bettes, die Hände in den Taschen seiner Jeans. Seine Haltung wirkte entspannt. Dusty nahm an, dass er David damit beruhigen wollte.

»Schön, dich kennenzulernen, Tristan«, sagte David schließlich.

»Ebenso, David«, antwortete Tristan mit einem Lächeln.

»Aber wieso ist er hier, D?«, fragte er.

»Nun, ich bin zugelassener Therapeut, David. Dusty hat mich angerufen und gefragt, ob ich einmal mit dir reden könne, um zu sehen, wie es dir geht, nachdem du einen Teil deiner Erinnerungen verloren hast.«

Dusty beobachtete die beiden, während sie sich unterhielten. Er war beeindruckt, wie unaufdringlich und gleichzeitig direkt Tristan sich gegenüber David verhielt. Seine Stimme war sanft und ruhig, er verwendete keine komplizierten Wörter oder medizinischen Fachbegriffe; er redete mit David wie mit einem Freund. Jeder, der Tristan zum ersten Mal traf, würde nur seine entspannte Haltung und sein freundliches Gesicht sehen, doch Dusty kannte Tristan gut genug, um die Besorgnis zu bemerken, die sich in den Fältchen um seinen Augen zeigte. Er betete, dass Tristan sich bereit erklären würde, David zu helfen, und dass David diese Hilfe auch annehmen würde.

David lachte leise und das Geräusch ließ einen Teil der Anspannung von Dustys Schultern abfallen. »Ja, ich kann mich nicht daran erinnern, was passiert ist und wieso ich hier bin. Ich meine, ich weiß, dass es etwas Übles gewesen sein muss. Ein Autounfall oder vielleicht sogar Schwulenhass.« Seine Augen weiteten sich noch einmal und er wurde rot. Sein Körper begann merklich zu zittern.

Dusty verstärkte den Griff um Davids Hand, bereit, ihn zu beruhigen, als Tristan sagte: »Das ist in Ordnung, David, nichts von dem, was du mir sagst, wird diesen Raum verlassen. Und wenn du dich dadurch besser fühlst: Dusty und ich sind auch beide schwul.« Bei den letzten Worten zwinkerte er ihm zu und David schmunzelte. »War das etwa ein Lächeln?«, scherzte Tristan und deutete auf den Stuhl, den Dusty inzwischen für seinen hielt. »Darf ich mich setzen?« Dusty und David nickten beide, also tauschten Tristan und er die Plätze. Tristan zog den Stuhl noch etwas näher an das Bett heran, während Dusty sich ans Fußende setzte und seine Hand auf Davids Bein legte, um ihm zu zeigen, dass er nicht weit weg und für ihn da war. »Bevor wir anfangen, David, möchte ich dir noch einmal klarmachen, dass du in keiner Weise dazu verpflichtet bist, mit mir zu reden. Ich bin, was das angeht, sehr zuversichtlich und würde mich freuen, dich besser kennenzulernen und dir zu helfen, deine Erinnerungen wiederzufinden und danach mit den Folgen umzugehen. Letzten Endes ist es aber deine Entscheidung, ob ich gehe oder bleibe.« Tristan gab David einen Moment, um seine Worte zu verarbeiten, und unterdrückte den Drang, aufzustöhnen, als er im Augenwinkel Dustys Was-sollte-das-denn-jetzt-Alter-Blick bemerkte.

David nickte und seine Lippen kräuselten sich zu einem dünnen Lächeln. »Das ist okay. Wenn Dusty dir vertraut, vertraue ich dir auch.«

Tristan lachte leicht. »Gut. Ich werde immer absolut ehrlich zu dir sein, David. Das ist meine Art, zu arbeiten, und ich denke, es ist die beste Herangehensweise. Dusty und ich kennen beide die Umstände, die dich in dieses Bett gebracht haben …«

David setzte sich auf und starrte ihn mit offenem Mund an.

Tristan beugte sich zu ihm vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter, ehe er etwas sagen konnte. »Zu gegebener Zeit, David, zu gegebener Zeit.« Er wartete, bis seine Worte in Davids Bewusstsein vorgedrungen waren, und lehnte sich dann wieder zurück, bevor er weitersprach. »Wie ich sagte: Auch wenn ich verstehe, dass du wissen musst, was passiert ist, denke ich, dass es zum aktuellen Zeitpunkt besser ist, deinem Kopf und Körper noch ein wenig mehr Zeit zu geben, sich zu erholen, und abzuwarten, ob du dich von selbst erinnerst.« David runzelte die Stirn, doch Tristan fuhr fort. Es war beinahe so, als könnte er Davids Gedanken lesen. Jeder Ausdruck, der sich auf Davids Gesicht spiegelte, wurde direkt von Tristan beantwortet, auch wenn es gar keine Frage war. »Ich weiß, es ist frustrierend für dich, in einem Krankenhaus aufzuwachen und nicht zu wissen, wieso oder wie du verletzt worden bist, während andere es wissen und es dir nicht sagen. Ich verspreche dir, ich werde versuchen, dir zu helfen, dich zu erinnern, David, wenn du es zulässt. Ich bin zuversichtlich, dass du deine Erinnerungen mit der Zeit aus eigener Kraft zurückerlangen kannst.«

Dusty reagierte auf Davids skeptische Miene mit einem warmen Lächeln und einem Nicken.

