Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee

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Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee
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Charles Finch:

Lautlos fiel der Schnee

Kriminalroman

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2018 Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2018 @ ysbrand, Depositphotos, ID 54034965

Impressum

Copyright: © 2018 Thomas Riedel

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Von seinen Eltern lernt man

lieben, lachen und laufen.

Doch erst wenn man mit Büchern

in Berührung kommt, entdeckt man,

dass man Flügel hat.«

Helen Hayes (1900-1993)

Gewidmet in stiller Erinnerung

meiner Freundin und begnadeten Co-Autorin:

Doris Distler

28.01.1965 – 08.02.2018

»Ich werde 53, aber ich bin noch nicht tot«, sagtest Du noch am 27.12.2017 in einem Zeitungsinterview und hast dabei fröhlich gelacht. »Wenn es morgen vorbei ist, habe ich wenigstens bis heute gelebt.«

Danke dafür, dass Du mein Leben mit Deiner unbeschreiblichen Lebensfreude, auf Deine Dir ganz besondere Art, bereichert hast und all die schöne Zeit, die wir miteinander teilen durften. Du wirst auf ewig einen Platz in meinem Herzen haben.

»Es ist ein kapitaler Fehler,

eine Theorie aufzustellen,

bevor man entsprechende Anhaltspunkte hat.

Unbewusst beginnt man Fakten zu verdrehen,

damit sie zu den Theorien passen,

statt dass die Theorien zu den Fakten passen.«

Sir Arthur Conan Doyle

(1859-1930)

Kapitel 1

Little Gaddesden, England, 1888

Es war nach ein Uhr morgens und im Haus war jeder Raum hell erleuchtet. Zehn oder zwölf Paare tanzten noch zu den eingängigen Melodien eines Drei-Mann-Orchesters. Sie lachten, trugen bunte Hüte aus Papier und lärmten mit Spielzeugtrompeten. Inzwischen war bereits reichlich dem Alkohol zugesprochen worden, doch die illustre Gesellschaft hatte immer noch eine Art zielloser Vitalität.

Wie schon in den letzten Tagen, hatte es draußen wieder zu schneien begonnen. Es war windstill, und lautlos fiel der Schnee in großen, fedrigen Flocken zu Boden. Er deckte die tiefen Furchen auf dem Fahrweg zu, verhüllte die Radspuren auf dem Stellplatz und die zahlreichen Fußspuren, die von und zum Haus führten. Aber er bedeckte auch den Leichnam, der neben dem leeren Schwimmbassin lag, den Stein, der dazu gedient hatte, einen Schädel zu zerschmettern und die Stelle, wo sich der Schnee blutrot eingefärbt hatte.

***

Kapitel 2

Seit mehreren Tagen waren Vorbereitungen für die Party getroffen worden. Sie hatten begonnen, als Miss Uppingham, die das Postamt in dem kleinen Dorf Little Gaddesden, in der englischen Grafschaft Hertfordshire, verwaltete, das Telegramm las, das Violett Stamford von ihrem Mann Harold erhalten hatte. Mr. Stamford sollte nach über einjähriger Abwesenheit nach Hause kommen. Er war inzwischen in Calais angekommen und wollte mit einem Schiff über den Kanal setzen, um am Freitag mit dem Nachmittagszug und einer Kutsche in Little Gaddesden einzutreffen.

Miss Uppingham gehörte nicht zu dem Schlag Menschen, dem die Berufsmoral vorschrieb, die Botschaften, die durch ihre Hände gingen, geheim zu halten, wenn sie irgendetwas von allgemeinem Interesse enthielten.

Und so kam es, dass die Nachricht von Mr. Stamfords Heimkehr eine Menge von Leuten erreichte, noch ehe seine Frau davon erfuhr. Zwei Meilen trennten das Postamt von Stamfords luxuriös umgebauten Landhaus, und Miss Uppingham entschloss sich, die Botschaft persönlich zuzustellen, was ihr gestattete, mit der Neuigkeit bei einem Dutzend Häusern stehenzubleiben, bevor sie schließlich Violett das Telegramm aushändigte.

