Buch lesen: «Rebeccas Schüler»

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Anziehend, verboten und gefährlich

RO­MAN

TIRA BEI­GE

Impressum

2. überarbeitete Auflage 2021

Copyright © 2020 Tira Beige

Ver­lag:

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Satz: Con­stan­ze Kra­mer

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Warn­hin­weis

Der nach­fol­gen­de Ro­man the­ma­ti­siert an et­li­chen Stel­len ernst­zu­neh­men­de The­men: Mob­bing, se­xu­el­le Ge­walt, ­psy­chi­sche Stö­run­gen bzw. De­pres­si­on so­wie Sui­zid.

Dies könn­ten ei­ni­ge Le­ser/in­nen be­un­ru­hi­gend

oder ­ver­stö­rend fin­den. Le­sen auf ei­ge­ne Ge­fahr

und erst ab 18 Jah­ren.

Auf die Ver­wen­dung von Kon­do­men wird aus Grün­den des Le­se­flus­ses ver­zich­tet. Das heißt aber nicht, dass Tira Bei­ge sie als be­deu­tungs­los er­ach­tet. Im Ge­gen­teil: ­Kon­do­me schüt­zen vor un­ge­woll­ter Schwan­ger­schaft und vor an­stre­cken­den Ge­schlechts­krank­hei­ten.


Prolog
Mit­schnitt aus der Ver­neh­mung der Zeu­gin Ali­cia He­ger

[…]

Po­li­zist:

Wie bist du auf die gan­ze Sa­che auf­merk­sam ge­wor­den?

Ali­cia:

So wie je­der an­de­re. Er brach­te ir­gend­wie bei dem Schul­fest das Mi­kro­fon an sich. Kei­ne Ah­nung, wie er Phil­ipp aus der Zwölf­ten über­re­det hat. Der ach­tet nor­ma­le­r­wei­se im­mer dar­auf, dass er sich um die Tech­nik al­lein küm­mern darf.

Und dann stand er da, auf der Büh­ne. Er mach­te ei­ner­seits den Ein­druck, als wis­se er nicht so recht, wo­hin mit sich, aber sei­ne Wor­te wa­ren ab­so­lut klar. Alle Au­gen wa­ren auf ihn ge­rich­tet, als er an­fing zu spre­chen. Wir wuss­ten zu­erst gar nicht, war­um er da über­haupt stand, ha­ben uns an­ge­se­hen und ge­lacht. So wie wir uns öf­ter über ihn lus­tig ge­macht ha­ben.

Aber was da­nach kam, das scho­ckier­te uns alle! Und dann schau­ten wir nur noch auf sie.

Teil 1

An­zie­hend


Ka­pi­tel 1

»Machst du jetzt etwa einen auf Do­mi­na?«

»Du sahst ge­ra­de so aus, als wür­dest du dar­auf ste­hen …«

Re­bec­cas Fuß ruh­te auf der Brust ih­res Freun­des, wäh­rend ihr der war­me Was­ser­dampf ins Ge­sicht schlug. Paul lag auf dem Rü­cken lang ge­streckt in der Ba­de­wan­ne, lä­chel­te süf­fi­sant und schau­te an ih­rem nack­ten, schlan­ken Kör­per hin­auf. Ein letz­tes Mal kreuz­ten sich ihre Bli­cke, be­vor Re­bec­ca ih­ren Fuß an­hob und aus der Ba­de­wan­ne stieg.

»Mor­gen wer­de ich wie­der die Schü­ler do­mi­nie­ren«, sag­te sie. Pauls Grin­sen ver­zog sich zu ei­ner spöt­ti­schen Gri­mas­se. »War­um lachst du so bos­haft?«, ent­fuhr es ihr.

»Mal se­hen, wer wen do­mi­nie­ren wird«, amü­sier­te er sich.

»Idi­ot!«

Re­bec­ca griff mit ei­ner blitz­ar­ti­gen Be­we­gung zu ih­rem flau­schi­gen wei­ßen Hand­tuch und trock­ne­te sich ab.

»Ach komm schon, Bec­cy, war doch nicht so ge­meint.« Was für ein un­be­son­ne­n­er Satz! Sie dreh­te sich de­mon­s­tra­tiv weg. Reich­te es nicht, dass sie selbst an sich zwei­fel­te?

Vom Spie­gel aus be­ob­ach­te­te sie, wie Pauls Blick von ih­rem Ober­kör­per nach un­ten zu ih­rem Po wan­der­te. Dann tauch­te er, auf dem Rü­cken lie­gend, sei­nen Kopf in das war­me Ba­de­was­ser, um sich die Haa­re zu wa­schen.

Re­bec­ca dreh­te sich um und warf einen letz­ten Blick in die Wan­ne, wo­bei ihr die lan­gen brau­nen Haa­re ge­gen die Wan­ge klatsch­ten und eine feuch­te Sträh­ne dort kle­ben blieb.

Pauls un­ter­setz­ter Ober­kör­per wipp­te bei je­der Be­we­gung, die er un­ter Was­ser an sei­nem Kopf voll­zog, leicht auf und ab. Vor sie­ben Jah­ren sah er noch bes­ser aus. Ihre Lie­be zu ihm auch.

