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Thomas Tippner

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Impressum neobooks

Kapitel 1

Chats

Thomas Tippner

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Thomas Tippner

1. Ausgabe

ISBN: ...-.-...-.....-.

Hauptcover: Shutterstock

Cover Bearbeitung: Azrael ap Cwanderay

© 2020 by Thomas Tippner

Die Buch- und Cover-Rechte liegen beim Autor. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet. Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes, liegen beim Autor. Zuwiderhandlung ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Huhu, sprang Daniels Messenger auf, während er noch Musik hörte und seinem Vater schrieb. Verwundert darüber, wer ihm da im kleinen Bildchen auf seinem Smartphone angezeigt wurde, beugte er sich vor, nahm die Füße vom Tisch und dachte: Hoppla, von dir habe ich ja eine Ewigkeit nichts gehört, und schrieb dann, den Chat mit seinem Vater vergessend: Hi! Wie geht es dir?

Gut, kam es zurück, und er erwischte sich dabei, wie er noch immer auf das kleine Profilbild starrte, das ihm das Konterfei einer dunkelblonden, freundlich lächelnden Frau zeigte, die ihm – spaßeshalber, wie es schien – zuwinkte. Hab gerade an dich denken müssen.

Wieso das?, wollte er wissen und fand es ganz angenehm, dass Jana sich bei ihm meldete. Dass sie ihm schrieb, und dass sie ihn von der langweiligen und sich seit gut zehn Minuten hinziehenden Unterhaltung mit seinem Vater abhielt. So konnte er, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, ihm schreiben: Moment. Telefon. Melde mich nachher wieder.

Wobei er offen ließ, was nachher bedeutete. Heute Abend? Morgen früh? Morgen Abend? Gar nicht mehr?

Das Einzige, was er wusste, war, dass er keine Lust auf die ellenlangen Monologe seines Vaters hatte und sich deshalb innerlich bei Jana bedankte, dass sie sich bei ihm gemeldet hatte und darauf wartete, dass sie ihm antwortete.

Als er schließlich las: Nur so. Habe an unsere gemeinsamen Dienste gedacht, musste er lächeln und tippte: Das ist aber lange her.

War trotzdem lustig, schrieb sie zurück. Hatte immer viel Spaß mit dir.

Er spürte ein Gefühl der inneren Erregung der Vorfreude, als er sein Smartphone anhob, ihr kleines Bild noch einmal betrachtete und sich dazu entschloss, ihr Profil bei Facebook etwas genauer zu studieren. Er fand, obwohl er seit einigen Jahren gar nicht mehr in der Pflege aktiv war, dass die Zeit damals im Krankenhaus, auf der Orthopädie, die beste Zeit seines Pfleger-Daseins gewesen war. Gerade wegen Jana. Mit ihr hatte er immer viel Spaß gehabt. Hatte sich in ihrer Nähe unglaublich wohl gefühlt, und es sich nicht nehmen lassen, seine schüchternen Versuche zu starten, ob sie auf seine Scherze eingehen würde.

Was klappte.

Was dazu führte, dass sie ihn gerne mal am Arm berührte, wenn sie bei der Übergabe zusammensaßen, sie ihn mit dem Knie anstieß, um auf das blöde Verhalten von M-L hinzuweisen, ihrer narzisstisch veranlagten Stationsleitung. Manchmal hatte sie sogar ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, während er am Computer saß, die Pflegeabläufe akribisch – er klickte sich wahllos durch die Kartei – abharkte und ihm einen sanften Geruch nach Jasmin in die Nase steigen ließ.

Seltsam, dachte er, dass ich mich so genau an ihren Geruch erinnere. Dabei haben wir uns – wie lange nicht mehr gesehen? Drei Jahre? Vier?

Noch länger?

Der Geruch aber war da. Eindeutig. Auch jetzt, wo er in ihre Augen schaute, ihre schmalen, weichen Lippen studierte, deren Lächeln ihn wieder mitten ins Herz traf. Da war das feine Umspielen seiner Nase, und das innere Verlangen tief die Luft einzuziehen, während ihm ein Gedanke kam, den er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.