Sie war nicht so zerfahren, wie sie aussah, und war sich des Knalleffektes ihrer Nachricht voll bewusst.

Sie hätte Marvin Coopers Reaktion voraussagen können. In seinen Augen funkelte der Ärger. »Er kommt ein bisschen spät!«, stellte er säuerlich fest und zerknüllte sein Taschentuch. »Aber besser spät als nie!«

Sie lächelte innerlich, als Elizabeth Cooper meinte: »Wie nett für Violett.« Sie wusste, dass Elizabeth ganz anders darüber dachte. Sie wusste auch im Voraus, wie der junge Kenneth Jackson erbleichen würde – und als sie ihn unterwegs traf und ihn aufhielt, um es ihm zu erzählen, sah sie, dass sie sich nicht geirrt hatte. Sie beobachtete ihn, als er mit zusammengekniffenen Lippen weiterging. Für Kenneth Jackson würde die Sache nicht so leicht sein, dachte sie bei sich.

Noch bevor sie zu den Kennedys kam, wusste Miss Uppingham genau, was Pauline dazu sagen würde. Und tatsächlich sagte sie: »Wir werden eine Feier ausrichten müssen.«

Raymond Kennedy, der sich im Armstuhl des Wohnzimmers räkelte und einen schalen Whiskygeruch verströmte, verzog seinen Mund zu einem schmalen grimmigen Lächeln. »Weiß Violett schon davon?«, erkundigte er sich.

»Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr, um ihr das Telegramm zu bringen«, erwiderte Miss Uppingham.

»Gott sei Dank, dass für mich niemals mehr Wichtiges oder Privates kommt!«, knurrte Kennedy darauf mit einem schrägen Seitenblick.

Miss Uppingham fuhr auf. »Die Depesche enthält nichts Privates!«, verteidigte sie sich.

»Der siegreiche Held kehrt heim!«, bemerkte Kennedy spöttisch.

»Das Sie jemals etwas Wichtiges oder Privates bekommen, ist höchst unwahrscheinlich«, fuhr Miss Uppingham fort. »Sie gehen nirgends hin, und Sie haben noch nie etwas getan.«

Raymond Kennedy schenkte ihr ein müdes Lächeln. Seine Augen zwinkerten etwas, weil ein wenig Rauch von seiner Zigarette eingedrungen war. »Arme Miss Uppingham! Wie Sie doch die Leute hassen, die dem Leben nur ein wenig Spaß abgewinnen«, meinte er gelassen. »Dieser Hass dürfte seine Ursache in der Vereitelung aller frühen, jungfräulichen Wünsche haben, vermute ich. Haben Sie jemals andere Freuden gekannt als ihren widerlichen Klatsch über Nachbarn, Miss Uppingham?«

»Ich danke meinem Schöpfer, dass ich nicht mit Ihnen zu leben brauche, Raymond Kennedy«, ereiferte sie sich.

»Das ist eine Quelle gegenseitiger Dankbarkeit, glauben Sie mir! Ja, das können Sie mir wahrlich glauben«, murmelte Raymond halblaut. »Und nun sputen Sie sich und überbringen Sie schon Ihre Unheilsbotschaft. Es wäre allerdings schön für Mrs. Stamford, wenn Sie das Telegramm noch vor Sonnenuntergang bekäme.«

»Ich werde meine Arbeit immer ordentlich erledigen«, gab sie schnippisch zurück, »und das ist weitaus mehr, als man von Ihnen sagen könnte, Mr. Kennedy!«