Ihre tro­ckenen Füße tru­gen Re­bec­ca ins ge­gen­über vom Bad ge­le­ge­ne Schlaf­zim­mer, wo sie sich ein frisch duf­ten­des Nacht­hemd über­wa­rf. Nichts konn­te die Angst über­de­cken, der sie sich un­wei­ger­lich stel­len muss­te, wenn sie mor­gen wie­der die Schu­le be­trat. Mal se­hen, wer wen do­mi­nie­ren wird. Pauls lose da­her ge­spro­che­nen Wor­te wa­ren gar nicht so ab­we­gig; mach­ten sie Re­bec­ca doch auf das Pro­blem auf­merk­sam, wer die wirk­li­che Au­to­ri­tät im Klas­sen­raum be­saß. Sein un­über­leg­ter Satz traf einen wun­den Punkt in ihr, den sie am liebs­ten aus­ra­diert hät­te.

Im Ver­gleich zu den letz­ten zwei er­hol­sa­men Win­ter­fe­ri­en­wo­chen lös­te der kleins­te Ge­dan­ke an den Un­ter­richt mor­gen und an den in den kom­men­den fünf Wo­chen bis zu den Os­ter­fe­ri­en Gru­sel­ge­füh­le in Re­bec­ca aus. Sie sah schon jetzt die nerv­tö­ten­den Siebt­kläss­ler, ihre un­be­re­chen­ba­ren Ach­ter und die lang­wei­li­gen Ober­stu­fen­schü­ler aus Klas­se 11 vor sich.

Re­bec­ca ver­ließ das Schlaf­zim­mer und sank auf das Sofa in der Wohn­stu­be nie­der. »Oh man …«, flüs­ter­te sie, als sie den Fern­se­her ein­schal­te­te, kein pas­sen­des Abend­pro­gramm fand und wahl­los durch die Fern­seh­ka­nä­le zapp­te. Den El­len­bo­gen leg­te sie auf der Leh­ne ab und stütz­te den Kopf schwer las­tend in die Hand­flä­che.

Nach zwei­ma­li­gem Durch­schal­ten blieb sie bei ei­ner Rei­se­sen­dung hän­gen. Die Mo­de­ra­to­rin schlen­der­te an ei­nem fer­nen Ort über wei­ßen Sand. Re­bec­ca ver­zog nei­disch den Mund, als sie die Frau be­trach­te­te, die weit weg von jeg­li­chem All­tagsstress al­ler Sor­gen frei am Strand ent­lang spa­zier­te. Im Hin­ter­grund rausch­te das Meer vor der Küs­te. Es muss­te spä­ter Nach­mit­tag sein, denn das war­me Licht um­fing die blon­den Sträh­nen ih­res Haa­res und ließ es in der Son­ne wie gol­de­nes Stroh auf­blit­zen.

Er­in­ne­run­gen an den ers­ten Ur­laub mit ih­rem Freund bil­de­ten sich vor Re­bec­cas in­ne­rem Auge ab, ver­schwan­den aber so­fort, als sie Paul im Bad ru­fen hör­te: »Bec­cy? Kannst du mir mal neu­es Sham­poo ho­len?«

Sie rennt über den Gang. Ge­räusch­los. Der vie­le Sand, der in klei­nen wei­chen Dü­nen auf­ge­schich­tet vor ihr liegt, er­schwert das Fort­kom­men. Wei­ter hech­ten. Vor­wärts. Aber der fei­ne wei­ße Strandsand liegt vor den Tü­ren und es bleibt nur ein Sprin­gen von Düne zu Düne üb­rig. Fast hät­te sie die De­cke des Ge­bäu­des be­rührt. Noch ein gro­ßer Sprung. Das Klas­sen­zim­mer der Sie­be­ner. Sven­ja, Ste­ven, Mona und Jo­nas lau­fen ge­gen­über der Tür in ei­ner Ni­sche über ein auf­ge­schüt­te­tes Ei­land. In der Hand hal­ten sie Eis­be­cher, Cock­tails und Son­nen­schir­me. Wo sie das her­ha­ben, will sie von den Kin­dern wis­sen. Aus La Re­uni­on. Von au­ßen fällt glei­ßen­des Licht in das Ge­bäu­de, so­dass die blon­den Haa­re von Sven­ja fast weiß er­schei­nen. Me­cha­nisch, mit her­ab­ge­senk­ten Köp­fen lau­fen sie stur hin­ter­ein­an­der im Kreis das Ei­land der Ni­sche ab. Noch recht­zei­tig den Klas­sen­raum er­reicht. Stim­men­ge­wirr er­tönt.

Sie öff­net die Tür und steht mit bei­den Bei­nen im Was­ser. Die Ti­sche sind wüst durch­ein­an­der an­ge­ord­net. Nack­te und halb­nack­te Schü­ler drän­gen sich in dem Raum, plan­schen in dem auf dem Bo­den be­find­li­chen Was­ser. Ro­bert liegt auf dem Rü­cken, wäh­rend Na­ta­lie in Sie­ger­po­se über ihm steht und ihm den Fuß auf sei­ne Brust drückt.

Da sind auch Mar­tin und El­len aus der ach­ten Klas­se, die eng bei­ein­an­der ste­hen und la­chen. Ein Jun­ge aus der elf­ten Klas­se hält auf­rei­zend eine Siebt­kläss­le­rin im Arm. So viel Was­ser un­ter ih­ren Fü­ßen. Der Schul­hof ist das Meer. An die Au­ßen­wand des Ge­bäu­des schla­gen hohe Wel­len an. Paul steht mit ei­ner Ba­de­ho­se be­klei­det am Fens­ter und will nach drau­ßen sprin­gen. »Auf La Re­uni­on gibt es Haie, Paul, das weißt du doch. Schwimm’ nicht zu weit raus!« Doch er hört nicht. Ruck­ar­tig springt er vom Fens­ter­brett des Klas­sen­raums in den Oze­an hin­ein.