Riecht ihre Haut auch so gut? Hat man, wenn man ihr einen Kuss auf die Schulter gibt, einen ebenso angenehmen Geschmack auf den Lippen, wie man ihn in der Nase hat? Was für ein Gefühl wird es sein, sie zärtlich am Arm zu berühren, während ihre Blicke sich auf einen richten?

Wird sie so schmecken, wie ich sie immer gerochen habe?

Es waren Gedanken, die ihm gut und gleichzeitig wehtaten. Er erinnerte sich mit einem Schuss grausamer Brutalität daran, dass er sich immer zu ihr hingezogen gefühlt hatte – und dass das Gefühl, von dem er felsenfest überzeugt gewesen war, es verdrängt und damit vergessen zu haben glaubte, noch immer in ihm schlummerte.

Daniels Hals wurde trocken. Er merkte, wie seine Hände zitterten.

Während er den Ansturm an Erinnerungen kaum bewältigen konnte, tippte er mit plötzlich zitternden Fingern: Bist du immer noch auf der S11?

Der Moment, der am längsten dauerte, war der, bis er sah, dass die drei Punkte in seinem Display erschienen, die ihm sagten, dass Jana anfing zu schreiben.

Was ihn seltsamerweise nervös machte.

Was ihm Magenschmerzen bereitete, die er sich nicht erklären konnte.

Er fühlte sich plötzlich wie von einer mächtigen Hand ergriffen, die erbarmungslos zudrückte, und ihm die Luft zum Atmen raubte.

Es liegt an ihrem Profilbild, dachte er, während die drei Punkte in einer sanften Wellenlinie noch immer anzeigten, dass Jana schrieb. Es liegt an diesem verfluchten, diesem gottverdammten, an diesem bildhübschen Profilbild, das mich völlig wahnsinnig macht. Das mir sagt, dass ich noch immer nicht darüber hinweg bin, dass wir uns aus den Augen verloren haben. Dass wir uns nicht so voneinander verabschiedet haben, wie ich es gerne hätte.

Wie es würdig für uns gewesen wäre.

Es tat weh, daran zu denken, wie sich ihre Wege getrennt hatten, als er den Dienst auf der Station beenden musste. Wie sie damals dagestanden hatte, in ihrem weißen Kassack, der ihre Figur nur verdecken und doch nicht verbergen konnte. Der ihrer aufregend schönen Gestalt nur eine plumpe Kontur verlieh, obwohl Daniel wusste, dass es anders war. Dass da nicht nur weiße, viel zu große Stoffe an ihr hingen, sondern einen schlanken, weichen Körper verbargen, der ihm schon damals den Schlaf geraubt hatte.

Nicht dass er sie jemals berührt, geschweige denn nackt gesehen hatte.

Nein, aber allein die Momente, wo sie zusammen die Station - in zivil – verlassen hatten, hatten gereicht, um seiner überschäumenden Fantasie wieder neues Futter zu geben. Jedes Mal.

Er spürte die Traurigkeit in sich, als er sich an ihre sanfte, ihre weiche Stimme erinnerte, in der immer diese unterschwellige, freundliche Melodie mitschwang. Die ihm sagte, dass Jana ein besonderer, ein ehrlicher Mensch war, dem das Wohl der Patienten am Herzen lag.

Da war keine bissige Gehässigkeit, wie bei der einen oder der anderen Kollegin. Kein genervter Unterton, wenn Patient XY zum zehnten Mal innerhalb einer Stunde klingelte, und von einer Schwester Rat einholen, den Rücken einreiben oder sich nur unterhalten wollte.

Daniel hatte Jana für ihre Freundlichkeit immer bewundert. Hatte sich versucht an ihr zu orientieren, wenn es darum ging, den Menschen und nicht den Patienten da im Bett liegen zu sehen.

Warum meldest du dich ausgerechnet jetzt?, fragte er sich und wünschte sich unendlich viele Kilometer weit weg. Irgendwohin, wo es keine Telefone, keine Handys und keine rasend schnelle Internetverbindungen gab, die es ermöglichten, innerhalb weniger Millisekunden Kontakt miteinander aufzunehmen.

 

Es lief bei mir doch gerade alles hervorragend, führte er seinen eben gefassten Gedanken weiter und spürte, dass sein Herz mehr an der Nachricht, als an dem eben gedachten Gedanken hing. Dass er den Gedanken nur vor sich herschob, um Jana innerlich einen Vorwurf machen zu können, um sich von seiner momentanen – verzwickten – Situation ablenken zu können.