Miss Uppingham verließ die Kennedys mit gesträubten Federn, doch immer noch eifrig, denn sie hatte sich den besten Bissen für zuletzt aufbewahrt – und sie war äußerst gespannt, wie Violett Stamford auf die Botschaft reagieren würde. Niemand, so sagte sie sich, konnte behaupten, dass sie selbst nicht die toleranteste aller Frauen wäre. Aber Violett Stamford war in ihren Augen eine wirklich skandalöse Person. Sie fragte sich auch, wer es auf sich nehmen würde, Harold Stamford vom Treiben seiner Frau während seiner Abwesenheit zu berichten. Sie hätte es ja brennend gern selbst getan, doch viel Hoffnung, dass ihr dieses Privileg zufallen würde, hatte sie nicht. Stamford war ihr gegenüber immer sehr höflich gewesen, aber dabei hatte er stets auf einen gewissen – recht großen! – Abstand geachtet. Er mochte einfach keinen Klatsch, und er würde ihr vermutlich niemals Gelegenheit geben, ihm die Dinge zu erzählen, die sie wusste.

Man musste es Harold Stamford lassen, dass er aus dem baufälligen alten Landhaus etwas ganz Besonderes gemacht hatte, gestand sich Miss Uppingham ein, als sie mit ihrem wackeligen Einspänner die Auffahrt entlangfuhr. Warum auch nicht, wenn man über solche Mittel verfügte? Er hatte wunderschöne Möbel gekauft, sogar Strom für Licht, Küche und fließend Wasser eingeleitet, für Abdichtungen gegen die Kälte und damit für ausreichende Wärme gesorgt. Dann hatte er Violett heimgeführt – Violett, die nach ihrer Ansicht ebenso wenig hierher passte wie etwa ein paar bunte Pfauen, die zur Sommerzeit über den nicht vorhandenen englischen Rasen stolzieren würden.

Miss Uppingham rutschte vom Kutschbock herunter und schritt über die Steinquader hinauf zur Eingangstür. Clark Marshall hatte den Schnee weggeschaufelt. Er machte alle Gelegenheitsarbeiten für die Stamfords – aber viele dieser Arbeiten konnte es in dem modernen Haushalt mit all seinen technischen Neuheiten wahrhaftig nicht geben! Clark Marshall verbrachte den größten Teil seiner Zeit auf den ausgetretenen Stufen des Postamtes, wo er von der letzten Jagdsaison und von der kommenden Forellensaison träumte. Er war faul – beinahe so faul wie Raymond Kennedy. Doch für ihn gab es wenigstens eine Entschuldigung: Er hatte nicht für Frau und Kind zu sorgen. Er war Junggeselle und wenn er primitiv leben wollte, so war das seine eigene Angelegenheit – obgleich Miss Uppingham vor vierzig Jahren gehofft hatte, es würde eines Tages auch die ihre sein. Von dieser enttäuschten Hoffnung wusste die ganze Stadt, und das war wohl der einzige Klatsch in Little Gaddesden, den Miss Uppingham nicht selbst ins Leben gerufen hatte.

Sie erreichte die Eingangstür und klopfte stürmisch mit dem Messingklopfer. Dennoch musste sie noch eine geraume Zeit warten, bis ihr geöffnet wurde. Als Violett Stamford endlich vor ihr stand, schnappte sie nach Luft. Die Hausherrin trug ein Nachtgewand.

 

Es war knallrot, mit Gold bestickt und hob Violetts üppige Formen nach Miss Uppinghams Ansicht mit wenig taktvoller Deutlichkeit hervor. Es war vorn so tief ausgeschnitten, dass Miss Uppingham nicht umhinkam zu erröten und ihre Augen sofort schamvoll abzuwenden. Im Nachtkleid, dachte sie, um vier Uhr am Nachmittag! Und man sagt sich, dass sie in dieser Aufmachung tatsächlich Besuch empfängt – sogar männlichen! Wie empörend!

Violett Stamford hatte dunkles Haar, das jetzt auf unverschämte Weise lose auf ihre Schultern herabfiel. Ihre Haut hatte die Farbe von altem Elfenbein und ihre Augen waren dunkelblau. Form und Farbe ihres Mundes waren unter dem in Mode gekommenen, dick aufgetragenen Lippenstift kaum zu erkennen.