Davids Blick wanderte von Tristan zu Dusty und dann wieder zurück zu Tristan, bevor er antwortete: »Okay. Aber nur, wenn Dusty auch hierbleiben darf.«

Tristan stimmte zu. »Ich habe keine Einwände. Also fangen wir an.«

Kapitel 4

Im Trüben fischen

Das folgende Wochenende war für Dustys Geschmack eindeutig zu chaotisch. Freitagmorgen musste er einige Stunden damit verbringen, in den „All Cocks“-Studios die Details für einen Dreh zu besprechen, der am Sonntag im Haus stattfinden sollte. Es war das erste Mal, seit David aus dem Koma erwacht war, dass Dusty ihn für einige Stunden alleinlassen musste. Zu seiner Erleichterung ging es David gut, als er am Nachmittag zurück ins Krankenhaus kam. Trotzdem war ihm unwohl bei dem Gedanken, ihn den ganzen Tag über sich selbst zu überlassen, als er am Sonntag im Haus in Mamaroneck arbeiten musste. Glücklicherweise bot Tristan an, einige Stunden mit David zu verbringen, um mit ihm daran zu arbeiten, sich an den Vorfall zu erinnern, der ihn ins Krankenhaus gebracht hatte. Bisher hatten die beiden über Davids Kindheit, sein katastrophales Coming-out und seine Erinnerungen bis kurz vor dem Vorfall gesprochen. Das Problem war nur, dass niemand sagen konnte, ob und was von seinen Erinnerungen wirklich richtig war.

»Wir fischen im Trüben, Dusty. Wir wissen nicht, ob das, was er uns erzählt, wirklich das ist, was passiert ist. Ich kann nichts weiter tun, als davon auszugehen und damit weiterzuarbeiten«, sagte Tristan nach seiner ersten Sitzung mit David zu ihm.

»Ich weiß nicht, wieso das eine Rolle spielt«, gab Dusty irritiert zurück.

»Es spielt eine Rolle, weil er möglicherweise aufgrund seines Schädel-Hirn-Traumas verschiedene Erinnerungen miteinander vermischt. Für die Therapie wäre es am besten, einen Freund oder ein Familienmitglied zu fragen, um seine Erinnerungen zu verifizieren. Ich habe allerdings noch eine andere Idee. Da er unterschrieben hat, dass ich sein Therapeut bin, kann ich mich jetzt an die Polizei wenden und nachfragen, ob sie Informationen haben, die sie herausgeben können. Dadurch wird sich kein komplettes Bild ergeben, aber so habe ich etwas, womit ich arbeiten kann«, erklärte Tristan.

Dusty war trotzdem immer noch unwohl bei der Sache, vor allem, weil er David versprochen hatte, bei ihm zu sein, wenn er mit Tristan sprach, aber er musste arbeiten. Er hatte sich unter dem Vorwand eines Notfalls in der Familie bereits um zwei Drehs herumgedrückt, für die er eingeplant gewesen war. Außerdem war der Dreh draußen in dem großen Haus für eine längere Szene, die um einiges aufwendiger sein würde. Das bedeutete auch, dass die Bezahlung besser war. Da er keine andere Möglichkeit hatte, erklärte Dusty David die Situation und entschuldigte sich dafür, nicht bei ihm sein zu können, wenn er mit Tristan sprach.

»Keine Angst, D, ich schaffe das schon.« David schenkte ihm ein Siegerlächeln, das Dusty beruhigte.

Außerdem würde es mir verdammt guttun, mal wieder flachgelegt zu werden.

Doch diesen Gedanken behielt Dusty für sich.

Das erste Mal nach einigen Wochen wieder in Vics Haus zu kommen, fühlte sich an, als wäre er über Weihnachten nach Hause gefahren, so als ob man seine Familie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte und die Geräusche und Gerüche von Heimat die Sinne vollkommen ausfüllten und man in Erinnerungen an Geburtstage, Ferien, Partys und gute Zeiten schwelgte. Es ließ Dusty aber auch an David denken und an die Erinnerungen, die er mit ihm und Tristan geteilt hatte. Sie waren bestenfalls belanglos gewesen, teilweise regelrecht abscheulich. Dusty wünschte sich nichts sehnlicher, als David neue Erinnerungen zu schenken; glückliche, in denen er von Menschen umgeben war, die ihn liebten. Aber das war schon in sich ein Paradoxon.