Schon lange nicht mehr, schrieb sie. Nachdem du weg warst, habe ich das Haus an sich gewechselt.

Oh, schrieb er zurück, um sich dann gezwungen fröhlich zu äußern. Ohne mich ist nichts mehr so, wie es einmal war, wie?

Korrekt, kam es schneller zurück, als er es für möglich gehalten hatte.

Was ihm wiederum sagte, dass sie gerade jetzt, ebenso wie er, vor ihrem Smartphone saß, und darauf wartete, dass er ihr antwortete.

Geht es ihr genauso wie mir?, fragte er sich. Ist sie ebenso übermannt wie ich, dass wir wieder miteinander schreiben? Wühlen sich die Erinnerungen in ihr ebenso empor, wie bei mir?

Dabei versetzte ihn der letzte Satz einen Stich.

Sie beide hatten sich aus den Augen verloren.

Und wie.

Sie hatten sich so sehr aus den Augen verloren, dass sie jahrelang gar nicht mehr aneinander gedacht hatten. Dass sie sich nur ab und zu mal Kurznachrichten à la: „Wie geht es dir?“, schrieben und beantworteten. „Gut. Bin nur gerade im Stress. Melde mich gleich wieder!“

Um dann nicht mehr zu schreiben.

Um verloren zu gehen, in den wogenden Unwettern des Alltags.

Daniel schüttelte den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er seit mehr als zwei Minuten sein Handy anstarrte und nicht dazu in der Lage war, Jana zurückzuschreiben. Dass er wollte, ihn aber etwas daran hinderte, es in die Tat umzusetzen.

Ich habe Angst vor den Antworten, dachte er und schloss die Augen. Ich will nicht hören, was ihr widerfahren ist und mit wem sie zusammen ist.

Sie ist mit jemandem zusammen, wusste er, oder glaubte er zu wissen. Als ich das letzte Mal auf ihren Status auf ihrem Profil geschaut habe, stand da „In einer Beziehung mit …“.

Irgendein Name war da aufgetaucht, den Daniel längst wieder vergessen hatte.

Der Name irgendeines Blödmannes, der nicht wusste, wie man mit Jana umzugehen hatte. Der sich nichts daraus machte, dass sie sensibel, freundlich und lieb war. Der nur das schöne, weiche und zart geschnittene Gesicht Janas und ihren grazilen, schlank anzusehenden Körper erobern wollte, um mit ihr vor seinen Freunden anzugeben, solch eine hübsche Frau abbekommen zu haben.

Daniel schnürte es die Kehle zu, als er das dachte. Es tat ihm weh und andererseits gut, so schonungslos unfair zu sein.

Weh tat es ihm, weil er wusste, dass er seine damalige Chance nicht ergriffen hatte. Dass er sich nicht getraut hatte, den letzten, den alles entscheidenden Schritt zu gehen.

Gut tat es hingegen, zu wissen, dass er sich noch immer so stark für sie interessierte, dass er einem möglichen Partner am liebsten die Pest, Cholera und Typhus an den Hals wünschte.

Mach dir nichts vor, Cowboy, machte sich seine innere Stimme bemerkbar, die sich immer dann in ihm zu Wort meldete, wenn er emotional gestresst war und geerdet werden musste. Du hoffst nur, dass es ihr gut geht und dass sie glücklich ist. Deshalb tut es dir gut, ehrlich zu sein.

Du möchtest, dass es ihr gut geht.

Das wollte er wirklich.

Sein Problem war, dass er nicht wusste, ob es ihm zurzeit gut ging. Ob er solch eine Kontaktaufnahme verarbeiten, geschweige denn ertragen konnte. Obwohl sie sich nur flüchtig gehört hatten, so gut wie nie, waren diese Erinnerungsblitze für ihn immer ein Schlag in die tiefste Magengrube seiner Seele.