In meinen Jugendtagen hätte man ein derart aufgemachtes Frauenzimmer glattweg eine liederliche Person genannt, ging es ihr durch den Kopf. Freilich, sie ist Schauspielerin gewesen, das erklärt so manches …

»Nun, Miss Uppingham?« Mrs. Stamfords tiefe Stimme schien, wie immer, eine Spur Hohn zu enthalten – und wie immer fühlte sich Miss Uppingham in ihrer Gegenwart unbehaglich.

»Ich habe ein Telegramm für Sie, Mrs. Stamford«, erklärte sie.

»Danke«, erwiderte Mrs. Stamford und streckte ihre Hand nach dem Telegramm aus.

Miss Uppingham wartete unbewegt. Sie hatte es fertiggebracht, sich so in die Tür zu stellen, dass ihr Gegenüber sie nicht schließen konnte.

»Gibt es sonst noch etwas, Miss Uppingham?«, erkundigte sich Mrs. Stamford.

»Wollen Sie es nicht öffnen?«

»Meine liebe, Miss Uppingham, das scheint mir kaum nötig zu sein«, reagierte sie mit einem süffisanten Lächeln. »Mr. Jackson hat mir bereits vor über einer Dreiviertelstunde mitgeteilt, dass Sie sich auf dem Weg zu mir befänden. Er wusste auch schon zu berichten, was das Telegramm enthält, denn Sie haben es ihm vorgelesen … Wäre es nicht einfacher, Sie versuchten die Neuigkeiten amerikanischen Eingeborenen gleich, mit Rauchsignalen zu verbreiten? Ich bin sicher, Sie würden auf diese Weise sehr viel Zeit gewinnen!«

»Da hört sich ja wohl alles auf!«, echauffierte sich Miss Uppingham und trat verärgert einen Schritt zurück, worauf Mrs. Stamford die Tür direkt vor ihrer Nase ins Schloss warf. »Was für eine unverfrorene Frechheit!«, rief sie ihr noch hinterher, ehe sie sich umwandte und zu ihrem Gespann zurückkehrte.

***

Kapitel 3

Kenneth Jackson stand in der holzgetäfelten Bibliothek, seinen Rücken gegen den steinernen Kamin gelehnt. Er war ein großer, schlanker junger Mann mit blondem Haar. Seine Augen waren blau und von kleinen Sorgenfalten umrahmt. Er gehörte zu den Menschen, die auch alte Kleidung tragen konnten, ohne dass es den anderen zum Bewusstsein kommt. Heute trug er schlichte Baumwollhosen, die in schweren Stiefeln steckten, und eine braune Jacke über einem rotkariertem Hemd – ähnlich dem kanadischer Holzfäller. Er spielte mit einer teuren Bruyèrepfeife, die er immer wieder anzündete und die ihm ebenso regelmäßig ausging. Ein halbgefülltes Whiskyglas stand in Reichweite auf dem Kaminsims.

Violett Stamford trat ein, das ungeöffnete Telegramm in der Hand. »Da ist es endlich!«, stellte sie mit einem säuerlichen Lächeln fest, setzte sich auf die Couch und goss sich ebenfalls einen Drink ein.

»Früher oder später musste es ja kommen«, murmelte Jackson niedergeschlagen.

»Nimm es nicht so tragisch!«, erwiderte sie ungeduldig.

»Ich kann das nicht so leicht hinnehmen«, entgegnete er. »Ich habe ihn doppelt betrogen … als Freund und als Geschäftspartner.«

»Das ist doch Unsinn!«, meinte sie, trank den Drink aus und stellte das Glas zurück auf das Servierbrett. »Alles kommt wieder in Ordnung. Harold wird wieder einmal ein bisschen auf Verheiratetsein machen und du wirst dich mit der kleinen Cooper versöhnen … und endlich deinen Roman fertigstellen.«

»Wenn es nur so einfach wäre«, widersprach Jackson. »Zwischen Elizabeth und mir ist es aus, … und du weißt das auch.«

»Dann habe ich dich vielleicht vor etwas Schlimmerem als dem Tod errettet …«, spöttelte sie.