Piep Piep Piep Piep Piep Piep. 5:00 Uhr mor­gens. Re­bec­ca rich­te­te sich schlaf­trun­ken im Bett auf, um den gel­len­den Ap­pa­rat auf dem Nacht­tisch aus­zu­schal­ten.

Ihr blieb nicht viel Zeit, die wir­ren Ein­drü­cke im Kopf zu sor­tie­ren. Gäh­nend schlepp­te sie sich ins Ba­de­zim­mer, wo die kur­ze Nacht­ru­he un­auf­hör­lich ih­ren Tri­but for­der­te. Un­ter der Du­sche ste­hend über­zog sich ihr Kör­per mit Gän­se­haut. Nur müh­sam konn­te sie die Au­gen of­fen­hal­ten, wäh­rend Aus­schnit­te aus dem Traum vor­bei­zo­gen.

Als Re­bec­ca das Schlaf­zim­mer wie­der be­trat, schlum­mer­te Paul fried­lich vor sich hin, ver­barg je­doch sein Ge­sicht un­ter der Bett­de­cke, als er das ein­ge­schal­te­te Licht be­merk­te. Ein Ge­fühl der Ei­fer­sucht durch­flu­te­te Re­bec­ca. Neid auf den Part­ner, der erst in we­ni­gen Stun­den auf­ste­hen muss­te.

Trotz Schlaf­de­fi­zit ließ sie kei­ne Hek­tik zu: Auf­ste­hen, Du­schen, An­zie­hen, even­tu­ell Haa­re wa­schen, föh­nen, es­sen, Toi­let­te, Zäh­ne put­zen, die mit­zu­neh­men­den Schul­ma­te­ri­a­li­en kon­trol­lie­ren, Ta­sche ein­räu­men, zum Auto ge­hen. Das war an­ge­sichts der Ge­wohn­heit in we­ni­ger als ei­ner Stun­de mög­lich. Au­ßer heu­te Mor­gen.

Um nicht zu sehr die Au­gen zu­knei­fen zu müs­sen, dimm­te Re­bec­ca die De­cken­be­leuch­tung in der Kü­che. Schumm­rig voll­zog sie die rou­ti­nier­ten Schrit­te, um halb­wegs Nor­ma­li­tät nach den zwei Wo­chen Fe­ri­en her­zu­stel­len.

6:05 Uhr. Die über zwan­zig Ki­lo­me­ter Fahrt zwi­schen Zu­hau­se und der Ar­beits­stel­le wur­den heu­te, am ers­ten Schul­tag nach den Win­ter­fe­ri­en, zu ei­ner ge­dan­ken­ver­lo­re­nen An­ge­le­gen­heit. Gel­be und wei­ße Lich­ter ka­men auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te ent­ge­gen. Sie blie­ben an­onym und fa­rb­los, die Fah­rer hat­ten kein Ge­sicht. Hel­le Lich­ter fuh­ren in Ket­ten vor­bei und wur­den im Rück­spie­gel zu ro­ten, klei­ner wer­den­den Punk­ten. Manch­mal über­hol­te ein gel­bes Licht und wur­de zu zwei ro­ten Punk­ten vor dem Auto. Bis­wei­len fuhr eine gan­ze Ket­te ro­ter Lich­ter vor ihr her.

Es war noch im­mer fins­ter, als Re­bec­ca wie fast je­den Mor­gen als eine der Ers­ten auf dem Park­platz der Schu­le ein­traf. Das nächs­te rou­ti­nier­te Mor­gen­pro­gramm wur­de durch­ge­zo­gen: Ko­pie­ren, Lo­chen, E-Mails che­cken und Klas­sen­buch kon­trol­lie­ren. Ko­pi­en für die Siebt­kläss­ler wa­ren an­zu­fer­ti­gen.

Wäh­rend sie gäh­nend vor dem Ko­pie­rer auf des­sen Ein­satz­be­reit­schaft war­te­te, be­trat Ha­rald das Leh­rer­zim­mer und be­grüß­te sie mit ei­nem lang ge­zo­ge­nen »Gu­ten Mor­gen. Bist ja wie­der zei­tig heu­te da.« Er­neu­tes Gäh­nen.

»Mor­gen, Ha­rald. Na, hat­test du ein paar schö­ne Fe­ri­en?« Das üb­li­che Bla Bla, wenn man sich zwei Wo­chen nicht ge­se­hen hat­te.

Ha­rald ge­hör­te zu Re­bec­cas en­ge­rem Freun­des­kreis im Kol­le­gi­um, un­ter­rich­te­te ge­nau wie sie Deutsch. Sei­ne schloh­wei­ßen Haa­re glänz­ten in der mor­gend­li­chen Be­leuch­tung des Leh­rer­zim­mers.

»An­ge­la und ich wa­ren zu Hau­se. Ich habe ein paar Ar­bei­ten kon­trol­liert und mich er­holt. Nichts Auf­re­gen­des.«

Im Ge­gen­satz zu ihm war Ge­las­sen­heit für Re­bec­ca zum Fremd­wort ge­wor­den. Was auf Ar­beit pas­sier­te, muss­te mit nach Hau­se ge­nom­men und aus­la­dend er­ör­tert wer­den, selbst wenn es nichts mehr zu än­dern gab. Wenn sie im glei­chen Tem­po wie bis­her wei­ter­a­r­bei­te­te, wür­de ein Herz­in­farkt un­aus­weich­lich sein. Dass sie noch über drei­ßig Jah­re ar­bei­ten ge­hen muss­te, er­zeug­te einen Wi­der­wil­len in ihr, der ihr Angst be­rei­te­te.