Er wollte nicht daran denken, wollte nicht wieder an jenen Punkt zurückgehen, indem Jana ihren Kopf an seine Schulter legte, sie seinen Nacken kraulte, und mit ihm zusammen am Deich saß und in die hinter der Elbe untergehende Sonne schaute. Er wollte nicht noch einmal erleben, wie ihre Hand seinen Nacken hinunterwanderte, seinen Rücken mit einer ihn erzittern lassenden Gänsehaut überspielte.

Daniel wollte an gar nichts mehr erinnert werden.

Wo arbeitest du jetzt?

Obwohl seine Finger zitterten, und er sich wünschte, dass ihn das kleine und angenehme, ihn noch immer in einsamen Nächten heimsuchende Abenteuer am Deich nicht heimsuchen würde, drangen die Bilder Schlag auf Schlag in sein Bewusstsein ein. Er spürte ihre Berührung wieder, roch ihr Parfüm, und spürte ihren warmen, ihm so angenehm am Hals entlangwehenden Atem. Er konnte sie wieder spüren, diese Erregung, die von ihm Besitz ergriff und die ihn, einem Elektroschlag gleich, durchfuhr.

Er sah sich wieder, wie er den Kopf drehte, wie er ihre Augen sah, die halb geschlossen waren, und er spürte die plötzlich in ihm emporsteigende Angst. Diese ihn fest umklammernde, sein Herz umschließende Furcht, einen Fehler zu begehen.

Einen Fehler, der Verletzungen nach sich zog.

Tiefe, seelische Wunden, die er nicht imstande war zu ertragen.

So wie jetzt, dachte er und musste nur an das Gespräch mit seinem Vater zurückdenken, das Jana glücklicherweise unterbrochen hatte.

Bin jetzt in einer Psychiatrie angestellt. Einfaches, aber schönes Arbeiten, schrieb sie ihm. Der körperliche Stress ist nicht so hoch wie damals. Dafür der psychische. Aber das Team ist toll. Fängt einen gut auf.

Daniel war sich sicher, während er las, ihre Stimme wieder hören zu können. Wie sie lieblich weich seine Ohren traf, und sie ihm von Dingen erzählte, die ihr im hübschen Kopf herumgingen, und wie sie versuchte ihre Probleme zu lösen. Es war ihm, als wäre er wieder in der Vergangenheit, in jener unbeschwerten, verspielten Zeit, wo er, ohne groß nachzudenken, alles anpacken und lösen konnte, was er wollte.

In jenen Tagen, wo er mit Jana seinen Dienst begann, und von der Arbeit gestresst, von dem Tag aber positiv überrascht wurde. Nicht nur, dass Jana ihn jeden Tag aufs Neue faszinierte und ihn im wahrsten Sinne des Wortes über Wolken schweben ließ, sie schaffte es auch, jeder Situation etwas Gutes abzugewinnen.

Egal, ob die Stationsärzte noch „schnell“, wie sie meinten, zwei OPs einplanten, und dadurch den ganzen Tagesablauf durcheinanderwirbelten, oder wenn die Kollegen miesgelaunt meinten, alle von der Stationsleitung gefällten Entscheidungen kritisieren zu müssen.

Jana war für Daniel so etwas wie der Fels in der Brandung.

Unbeweglich, starr, mit klarer Sicht auf die auf sie zustürmenden und sich brüllend und kreischend an ihr brechenden Wellen schauend.

Daniel hatte sie immer für ihren Tatendrang und ihre positive Sichtweise bewundert.

Während er sich sicher war, an der Last der Aufgaben kaputt gehen zu müssen, war es ihr Lächeln, das ihn aufbaute und eine Berührung mit ihren Fingern, die ihn dazu motivierte, weiterzumachen.

Und dann ist da noch der Deich. Scheiße, Mann, da ist noch der Deich.

Ich war … ach was, ich bin ein Idiot!

Er schüttelte den Kopf.

Er sah sich wieder da sitzen, den Blick hinaus auf das dunkle im Sonnenlicht liegende Wasser gerichtet. Während sie ihn kraulte, während sie ihn streichelte, hatte seine Hand ihren Oberschenkel berührt. Erst nur leicht, kaum der Rede wert. Dann aber, als ihr Kopf sich auf seine Schulter legte, ihre Hand mit den in seinem Nacken wachsenden Haaren spielte, hatte seine Hand ihren Oberschenkel berührt. Leicht, schüchtern, dann fester und forscher, als er merkte, dass es ihr gefiel.