Die Linien in Kenneth Jacksons Augenwinkeln verschärften sich. »Sie hat mich geliebt … und ich sie auch. Es war eine schöne, klare und einfache Angelegenheit.«

»Wenn es so vollkommen war, wie du sagst, kannst du ja wieder dort anfangen, wo du aufgehört hast!«

»Ich sage dir, so einfach, wie du denkst, ist das nicht.« Er tat ein paar Züge aus seiner Pfeife und ließ sie wieder ausgehen.

»Hör mal, Kenneth«, lächelte sie. »Du benimmst dich wie ein großes Kind … Wie alt bist du? Fünfundzwanzig? … Du hast einfach zu wenig Menschenkenntnis. Das ist gar nicht gut für jemand, der Romane schreiben und als Schriftsteller groß rauskommen will. Der kleinen Cooper hat ihr Liebeskummer bestimmt viel Spaß gemacht. Sie wird natürlich zuerst heftig protestieren, so, wie es sich gehört, dann an deine Brust sinken … und dich für den Rest deines Lebens unter der Fuchtel halten.«

Jackson langte nach seinem Whisky. »Du weißt, dass ich dich sofort heiraten werde, wenn Harold in die Scheidung einwilligt.«

Sie warf mit kurzem Lachen den Kopf zurück. »Um Himmels willen, Kenneth, hör endlich auf, dich wie eine deiner Romanfiguren zu benehmen!«

»Ich wollte nur, dass du es weißt«, meinte er trübe.

»Was ich sehr gut weiß und was mir nicht gefällt, ist, dass du eine angenehme Episode so verdammt ernst nimmst … Oder war die Zeit etwa nicht angenehm für dich?«

»Sprich nicht so, Violett! Du weißt doch ganz genau, was ich für dich empfinde …«

»Ich weiß, was du gefühlt hast und was du fühlst«, unterbrach sie ihn schroff. »Du hast dich als Mann von Welt gefühlt. Und jetzt? … Jetzt fühlst du dich plötzlich schuldig, gerade so, wie ein kleiner Junge, dem sein Vater die Kehrseite versohlen wird, wenn er nach Hause kommt … Du warst aber niemals ein Mann von Welt, Kenneth … Ebenso wenig wie du jetzt ein kleiner Junge bist … Und hier gibt es auch keinen Vater.«

Er sah sie an und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. In dem sinkenden Zwielicht spiegelte sich der Widerschein des Feuers auf der holzgetäfelten Wand. »Er hat mich hergebracht, damit ich meinen Roman schreibe«, murmelte er. »Dann ist er fortgegangen und hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern.« In seinen Mundwinkeln zuckte es. »Ich habe den Roman aber nicht geschrieben, und ich habe ihn obendrein mit dir betrogen. Da gibt es wohl nur eines zu tun, Violett: reinen Tisch machen, … mag dann daraus werden, was auch immer Harold will.«

Sie füllte sich ihr Glas nach. »Moment mal, Kenneth!«, stoppte sie ihn. »Du solltest die Sache auch von meinem Standpunkt aus betrachten! Du siehst dich in einer höchst dramatischen Rolle und denkst nicht daran, dass es sich vor allem um mich handelt. Dort, wo ich zu Haue bin, gilt der Satz: ›Hat der Jüngling ein Vergnügen, sei er dankbar und verschwiegen!‹ Niemand setzt den Namen einer Frau, die er verführt hat, in ein Journal!«