»Hast du einen an­stren­gen­den Tag vor dir? Wirkst ge­nervt«, stell­te Ha­rald fest.

»Hm«, brumm­te Re­bec­ca vor sich hin. »Freue mich auf das Mit­tag­es­sen.«

Ihre Mund­win­kel zo­gen sich nach oben und ein ge­küns­tel­tes Grin­sen blieb zu­rück. Der Blick muss­te ge­quält aus­se­hen, denn Ha­rald sag­te: »Das wird schon« und klopf­te ihr er­mu­ti­gend auf die Schul­ter.

Wenn es bloß mit ein paar mo­ti­vie­ren­den Wor­ten ge­tan wäre! Da­von wur­de ihre seit Jah­ren be­ste­hen­de Un­fä­hig­keit, Kin­der ver­nünf­tig zu ver­ste­hen, nicht be­ho­ben. Heu­te wa­ren es »bloß« die Siebt­kläss­ler, bei de­nen Re­bec­ca gleich Deutsch un­ter­rich­ten wür­de. Mehr noch grau­te ihr vor ih­rer ei­ge­nen un­be­re­chen­ba­ren ach­ten Klas­se.

Wenn sie an den lang­wei­li­gen Grund­kurs in Deutsch dach­te, bes­ser­te sich ihre Lau­ne eben­falls nicht. Da­bei soll­te er das Herz­stück ih­res Un­ter­richt­s­all­tags wer­den: Als sie vor den Som­mer­fe­ri­en er­fah­ren hat­te, dass sie zum ers­ten Mal in ih­rer Be­rufs­lauf­bahn einen Kurs be­kom­men wür­de, kann­te die Freu­de dar­über kei­ne Gren­zen: End­lich ru­hi­ger Un­ter­richt, mo­ti­vier­te Schü­ler, an­re­gen­de Dis­kus­si­o­nen über li­te­ra­ri­sche Tex­te.

Doch dann das: schlep­pen­der Un­ter­richt, feh­len­de Mit­a­r­beit. Man konn­te nicht be­haup­ten, dass die zwölf Schü­ler stör­ten, im Ge­gen­teil. Sie be­a­r­bei­te­ten, was man ih­nen auf­trug. Sie la­sen, wenn sie le­sen soll­ten, sie schrie­ben, wenn sie schrei­ben soll­ten. Aber sie re­de­ten nicht.

So in Ge­dan­ken ver­sun­ken, hät­te Re­bec­ca bei­nah einen neu­en Zet­tel über­se­hen, der am Schwa­r­zen Brett des Leh­rer­zim­mers aus­hing. Der Ober­stu­fen­be­ra­ter hat­te ihn ver­mut­lich kurz vor den Fe­ri­en aus­ge­hängt und am obe­ren rech­ten Rand mit ei­nem ro­ten Stift eine Art Blitz dar­auf ge­malt. Un­ter dem in Groß­buch­sta­ben ge­schrie­be­nen Na­men ELOU­AN KLA­GE er­kann­te sie sei­nen Stun­den­plan.

»Ist das ein neu­er Schü­ler?« Ha­rald rück­te sei­ne Bril­le auf der Nase zu­recht und be­trach­te­te ein­ge­hend das Ge­schrie­be­ne.

»Nein, ich ken­ne …«, re­de­te er lang­sam vor sich hin. »Elou­an war schon ein­mal vor ei­ni­gen Jah­ren bei uns. Ich kann dir beim Es­sen mehr über ihn er­zäh­len, wenn du magst.«

Der neue Schü­ler wür­de die elf­te Klas­se be­su­chen und diens­tags und don­ners­tags bei ihr im Grund­kurs Deutsch ha­ben.

Mitt­ler­wei­le er­reich­te die Laut­stär­ke im Leh­rer­zim­mer ein für Re­bec­cas Oh­ren un­ge­kann­tes Höchst­maß, das ihre in den Fe­ri­en so hart er­kämpf­te Stil­le be­en­de­te. Im­mer mehr Kol­le­gen ström­ten hin­ein und tausch­ten sich über ihre Fe­ri­en­wo­chen aus. Was für eine ober­fläch­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on! Das lau­te Ge­trat­sche er­zeug­te einen Ts­un­a­mi in ih­rem Kopf und sie be­schloss, sich auf den Weg zum Klas­sen­zim­mer der 7a zu ma­chen.

Schon beim Öff­nen der Tür roll­te ihr eine Wol­ke aus ab­ge­stan­de­ner, muf­fi­ger Luft ent­ge­gen. Trotz win­ter­li­cher Käl­te öff­ne­te Re­bec­ca die seit zwei Wo­chen ge­schlos­se­nen Fens­ter, stell­te ihre Ta­sche auf den Bo­den ab und setz­te sich auf den Leh­rer­stuhl. In zehn Mi­nu­ten wür­den die ers­ten Schü­ler kom­men. Eine er­quick­li­che Ruhe vor dem Sturm leg­te sich über den Raum. Ihr Blick schweif­te nach drau­ßen, wo es an­ge­fan­gen hat­te zu schnei­en. Lang­sam glit­ten die Flo­cken vom Him­mel in den gro­ßen Schul­hof her­ab. Ei­ni­ge Un­ter­richts­räu­me, die sie von ih­rem aus über­bli­cken konn­te, wa­ren eben­falls be­leuch­tet: Kol­le­gen, die einen Ta­fel­an­schrieb vor­nah­men, auf die Schü­ler war­ten­de Leh­rer.