Hatte er damals wirklich auf ihr leises, an sein Ohr wehendes Stöhnen: „Berühre mich hier, und es wird kritisch“, geantwortet: „Weil du kitzlig bist?“

Die ganze Atmosphäre, die ganze Spannung, die sich den ganzen Nachmittag über zwischen ihnen aufgebaut hatte, war wie weggeblasen gewesen.

Sie rückte ab von ihm, schaute Daniel verwundert an und verdrehte die Augen, als sie sagte: „Ja, weil ich kitzlig bin!“

Daniel schluckte damals wie heute.

Er war ein Trottel gewesen. Der größte Idiot, den es jemals auf Gottes Erden gegeben hatte. Hätte er nur seinen Mund gehalten und genossen, wie ihre Finger über seinen Rücken hin zu seinem Oberschenkel wanderten, wie sie über seinen Schritt hinwegglitten und ihn glauben ließen, er würde jeden Augenblick innerlich explodieren.

Und warum habe ich nicht weitergemacht? Warum sind meine Finger nicht weiter auf Wanderschaft gegangen? Warum habe ich nicht meine Fingerspitzen kreisend über ihre unter der Bluse liegenden Brüste wandern lassen? Wieso habe ich nicht einfach die Innenseite ihres Oberschenkels berührt und ihre heiser klingenden, in mein Ohr wehenden Worte ignoriert und sie einfach gepackt?

Warum bin ich so ein Spacken?

All die Vorwürfe und Beleidigungen, einfach alles, was er gerade durchmachte, ging in dem sanften „Pling“ der eingehenden Nachricht unter, in der Jana fragte: Bist du noch da?

Klar, schrieb er in einem für ihn lässig klingenden Ton.

Schön.

Darf ich dich was fragen?, tippte er ins Display und ignorierte die eingehende Nachricht seines Vaters, der fragte, ob sie heute noch telefonieren würden. Wenn nicht, dann ist es völlig okay.

Frag, antwortete sie ihm.

Warum jetzt?

Keine Antwort.

Womit Daniel, wenn er ehrlich zu sich selbst war, auch gar nicht gerechnet hatte. Er hatte gewusst, als er die Frage in das Sprachfeld eingab, dass er Jana damit vor den Kopf schlagen würde. Aber jetzt, wo ihn die Erinnerungen überrannten, und er sich in einer Zwickmühle befand, in der er sich ausgesprochen unwohl fühlte, musste er Nägel mit Köpfen machen.

Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als alle Schwingungen, die sein gerade wieder in geordneten Bahnen laufendes Leben durcheinander zu bringen drohten, im Keim zu ersticken. Er musste wissen, woran er war, und er wollte sich nicht in etwas verrennen, das ihm am Ende den Kopf kosten konnte.

Was meinst du jetzt damit?, fragte er sich selbst und zuckte gedankenverloren mit den Schultern. Jana oder deine Zukunft?

Daniel wusste es nicht.

Kapitel 2

Daniel erwischte sich dabei, wieder das Profilbild von Jana zu betrachten. Das ihm das Konterfei einer Frau zeigte, deren feingezeichneten Gesichtszüge alles in ihm ansprachen, was er sich jemals in seinen jugendlichen und späteren Erwachsenenträumen ausgemalt hatte.

Da waren die blauen, diese hell schimmernden Augen, die so angenehm mit ihrem angedeuteten Lächeln harmonierten, und die hoch angesetzten, katzengleichen Kieferknochen betonten.

Der leicht geöffnete, das Weiß der Zähne durchschimmern lassende Mund, dessen weicher Schwung die Lippen ihn wie gezeichnet erschienen, ließen Daniel wieder an jene Zeit denken, als er sich dabei erwischte, sich vorzustellen, sie zu küssen.

Ich war so unendlich gerne mit ihr zusammen. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Minute für Minute. Ich denke gerne an die Zeit zurück, die wir gemeinsam verbracht haben.

Die so unbeschwert war.

Bis die Gefühle kamen, dachte er, während er im Halbdunkel seines kleinen Arbeitszimmers saß, den Laptop vor sich geöffnet, über dessen Tastatur seine Finger eben noch geflogen waren. Bis diese blöden, verkackten, alles ruinierenden Gefühle kamen. Scheiße, Mann, warum sind sie nur gekommen?

