Keine Gesichter

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Keine Gesichter
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Thomas Tippner

Keine Gesichter

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Inhaltsverzeichnis

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Keine Gesichter

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Keine Gesichter

Von Thomas Tippner

Was wohl aus ihnen geworden wäre, wenn sie mir nicht begegnet wären?, fragte er sich. Eine Frage, wie er fand, die ihn völlig verwirrte. Schließlich war er extra hierhergekommen, um nach Flüchtlingen Ausschau zu halten.

Es war sein Auftrag.

Er musste sie suchen und finden. Tat er es nicht, würde man ihm unterstellen seine Pflicht nicht erfüllt zu haben. Und man konnte ihm alles nachsagen – ja, wirklich alles – aber dass er seinen Aufgaben nicht nachkam, das nun wirklich nicht.

Sobald er aus seinem klapprigen, blauen Fiat stieg, in Richtung Unterkünfte ging und sich die Uniform anlegte, gab es nichts anderes mehr, als das zu tun, was man ihm sagte und von ihm erwartete.

Er hatte sich da nie Gedanken drüber gemacht.

Schließlich bekam er Geld dafür, dass er gehorchte.

Und doch beschlich ihn plötzlich der ihm so fremde Gedanke.

Waren es die Blicke, die man ihm zuwarf?

Vielleicht das leise Wimmern und Weinen, der völlig eingeschüchterten und verängstigten Kinder – die nicht wussten, was nun mit ihnen geschehen würde?

Es ist wegen den Kindern, kam ihm der Gedanke, und ließ ihn das erste Mal den Blick senken.

Er schaute auf seine schwarz geputzten Stiefel, auf die eng gezogenen Schnürsenkel, die auf dem Rand der Stiefel liegende, feinsäuberlich umgefaltete Flecktarnhose.

Kinder …

Er hatte ja erfahren, als sie ausrückten, dass sie nach Kindern suchten.

Nach Kindern, die anderes waren, als seine Kinder. Die anders waren, weil sie nicht so waren wie die Zwillinge, die seine Frau vorletztes Jahr zur Welt gebracht hatte.

Sie gehörten hier nicht her.

Nicht mehr hierher, verbesserte er sich in Gedanken. Vor einigen Jahren war das anders gewesen. Da hatte es kaum einen Unterschied zwischen ihm und den Kindern gegeben. Die einen hatten ihre Zöpfe rechts über die Schulter fallen lassen, die anderen links.

Eine Banalität – mehr nicht.

Jetzt aber ein so großes vergehen, dass man angefangen hatte, denen nachzustellen, die anders waren, als die, die gerade das sagen hatten.

Man muss Opfer bringen, hatte man ihm einmal gesagt.

Dass die Opfer aber so aussehen würden, war ihm verschwiegen worden.

Sie waren Kinder …

Die Kleinste, wenn er es richtig gesehen hatte, vielleicht gerade einmal drei, höchstens vier – wenn sie denn sehr klein für ihr Alter war. Der Älteste hingegen war schon beinah ein Mann. Hoch gewachsen, in den dunklen Augen eine unbändige, eine nicht kontrollierbare Wut, die ihn zu allem bringen konnte, wenn man ihn nur lassen würde.

Er war ebenso eine Gefahr, wie die Kleine.

Denn er war anders …

Scheißegal, dass ihre Eltern damals gemeinsam zur Schule gegangen waren, oder zusammen auf dem Bolzplatz Fußball gespielt hatten.

Die Zeiten waren vorbei …

Jetzt wehte ein anderer Wind.

Ein Sturm der Gerechtigkeit war übers Land gekommen, um endlich die regieren zu lassen, die schon seit Generationen das Geschick der Welt hätten lenken sollen. Aber Intrigen, Missgunst und die Gier nach Macht und Ruhm hatte es verhindert, dass das wahre Volk regierte.

Und deswegen mussten die Kinder weg …

Man konnte es beim besten Willen nicht zulassen, dass irgendwann sie wieder die Kontrolle übernahmen.

Was wurde dann aus seinem Volk?

Würde es dann gesucht und gejagt werden?

Würde man es finden, und mit einem LKW vorfahren, um sie dann fort zu bringen?

Und würde es dann auch jemanden wie ihn geben? Einen Mann, der immer pflichtbewusst war, sich nicht allzu viel Gedanken machte, und in den ersten Jahren seines Dienstes glücklich darüber war, ein ausreichendes Einkommen zu haben, um seine junge Familie ernähren zu können?

Würde es auch einen Mann geben, der an der Verladerampe stand, und mit einer mechanischen Gleichgültigkeit die beiden Hebel nach unten zog, damit die Luke sich öffnen konnte?

Er schluckte bei dem Gedanken … um sich dann wieder selbst zur Disziplin zu rufen.

Dienst war Dienst. Er war Soldat. Er musste nicht denken. Befehle ausführen, dafür wurde er bezahlt.

Was aber, wenn die Befehle nicht richtig sind?, fragte ihn eine leise, zweifelnde Stimme, die er so bisher nicht gekannt hatte.

Was, wenn die Befehle dazu beitragen, dass du dich an einer Tragödie beteiligst?

Er versuchte den Gedanken zu ignorieren und empfand das surrende Geräusch der sich langsam öffnenden Luke als befreiend. Sie übertönten die in ihm nagenden Zweifel, ohne sie aber zum Schweigen zu bringen. Denn als er hoffte, dass alles in ihm stumm – alles still – blieb, hörte er sie wieder.

Es geht hier um Kinder, sagte die Stimme ihm.

Kinder, die gar nichts dafür können, dass irgendjemand, irgendwo befohlen hat, was richtig und was falsch ist. Es sind Kinder.

Kinder einer anderen Klasse, eines anderen Menschenschlages … versuchte er sich selbst zu erzählen. Und zu seiner Überraschung gelang es ihm sogar. Ja, er war sich sicher, dass er das richtige tat, wenn er nur fest genug daran glaubte. Wenn er keine Zweifel zuließ und sich immer wieder ins Gedächtnis rief, dass es vor Generationen schon so hätte sein müssen …

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