Re­bec­ca stand auf und be­gab sich an die Hei­zung. Die woh­li­ge Wär­me, die ent­ström­te, ar­bei­te­te sich ih­ren Rü­cken hoch. Ein letz­tes Mal Ruhe, gleich war es vor­bei da­mit, denn auf dem Gang hör­te sie die ers­ten Stim­men und Schuh­ge­trap­pel. Die Stim­men ka­men nä­her. An­span­nung. Mit ei­nem Ruck flog die Tür auf. Ma­r­cus, ein ru­hi­ger Schü­ler, be­trat als Ers­ter den Raum. Ein Ni­cken in Rich­tung Hei­zung. Nach ihm er­schie­nen drei wei­te­re Jun­gen, die Re­bec­ca mit ei­nem teil­nahms­lo­sen »Mor­gen, Frau Pe­ters!« be­grüß­ten und sich dann zu ih­ren Plät­zen be­ga­ben, um ihre Un­ter­richts­ma­te­ri­a­li­en aus­zu­pa­cken.

Zwei pu­ber­tie­ren­de Mäd­chen, la­chend und auf­rei­zend ge­stylt, johl­ten ein fre­ches »Gu­ten Moooor­gen!« in den Klas­sen­raum hin­ein. Na­tür­lich! Da­mit je­der mit­be­kam, dass die zwei Di­ven da wa­ren. Eins der Mäd­chen, Na­ta­lie, ga­cker­te be­son­ders laut, um die Auf­merk­sam­keit der männ­li­chen Mit­schü­ler auf sich zu zie­hen. Mit Er­folg. Nach­dem die Drei­zehn­jäh­ri­ge ihre Ja­cke an die Gar­de­ro­be des Klas­sen­raums ge­hängt hat­te, rich­te­te sie ihr knap­pes rosa Shirt zu­recht, das für die Jah­res­zeit deut­lich zu dünn war. Ihr Po wur­de durch eine blaue, sehr eng sit­zen­de Röh­ren­jeans pas­send zur Gel­tung ge­bracht. Ganz schön ge­wagt für eine Tee­n­a­ge­rin ih­res Al­ters. Re­bec­ca sin­nier­te dar­über nach, ob sie als Mut­ter ihre Toch­ter so aus dem Haus ge­hen las­sen wür­de.

Na­ta­lies lan­ge, hell­brau­ne Haa­re fie­len ihr in Lo­cken ge­schmei­dig über die Schul­tern. Wie be­ab­sich­tigt rich­te­ten sich die Bli­cke der pu­ber­tie­ren­den Jun­gen auf das Mäd­chen.

Mit dem Auf­fül­len des Klas­sen­raums ma­xi­mier­te sich die Laut­stär­ke. Noch drei Mi­nu­ten bis zum Stun­den­be­ginn. Re­bec­ca trot­te­te am Lehrer­tisch auf und ab. Ein letz­tes Mal sor­tier­te sie ihre Un­ter­la­gen, über­prüf­te, ob ge­nug Krei­de be­reit­lag, leg­te ihr Lehr­buch griff­be­reit hin, schau­te auf die Arm­band­uhr, glich sie mit der Wand­uhr ab. Dann er­tön­te das Klin­gel­zei­chen. Ein kräf­ti­ges Zie­hen an der Tür si­gna­li­sier­te: Jetzt kann es los­ge­hen! Doch die Schü­ler ver­harr­ten an ih­ren Plät­zen und tausch­ten sich über die Fe­ri­en aus.

»Es hat ge­klin­gelt!«, brüll­te Re­bec­ca. Den Er­war­tun­gen ge­mäß re­a­gier­te bloß ein Teil der Ju­gend­li­chen auf ihre Wor­te. »Es hat ge­klin­gelt, Herr­schaf­ten!« Ihre lau­ter ge­wor­de­ne Stim­me zwang ei­ni­ge un­auf­merk­sa­me Schü­ler dazu, sich von ih­ren Plät­zen zu er­he­ben.

»Wir ha­ben viel Zeit. Wir kön­nen auch län­ger ma­chen.« Sie könn­te sich so­fort ohr­fei­gen für die­se zwei un­be­dacht aus­ge­spro­che­nen Sät­ze, die die Un­ru­he be­he­ben soll­ten. Die Siebt­kläss­ler be­lä­chel­ten müde den Ver­such. Sie wuss­ten, dass die An­dro­hung sel­ten durch­ge­zo­gen wur­de.

Re­bec­ca muss­te er­ken­nen, dass die Fe­rie­n­i­dyl­le schon nach den ers­ten Mi­nu­ten dem har­ten Schulall­tag ge­wi­chen war.

Nach an­stren­gen­den fünf Mi­nu­ten er­folg­te end­lich die Be­grü­ßung, auch wenn sich ein­zel­ne Schü­ler wei­ter­hin um­dreh­ten oder mit­ein­an­der spra­chen. »Gu­ten Mor­gen!«, er­tön­te ihre stren­ge Leh­rer­stim­me. Un­mo­ti­viert mur­mel­te die Klas­se ihre Be­grü­ßung ent­ge­gen.