Was sollte das?

Daniel konnte und wollte sich gegen seine Gedanken nicht wehren.

Er wollte sie spüren, jeden einzelnen Buchstaben wie ein in ihm aufleuchtendes Flammenmeer fühlen, das das Stroh seiner Empfindungen lodernd in Brand setzte und ihn dazu zwang, sich mit Dingen zu beschäftigen, die er seit Tagen beiseiteschob.

Daniel hasste es, wenn er an seiner Arbeit saß, und die Flut an Gedanken zu groß wurde.

Dass sie all seine anderen Ideen und Einfälle fortspülten und ihm keine andere Chance ließen, als sich mit ihnen zu beschäftigten.

 

Ich muss sie immer wieder anschauen.

Wieder und wieder.

Als würde ich mich quälen wollen, um mir vor Augen zu führen, was ich gerne hätte und was ich nicht habe.

Dazu kam, dass Jana sich nach seiner Frage nicht wieder bei ihm gemeldet hatte. Bis heute konnte er sehen, dass sie seine Nachricht gelesen hatte. Eine Antwort aber war sie ihm bis heute schuldig geblieben.

Was vielleicht besser ist, meldete sich seine vernunftbegabte Stimme, die ihn ekelerregend an die seines jüngeren, ängstlicheren Ichs erinnerte, das ihn damals immer vor Abenteuern und Möglichkeiten zu bewahren versucht hatte.

Es war jene Stimme, die ihn auch damals schon heimgesucht hatte, als er sich das erste Mal Hals über Kopf verliebte.

Ein Mädchen, wie er heute noch wusste, das ihn von dem Moment an verzaubert hatte, als er sie durch die Tür des Klassenzimmers treten sah, in dem er gelangweilt saß und darauf wartete, dass der Deutschunterricht begann. Ein Mädchen mit einem geflochtenen Pferdeschwanz, dessen pechschwarzes Haar so dicht und fest war, dass er verwirrt das Verlangen in sich aufsteigen spürte, es berühren zu wollen – zu müssen.

Dazu trug das Mädchen, Miriam Hansen, ein geblümtes, bis zu den Knien reichendes Kleid, das anfing, die in ihr erwachende Frau konturenhaft nachzuzeichnen.

Es hatte Daniel damals wie einen Blitz getroffen. Einem Einschlag gleich, der in ihm Regionen zum Vibrieren brachte, die bis heute in ihm zerrten und surrten, und immer dann zu spielen begannen, wenn er jemanden traf, den er faszinierend fand.

So wie Miriam damals. Jana heute.

Ich war ein Trottel und ich bin es noch heute, gestand er sich, als er es sich gestattete, noch einmal an Miriam Hansen zu denken. Wie er sich fühlte, als er ihr schüchternes Lächeln erkannte, das auf ihren Lippen lag, und sie verlegen den Blick senkte, weil die auf sie gerichteten Augen ihrer neuen Mitschüler, die sie unverhohlen und nur allzu deutlich musterten, ihr unangenehm waren.

„Das ist Miriam“, hatte seine Lehrerin die Neue damals vorgestellt, und dann auf einen freien Platz an Daniels Tisch gezeigt. „Da kannst du erst einmal sitzen, bis wir einen besseren Platz für dich gefunden haben!“

Den Stich, den Daniel damals spürte, war ihm noch lebendig in Erinnerungen. Ebenso das dazugehörende, ihn heimsuchende Gefühl der Peinlichkeit. Er wusste, oder er glaubte zu wissen, dass seine Lehrerin, Frau Boscop, ihn nicht mochte. Da waren die versteckten Angriffe auf ihn. Die schneidenden Worte, wenn sie über ihn sprach, oder das ihn mit Absicht drannehmen, wenn sie wusste, dass er ihr eine Antwort auf ihre Frage schuldig bleiben würde.