Seine Gefühle für den blonden, blauäugigen, misshandelten und verletzten jungen Mann hatten sich von einer gewissen Unsicherheit zu einem Beschützerinstinkt entwickelt und sich dann, als David schließlich aufgewacht war und sie sich kennenlernen konnten, in freundschaftliche Zuneigung verwandelt. Er würde lügen, wenn er behauptete, dass seine Faszination für David seitdem nicht noch weiter gewachsen war. Am liebsten hätte er sich geohrfeigt. Jemand, der mehr als sein Freund sein wollte, war das Letzte, was David brauchte, insbesondere jetzt.

»Dusty, hey!«, rief Mattie, stand von der Couch im Wohnzimmer auf, kam zu Dusty in die Küche und umarmte ihn. »Wo hast du dich so lange versteckt? Alles in Ordnung bei dir? Vic hat uns erzählt, dass du bei deinen letzten beiden Drehs ausgefallen bist. Was war denn bei dir los?«

Dusty lachte, schüttelte den Kopf und wartete kurz, um zu sehen, ob Mattie vorhatte, ihn mit noch mehr Fragen zu bombardieren. »Nirgendwo. Ja, und nichts. Ich musste mich einfach um ein paar private Sachen kümmern«, gab Dusty zurück und erwiderte Matties überschwängliche Umarmung.

»Ist das Dusty ich hören?«, rief Victor und tauchte kurz darauf am oberen Treppenabsatz auf.

»Ja, Boss«, rief Dusty zurück.

Victor stieg die Treppe hinab ins Wohnzimmer. Andrew folgte direkt hinter ihm. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Und ich freue mich, dass du heute gekommen bist.« Dusty wurde in eine Umarmung gezogen, die ihm die Luft aus den Lungen drückte. Für den großen, nachdenklichen Rumänen waren alle Models Teil seiner Familie und er behandelte sie auch so. Auf eine merkwürdige Art und Weise war es für Dusty, als würde sein Vater ihm eine Standpauke halten.

»Mom!«, rief er, schlang seine Arme um Andrews Hals und drückte ihn fest. Er jaulte auf und sprang zurück, als Andrew ihm einen harten Klaps auf den Hintern gab.

»Ich geb dir gleich Mom, du kleiner Scheißer. Jetzt beweg deinen Arsch nach oben und hilf mir, alles für den Dreh vorzubereiten. Chris und Linc kommen in etwa einer Stunde und wollen die Sache heute möglichst kurz halten«, rief Andrew über die Schulter, bereits auf halbem Weg zurück nach oben.

»Mit wem von beiden drehe ich heute?«, fragte Dusty.

»Mit beiden. Wir hatten seit Ewigkeiten keinen Dreier mehr, also dachte ich mir, das wäre doch was. Ist das für dich okay?« Andrew blieb so plötzlich stehen, dass Dusty beinahe in ihn hineingelaufen wäre.

Er dachte einen Augenblick lang nach. »Also, wenn es keine Double-Penetration-Szene ist, dann ja, das ist für mich okay. Ich lasse keine zwei Schwänze gleichzeitig in meinen Arsch, insbesondere nicht diese Monster.« Dusty lachte und folgte Andrew dann über den Flur zum Schlafzimmer mit dem Himmelbett und den Flügeltüren, das sie bei ihren Drehs hier im Haus immer nutzten.

***

Sechs Stunden später lag Dusty auf dem Rücken, atemlos und abgekämpft, aber befriedigt. Kris Alen und Linc Larsen hatten einige Stunden damit verbracht, ihn, Ashton Fox, auf jede erdenkliche Weise durchzunehmen: Über das Bett, den Stuhl und die Brüstung des Balkons gebeugt. Er hatte ausgestreckt und mit dem Bauch nach unten auf dem Bett gelegen, während sie versucht hatten, ihn durch die Matratze zu vögeln. Der Höhepunkt ihrer erotischen Experimente war gewesen, als Linc ihn an die Wand gedrückt und beinahe bis zur Besinnungslosigkeit gefickt hatte, während Kris versucht hatte, ihm das Hirn aus dem Schwanz zu saugen. Die Art, wie die beiden zusammengearbeitet hatten, war pure Perfektion gewesen.