Eine Ab­bil­dung zum The­ma Zei­chen­set­zung soll­te die Auf­merk­sam­keit der Pu­ber­tie­ren­den auf den neu­en Un­ter­richts­in­halt len­ken. »Sven­ja, be­schrei­be bit­te die Ka­ri­ka­tur!«, for­der­te Re­bec­ca am Over­head­pro­jek­tor ste­hend die Schü­le­rin auf, die so kurz nach Stun­den­be­ginn wie­der mit Na­ta­lie im Ge­spräch ver­sun­ken war. Ver­mut­lich be­quatsch­ten die bei­den, wie lan­ge Na­ta­lie in den Fe­ri­en Net­flix ge­schaut oder mit wem Sven­ja wil­de Nach­rich­ten auf Whats­App aus­ge­tauscht hat­te.

»Was?«, frag­te die Ju­gend­li­che geis­tes­ab­we­send. Ei­ni­ge Mit­schü­ler stöhn­ten und er­klär­ten ihr die Auf­ga­be. »Na ja, ich sehe einen Jun­gen, der nicht weiß, ob er ein Kom­ma set­zen soll.«

Re­bec­ca stieß einen schwe­ren Seuf­zer aus. »Ka­ri­ka­tu­ren habt ihr doch im Ge­schichts­un­ter­richt …« Laut­stär­ke bran­de­te auf. Hei­k­les The­ma. Sie selbst hat­te schon Pro­ble­me ge­nug, Dis­zi­plin in die­se Schul­klas­se zu brin­gen. Der Ge­schichts­leh­rer war noch üb­ler dran.

Ei­ni­ge Schü­ler lach­ten oder wink­ten ab. »Bei Herrn Glä­ser ler­nen wir nichts, Frau Pe­ters«, rief Bas­ti aus der hin­te­ren Bank­rei­he nach vorn. »Der kann nicht er­klä­ren«, er­gänz­te ein wei­te­rer Schü­ler ganz vorn.

Wei­te­re Siebt­kläss­ler schal­te­ten sich in die Dis­kus­si­on ein. Plötz­lich ging es nicht mehr um die Ka­ri­ka­tur, son­dern nur noch um den Leh­rer, der von den Schü­lern her­un­ter­ge­putzt wur­de. Die Si­tua­ti­on droh­te Re­bec­ca zu ent­glei­ten. Wie so oft.

»Okay! Okay! Ruhe jetzt! Ist ja gut!«, rief sie ver­zwei­felt in die grö­len­de Men­ge hin­ein.

Als es lei­ser wur­de, er­klär­te sie die Me­tho­de und nahm eine stil­le Schü­le­rin dran, die das Bild sou­ve­rän be­schrieb. Drei Mi­nu­ten soll­te die Ein­stiegs­pha­se dau­ern – ver­stri­chen wa­ren zehn.

Selbst da­nach drang Re­bec­ca nicht zu den Ju­gend­li­chen durch, die ih­ren Un­mut laut­stark kund­ta­ten: »Wozu müs­sen wir das denn schon wie­der be­han­deln?«

Ein­fach un­be­irrt wei­ter­ma­chen und die Dis­kus­si­o­nen un­ter­bin­den, so wie es im Re­fe­ren­da­ri­at ge­lehrt wur­de. Aber das war leich­ter ge­sagt als ge­tan.

Kur­zer­hand igno­rier­te Re­bec­ca die Stö­rer, er­mahn­te zur Ruhe und zog das Tem­po an. »Leu­te, ihr macht die meis­ten Feh­ler im Be­reich der Kom­ma­set­zung. Ihr braucht drin­gend eine Wie­der­ho­lung! Au­ßer­dem müsst ihr Kom­mas set­zen kön­nen, wenn ihr Be­wer­bun­gen schreibt oder Brie­fe. Ver­steht doch, dass …«

Bis auf we­ni­ge Aus­nah­men hör­te ihr nie­mand der drei­und­zwan­zig Schü­ler zu. Ei­ni­ge Ju­gend­li­che schau­ten ge­lang­weilt an die Ta­fel und be­ka­men zu­min­dest einen Teil der Übun­gen und Er­klä­run­gen mit. An­de­re re­de­ten mit dem Ban­knach­barn oder mal­ten auf ih­ren Un­ter­la­gen her­um.

End­lich – das Klin­gel­zei­chen nach ei­ner Drei­vier­tel­stun­de Schwerst­a­r­beit. Die Schü­ler ver­lie­ßen quas­selnd den Raum, wäh­rend Re­bec­ca wie er­schos­sen in ih­ren Stuhl zu­rücksank und an­ge­sichts der an­ste­hen­den zwei Frei­stun­den auf­at­me­te. Ruhe.

Ein kur­z­er Griff zu den Schul­ma­te­ri­a­li­en, die ein­sor­tiert wer­den muss­ten. Dann mach­te sie sich auf den Weg Rich­tung Leh­rer­zim­mer. Die schwe­re Ta­sche zog ihre Schul­tern nach un­ten und ließ sie den Blick starr auf den nack­ten, grau­en Bo­den rich­ten.

Im Leh­rer­zim­mer an­ge­kom­men, fand sie einen No­tiz­zet­tel der Se­kre­tä­rin in ih­rem Fach vor: »Frau Kres­ser wünscht Rü­ck­ruf we­gen Mar­tin«. Die Fest­netz­num­mer hat­te Frau Schnei­der mit Rot dar­un­ter ge­schrie­ben.