Er brauchte nur an den zurückliegenden Sportunterricht zu denken, als in der hintersten Ecke eine seiner Klassenkameradinnen geweint hatte, weil sie einen Ball an den Kopf geschossen bekommen hatte. Daniel, der ein leidenschaftlicher Fußballer gewesen war, und es heute ab und zu auch noch glaubte zu sein, war von Frau Boscop direkt angegriffen worden, als sie sagte: „Na, hat unser Daniel mal wieder angeben müssen, was er alles kann?“

Daniel, den heißen, senkenden Stich der Anfeindung in sich spürend, war nicht dazu imstande gewesen, dem verbalen Angriff seiner Lehrerin irgendetwas entgegenzusetzen. Zu überrascht war er gewesen und zu überrumpelt, dass sie, ohne nachzudenken, ihm die Schuld gab, wenn einer seiner Mitschüler weinte.

Und eben, weil sie ihn offensichtlich auserkoren hatte, immer und überall schlecht zu machen, trafen ihre Worte ihn unvermittelt in der Brust.

Miriam, die Frau Boscops Erwiderung ebenso verstanden hatte wie alle anderen in der Klasse, hob den Kopf. Sie schaute zu der streng aussehenden Lehrerin, deren Lächeln wie das Zuschnappen einer Hundeschnauze wirkte, und ließ sich mit einem: „Setz dich schon“, auf ihren Platz komplimentieren.

In Daniel begann das Feuer der Wut und der Liebe zu brennen.

Die Wut, das wusste er Jahre später, war nichts anderes gewesen als eine Wand, hinter der er sich verstecken und verkriechen konnte, wenn es in seinem Leben nicht so lief, wie er es wollte. Wenn er eine Möglichkeit suchte, sich zu verstecken und anderen die Schuld dafür geben konnte, dass alle Ungerechtigkeiten der Welt nur ihm widerfuhr.

So wie Frau Boscop.

Sie hatte Schuld, dass seine Noten in Deutsch schlecht waren – sie mochte ihn ja nicht.

Sie hatte Schuld, dass seine Leistungen in Mathematik dürftig waren – sie mochte ihn ja nicht.

Sie hatte Schuld daran, dass er sich nicht traute Miriam anzusprechen und sie zu fragen, ob sie Lust hätte einen Nachmittag mit ihm zu verbringen – sie mochte ihn ja nicht. Und, und das wog am schwersten, hatte sie Miriam indirekt zu verstehen gegeben, dass es in der Klasse bessere Jungen gab, mit denen sie sich einlassen sollte.

Wie hätte er sich das: „Da kannst du erst einmal sitzen, bis wir einen besseren Platz für dich gefunden haben!“, sonst erklären können?

Heute, so viele Jahre später, wusste Daniel, dass das Bullshit war, was er damals dachte. Dass es nichts weiter war, als der einfachste Weg, sich aus der Affäre zu ziehen und, anstatt sein eigenes Versagen zu analysieren, es in die Schuhe seiner damals strengen, aber dennoch fairen Lehrerin zu schieben.

Die Wut auf Frau Boscop war noch Jahre später in ihm.

Immer dann, wenn er Miriam auf der Straße traf, sie aus der Ferne betrachtete oder erst bei MeinVZ addete, oder später dann bei Twitter, Facebook und Co. betrachten und bewundern konnte. Dass er miterleben konnte, wie sie nach und nach ihre Karriere als Fotografin ausbaute, und jetzt, wie er letztens gesehen hatte, sogar um die Welt flog, um für Bildbände und Dokumentationen Fotos zu schießen.

Sie war eine Chance, die man hatte und die man versäumt, dachte er jetzt, während er Janas Bild betrachtete.

Er wünschte sich wieder die gleiche Wut in sich zu spüren, wie er sie damals auf Frau Boscop gespürt hatte. Nur einmal noch die Schuld nicht bei sich, sondern bei anderen suchen. Nur einmal noch vor der Frau stehen, der sein Herz gehörte und dann ängstlich meinen: „Schon gut. Hat sich erledigt“, und seinen ganzen Hass auf eine andere Person fokussieren.

So, wie er es damals gesagt hatte.

So, wie er, als er all seinen Mut zusammengenommen und Miriam vorsichtig auf die Schulter getickt hatte, als sie unten an der Bille am großen Steg stand, gedankenverloren aufs Wasser schaute, während neben ihr ihre beste Freundin stand.