Er zuckte zusammen, als Chris’ große Hand auf seinem Hintern landete. »Auf geht’s, ab unter die Dusche, Kumpel.«

»Kann ich nicht einfach hier liegen bleiben und das letzte Kribbeln von diesem verdammt fantastischen Orgasmus noch ein bisschen genießen, bevor sich es wieder abspüle?«, schmollte Dusty.

Chris und Linc lachten. »Na, wenn du meinst. Aber ich warne dich, dein Hintern ist mit einer dicken Schicht Sperma bedeckt, die langsam trocknet. Du solltest duschen, bevor du es mit einem Spachtel von dir abkratzen musst«, rief Chris, während er das Zimmer verließ.

Er war immer noch damit beschäftigt, Chris zu ignorieren, als Mattie hereinkam und etwas auf das Bett warf. »Dusty, hier, dein Handy. Das verdammte Ding hat die letzten Stunden wie verrückt geklingelt.«

Er setzte sich auf, griff nach dem Handy und aktivierte das Display. Er hatte tatsächlich eine ganze Reihe verpasster Anrufe. »Fuck!« Er kletterte aus dem Bett und rannte aus dem Zimmer. Dann tippte er auf die erste Sprachnachricht.

»Dusty, hey, hier ist Tris. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass David vorhin einen Anfall hatte und die Schwester ihn sedieren musste. Wir können später darüber sprechen, wenn du wieder zurück bist. Ich werde hierbleiben, bis du kommst, und ich bin mir sicher, dass alles wieder in Ordnung ist, wenn er sich ausgeschlafen hat. Wir sehen uns.«

Die Nachricht endete. Er warf das Handy auf den Lehnstuhl in Matties Büro und griff nach seiner Jeans, die fein säuberlich gefaltet über der Lehne des Schreibtischstuhls lag.

Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, bis er angezogen, die Treppe nach unten gestürmt, zu seinem Pick-up gerannt und losgefahren war. Sobald er den Schlüssel im Zündschloss gedreht hatte, hörte er die nächste Sprachnachricht ab.

»Ich wollte dich wissen lassen, dass David aufgewacht ist. Er ist jetzt viel ruhiger. Im Moment hat er noch mit den Nachwirkungen von dem Mittel zu kämpfen, das Megan ihm gegeben hat, und er fragt nach dir, also hoffe ich, dass du fast fertig bist. Bis gleich.«

Die nächste Nachricht war von seinem Vater, der Dusty bat, ihn zurückzurufen, sobald er Zeit hatte. Er betonte, dass es nicht dringend wäre und er sich einfach demnächst bei ihm melden sollte, wenn es passte.

Dusty wollte gerade die letzte Nachricht abhören, als sein Handy klingelte. Er drückte den Bluetooth-Button auf der Konsole und verband das Handy mit dem Autoradio. »Hallo?«

»Dusty, bist du gerade auf dem Weg zurück?« Tristans Stimme hallte durch das Führerhaus seines Pick-ups.

»Ja. Was ist los? Ist was passiert? Wie geht es David?«

»Er ist frustriert und fragt immer wieder nach dir. Er hat sich an einige Dinge erinnert, von denen ich annehme, dass sie zu dem Vorfall gehören, aber es sind nur Bruchstücke. Ich kann mir keinen Reim darauf machen; er noch weniger. Warte einen Moment.« Am anderen Ende der Leitung war ein Rascheln zu hören, Stimmen, die Dusty nicht verstand. Dann war Tristan wieder da. »Okay, du bist jetzt auf Lautsprecher, Dusty. David will dich etwas fragen.«

»Kannst du zwischendurch irgendwo anhalten und mir ein paar Tacos besorgen, D? Ich hab richtig Lust auf Tacos.« Davids Stimme war schwach, aber gut zu verstehen. Endlich fragte er mal etwas anderes als Was zur Hölle ist mit mir passiert? Dusty musste unwillkürlich lächeln.

»Klar, D. Welche soll ich mitbringen? Hühnchen oder Rind?«, fragte Dusty und die Angst, die sich wie eine Schlange um seine Brust geschlungen hatte, als er Tristans erste Nachricht abgehört hatte, ließ langsam von ihm ab.

»Ist mir egal, überrasch mich. Hauptsache, du bringst extra scharfe Soße und Guacamole mit, okay?«

Alles klar, dann bis später.« Er legte auf und trat aufs Gaspedal. Da es bereits spät war, brauchte er nicht lange, um die Distanz zwischen Mamaroneck und der Stadt zu überbrücken. Als er etwa eine Stunde später im Krankenhaus ankam, die Arme mit vier Tüten voller Essen beladen, war er froh, David lächeln und mit Tristan reden zu sehen. Da er sich nicht sicher gewesen war, was David mochte, hatte Dusty einfach von allem etwas gekauft, nur für den Fall der Fälle.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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