Re­bec­ca stöhn­te. Mar­tin war der pro­ble­ma­tischs­te Schü­ler in ih­rer Klas­se: Sei­ne Leis­tun­gen wa­ren mi­se­ra­bel. Bis­her reich­ten sie je­des Schul­jahr, um nicht sit­zen­zu­blei­ben. Aber nun schien die Si­tua­ti­on aus­weg­los.

Ne­ben den un­ter­durch­schnitt­lich schlech­ten Leis­tun­gen hat­te Mar­tin mas­si­ve Pro­ble­me da­mit, sich an Re­geln und Ab­spra­chen zu hal­ten. Er kom­men­tier­te per­ma­nent die Ent­schei­dun­gen der Lehr­kraft, stör­te, misch­te den Un­ter­richt und sei­ne Mit­schü­ler auf oder sorg­te in den Pau­sen für laut­star­ke Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit sei­nen Klas­sen­ka­me­ra­den. An ein ru­hi­ges Ar­bei­ten mit ihm im Un­ter­richt war nicht zu den­ken. Re­bec­ca wünsch­te sich, dass er die Schu­le am Schul­jah­res­en­de ver­ließ und sie ihn nie mehr wie­der­se­hen muss­te.

Es schnei­te im­mer noch leicht, als sie sich auf den Weg ins Se­kre­ta­ri­at be­gab. An den Fens­tern des Schul­ge­bäu­des perl­ten die Trop­fen ab. Das trost­lo­se Wet­ter und die trist auf der Stra­ße fah­ren­den Au­tos, die wie graue Mäu­se über den As­phalt husch­ten, spie­gel­ten ihre ei­ge­ne de­so­la­te Ge­fühl­sla­ge wi­der.

Re­bec­ca klopf­te an die Tür zum Se­kre­ta­ri­at an und trat ein. »Frau Schnei­der, Sie ha­ben mir einen Zet­tel ins Fach ge­legt. Ich möch­te den An­ruf gleich er­le­di­gen.« Die Se­kre­tä­rin nick­te und wies ihr den Platz ge­gen­über ih­res Schreib­ti­sches zu. Nach der Über­g­a­be des Te­le­fons wähl­te Re­bec­ca die Num­mer. Es klin­gel­te, aber nie­mand hob ab. »Ko­misch. Ei­gent­lich müss­te sie zu Hau­se sein. Ich war­te kurz und ver­su­che es dann noch mal.«

Sie fiel in den Stuhl zu­rück, des­sen wei­che Leh­ne sich an ih­ren Rü­cken an­schmieg­te. Für einen kur­z­en Mo­ment der Ruhe stütz­te sie den El­len­bo­gen auf dem Tisch ab und leg­te eine Hand an die Wan­ge.

Die Se­kre­tä­rin hat­te sich in­zwi­schen dem Com­pu­ter zu­ge­wandt und be­gann da­mit, et­was ein­zu­tip­pen. Die Zeit strich da­hin und Re­bec­ca rich­te­te ih­ren Blick aber­mals aus dem Fens­ter hin­aus, wo sie noch im­mer das grau-graue Win­ter­wet­ter vor­fand.

Sie zuck­te zu­sam­men, als ein lau­tes Öff­nen der Tür hin­ter ihr er­tön­te. Schul­lei­ter Tan­nen­ber­ger trat mit ei­nem Mann, ei­ner Frau und ei­nem Ju­gend­li­chen her­aus. »Also, wenn et­was sein soll­te, Sie kön­nen sich je­der­zeit bei mir mel­den, wir fin­den einen Ter­min«, sag­te der Di­rek­tor in freund­li­chem Ton­fall und gab den Drei­en förm­lich die Hand. Ein klei­nes Lä­cheln husch­te über sein Ge­sicht, als er Re­bec­ca er­blick­te.

Sie schau­te zu den drei aus dem Büro her­aus­tre­ten­den Per­so­nen, die sich am Tre­sen des Se­kre­ta­ri­ats be­fan­den und im Be­griff wa­ren, den Raum zu ver­las­sen.

Nur flüch­tig streif­te Re­bec­ca der Blick des etwa zwan­zig­jäh­ri­gen Man­nes. Er griff in sei­ne dun­kel­brau­nen, fast schwa­r­zen Haa­re und sah zu Bo­den, wirk­te an­ge­spannt.

In dem kur­z­en Mo­ment, in dem sie sein eben­mä­ßi­ges Ge­sicht wahr­nahm, durch­fuhr sie eine un­ge­ahn­te Sehn­sucht, die­ses nä­her zu er­grün­den. Auch sein Body wirk­te we­nig jun­gen­haft. Un­ter dem schwa­r­zen Pull­over zeich­ne­te sich ein gut trai­nier­ter Kör­per ab. Als die Fa­mi­lie das Se­kre­ta­ri­at ver­ließ, er­wi­sch­te sich Re­bec­ca da­bei, dem jun­gen Mann auf den Hin­tern zu star­ren, der sich un­ter der eng an­lie­gen­den Hose ab­zeich­ne­te.

»Frau Pe­ters, wol­len Sie zu mir?«, frag­te der Schul­lei­ter, der noch im­mer im Tür­rah­men stand. Re­bec­ca dreh­te sich ruck­ar­tig zu ihm her­um.

»Wie bit­te?«

Er lach­te auf. »Ich dach­te, Sie wol­len zu mir, weil Sie hier war­ten.«

»Nein, ich muss je­man­den an­ru­fen«, er­wi­der­te sie knapp.