So wie er, als ihn der Mut verließ, und er sich am liebsten dafür geohrfeigt hätte, auf ihr: „Ja?“, nicht angemessen reagierte.

Ob es die verträumte Einbildung eines langsam älter werdenden Mannes war, der seiner Vergangenheit hinterhertrauerte, oder es die Wirklichkeit war, wusste Daniel nicht mehr zu sagen. Aber heute, so viele Jahre später, war er sich sicher, dass er in ihren Augen ein erfreutes, ein erwartungsvolles Blitzen gesehen hatte.

Ein kurzes Aufglimmen der Freude, dass der Junge sie ansprach, für den sie insgeheim schwärmte.

Als Daniel aber an Miriam vorbeischaute, hin zu der kleinen, untersetzten Freundin, die immer zwei geflochtene Zöpfe trug und in ihren quietschgelben Kleidchen aussah wie eine lebendig gewordene Puppe, rutschte ihm das Herz in die Hose. Er spürte, wie er Angst bekam, und er der Meinung war zu hören, wie Frau Boscop sagte: „Da kannst du erst einmal sitzen, bis wir einen besseren Platz für dich gefunden haben!“

So hob er nur die Hand, strich sich eine in die Stirn gefallene Haarlocke beiseite und drehte sich dann, nach einer zwanglosen Plauderei, einfach herum. In sich ein Gefühl der Abscheu, des Ekels und der unbändigen, kochenden Wut, die er auf sich selbst spüren sollte.

Die er aber, ganz seinem damaligen Naturell folgend, auf Frau Boscop lenkte.

Daniel musste lächeln, während er sich mit den Händen durchs Gesicht fuhr und er begriff, dass er Jana wieder schreiben wollte. Dass es ihm ein Bedürfnis war, noch einmal mit ihr zu reden, sie zu hören und ihr gegenüberzusitzen.

Und deine anderen Probleme?, fragte ihn die ängstliche Stimme. Was ist mit ihnen? Deinen Vater hast du bis heute nicht zurückgerufen, um über DAS Problem zu sprechen. Du weichst ihm aus.

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Geschweige denn beantworten?

Fehlanzeige, Cowboy!

Du igelst und schottest dich ab von der Außenwelt.

Kein feiner Charakterzug.

Ganz und gar nicht!

„Ich muss arbeiten. Ich habe Abgabetermine“, murmelte er leise, um seine eigenen Gedanken übertönen zu können.

Was ihm nicht gelang. Ganz und gar nicht. Denn in dem Moment, als er den Mund schloss, er die Augen zukniff, kamen sie zu ihm zurück. Unerbittlich, einem immer wieder auf die belagerte Stadt zumarschierenden Soldaten gleich, der jeden Augenblick damit rechnete, den sich vor sich auftürmenden Schutzwall zu durchbrechen.

Du hast immer einen Grund. Immer. Schon bemerkt? Warum hältst du alle, die dich mögen, auf Abstand?

Was ist es, das dich fragen lässt, ob sie am Oberschenkel kitzlig ist?

Was ist mit DEM Problem?

Wann kümmerst du dich darum?

Daniel hoffte, dass er es endlich schaffte, seine kreisenden und sich rasend schnell drehenden Gedanken beruhigen zu können.

Was ihm nicht gelang. Ganz und gar nicht. In all den Wirrungen und Irrungen, in denen er sich verloren hatte, schoss ihm ein kurzer Erinnerungsblitz durch den Kopf, so dass er in seinem Stuhl sitzend, die Augen schloss, und einen schweren Seufzer ausstieß.

Ihr Oberschenkel, dachte er und schaffte es, zu seiner Verwunderung, ohne sich selbst zu beschimpfen. Wie oft habe ich mir vorgestellt, ihn einmal mit den Fingerspitzen sanft zu berühren. Über die weiche, makellose Haut gleiten, spüren, wie sich die kleinen Härchen auf ihrer Haut aufstellen, und ich selbst von einem Schauer der Erregung übermannt werde? Wie ich fühle, dass mein Verlangen sich steigert und ich kurz vor dem Saum ihrer Unterhose meine vorwärts schiebenden Finger zum Stehen kommen lasse. Ich kann, da bin ich mir sicher, die entgegenströmende Wärme ihres Schrittes an den Fingern spüren.

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