»Ach so.« Tan­nen­ber­ger ver­schwand, die Tür hin­ter sich zu­schla­gend, in sei­nem Büro.

»Sa­gen Sie, Frau Schnei­der: Ken­nen Sie die Fa­mi­lie, die eben beim Schul­lei­ter war? Ich habe die Leu­te noch nie vor­her ge­se­hen.« Die Se­kre­tä­rin schau­te im Ter­min­ka­len­der des Di­rek­tors nach.

»Fa­mi­lie Kla­ge«, mein­te sie, ohne vom Ka­len­der auf­zu­bli­cken. »Ihr Sohn Elou­an wird ab mor­gen hier zur Schu­le ge­hen.«

Re­bec­ca muss­te bei der Vor­stel­lung, ih­rem zu­künf­ti­gen Schü­ler un­ge­ni­ert auf den Po ge­st­arrt zu ha­ben, schmun­zeln.

Dann griff sie zum Te­le­fon­hö­rer und wähl­te er­neut. Ohne Er­folg. Das hieß eine Über­stun­de mehr für heu­te Nach­mit­tag.

Nach dem Un­ter­richt in Klas­se 10 stand Re­bec­ca ge­dan­ken­ver­lo­ren am Fens­ter und starr­te in den Schul­hof hin­ab, in dem sich die Schü­ler trotz der win­ter­li­chen Käl­te tum­mel­ten. Der Wind hat­te auf­ge­frischt und es schnei­te kräf­ti­ger. Die bun­ten Ge­stal­ten auf dem Hof trotz­ten der Käl­te, wa­r­fen sich Schnee­bäl­le ins Ge­sicht und seif­ten sich ge­gen­sei­tig ein.

Die gro­ße Bu­che, die Re­bec­ca vom Fens­ter aus sah, wirk­te wie ein tau­sen­de Jah­re al­tes Boll­werk in­mit­ten der stän­dig wech­seln­den Jah­res­zei­ten und Ge­sich­ter, auf die sie Tag für Tag, Jahr ein Jahr aus her­abblick­te. Sie wür­de die Zei­ten über­dau­ern und in hun­dert Jah­ren noch be­hü­tend über den Kin­dern wa­chen.

Aber Gott, was war das für ein Tag! Das war nur ei­ner von vie­len! Wo wür­de sie in ver­damm­ten zehn, zwan­zig oder mehr Jah­ren ste­hen? Wür­de sie end­lich die Leh­re­rin sein, die sie sein woll­te – re­spek­tiert und ge­ach­tet? Wür­den die Kor­rek­tu­ren we­ni­ger wer­den? Wür­de sie mehr Frei­zeit ha­ben?

Wäh­rend sie noch dar­über nach­dach­te, leer­te sich der Schul­hof zum Ende der Pau­se. Re­bec­ca griff nach ih­rer schwa­r­zen Schul­ta­sche, hol­te die Ja­cke aus dem Leh­rer­zim­mer und ging in Rich­tung Men­sa. Schrei­en­de, auf­ge­reg­te Scha­ren von Pu­ber­tie­ren­den kreuz­ten ih­ren Weg.

Ha­rald saß schon am Tisch, als Re­bec­ca ein­traf. Er hat­te einen Tel­ler Nu­deln mit To­ma­ten­so­ße und Wurst­stü­ck­chen vor sich ste­hen und kau­te lang­sam auf ih­nen her­um.

»Und wie war dein ers­ter Tag?«, woll­te Ha­rald wis­sen, als sie sich hin­setz­te.

Re­bec­ca at­me­te tief durch. »Ging. Die Sie­be­ner ha­ben er­war­tungs­ge­mäß ge­stört. Mor­gen habe ich die El­fer, da ist es ru­hi­ger«, sag­te sie leicht lä­chelnd und schob sich einen Hap­pen Nu­deln in den Mund.

Ihr war be­wusst, dass die Ober­stu­fen­schü­ler ihre Ruhe ha­ben woll­ten und da­her nicht stör­ten. »Ach siehst du, da fällt mir ein: Ich habe doch einen neu­en Schü­ler bei mir im Kurs sit­zen: Elou­an Kla­ge. Er und sei­ne El­tern wa­ren heu­te beim Schul­lei­ter. Ich war zu­fäl­lig im Se­kre­ta­ri­at und habe sie ge­se­hen. Du sag­test doch, du wür­dest ihn ken­nen.«

Der äl­te­re Mann räus­per­te sich, mach­te eine klei­ne Kunst­pau­se. »Elou­an Kla­ge war schon ein­mal bei uns.«

»War er ein Jahr im Aus­land und kommt jetzt wie­der oder was?«

Wie­der ein Räus­pern. Er leg­te die Ga­bel bei­sei­te, beug­te sich leicht nach vorn und sag­te dann be­stimmt: »Nein, Elou­an war vor …«, über­leg­te er, »drei oder vier Jah­ren bei uns an der Schu­le. Ich glau­be Mit­te der elf­ten Klas­se war er plötz­lich weg. Von der da­ma­li­gen Klas­sen­leh­re­rin er­fuh­ren wir, dass der Jun­ge psy­chi­sche Pro­ble­me hat­te und da­her in eine Ner­ven­heil­an­stalt ge­kom­men war. Müss­te in den Un­ter­la­gen noch al­les zu fin­den sein.«

€3,49

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
501 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783752924428
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:
Erste Buch in der Serie "Rebeccas Schüler"
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