»Violett!«

»Wie gesagt, es handelt sich um mich und meine Zukunft. Sonderbar, dass ich dir das überhaupt noch erklären muss. Du wirst Harold nichts sagen, und wenn du unbedingt dramatische Szenen durchspielen musst, so tu das ruhig, aber bitte für dich allein, … vor deinem Rasierspiegel.«

Jackson öffnete den Mund. Er wollte etwas erwidern, sagte dann aber nichts. So ist das also! Er dachte an den Zauber, der diesen Raum früher einmal erfüllt hatte, an die Ungeduld, mit der er Monate hindurch Tag für Tag den Augenblick erwartet hatte, da er zu ihr kommen durfte. Ich habe weder schreiben noch denken können … für mich gibt es nichts als dich, Violett! Er erinnerte sich daran, wie wild sein Herz jedes Mal geklopft hatte, wenn er sich ihrem Haus näherte! Mit welcher Ekstase er sie dann in die Arme genommen – und mit welcher Hingabe sie seine Zärtlichkeiten erwidert hatte! Die Arbeit war darüber vergessen, nichts existierte als ihr Zauber. Jetzt, da sie so gefühllos mit ihm sprach, mit beißendem Spott in der Stimme, war es, als stäche jedes Wort eine tiefe Wunde. Und im Mund fühlte er den säuerlichen Geschmack der Furcht. Sie war für ihn verloren, Elizabeth ebenfalls und auch seine berufliche Zukunft. Automatisch fragte er sich, was er noch tun konnte, wo seine Welt gerade wie ein schlecht errichtetes Kartenhaus in sich zusammenfiel.

»Natürlich werde ich abreisen«, sagte er leise. »Nach Harolds Rückkehr könnte ich es hier nicht mehr ertragen.«

»Das ist doch lächerlich!«, erwiderte sie gelassen. »Harold ist schließlich dein Verleger. Er glaubt an dich und kann dir bei deinem Roman helfen. Aber bitte …« Sie zeigte ein wegwerfende Geste. »Mach' doch was du willst, Kenneth! Es handelt sich um dein Leben, nicht um meines!«

»Du kannst nicht einfach Schluss machen, Violett, so wie … wie wenn man ein Buch zuklappt!«

»Und warum sollte ich das nicht können?«, fragte sie kurz angebunden über den Rand ihres Glases hinweg.

»Du solltest dich einmal reden hören! … Du hast mich niemals wirklich geliebt, nicht wahr, Violett? … Für dich war ich nichts weiter als ein angenehmer Zeitvertreib, oder?«

»Mein lieber Kenneth, ich habe genommen, was du mir zu bieten hattest«, erwiderte sie respektlos. »Mit Vergnügen und sogar mit einer gewissen Dankbarkeit. Wenn du es weniger tragisch nimmst, werde ich mich gern daran zurückerinnern. Aber im Augenblick … langweilst du mich … Sehr sogar!«

Er klopfte seine Pfeife auf einem der Kaminböcke aus. Besser, wenn ich jetzt etwas mit meinen Händen mache, als sie sehen zu lassen, wie sehr sie mir zittern, dachte er. »So ist es also«, stellte er laut fest und richtete sich auf. Seine Augen wanderten hilflos im Zimmer herum, als würden sie es zum letzten Mal sehen. »Kann ich noch irgendetwas für dich tun, Violett, bevor ich gehe?«

»Du kannst damit aufhören, wie ein christlicher Märtyrer in einer römischen Arena auszusehen«, lachte Violett.

***

Kapitel 4

Kenneth Jackson ging gedankenvoll die Straße entlang, sein Kinn im Kragen des pelzgefütterten Mantels vergraben. Die Sonne war hinter den Hügeln untergegangen und hatte auf den schneebedeckten Gipfeln einen Hauch von Purpur zurückgelassen. Wie immer nach Sonnenuntergang war es bitter kalt. Lichter wurden in den Fenstern der Häuser sichtbar – ihre Wärme war sanft und einladend.

Jackson hielt seine Augen auf den ausgetretenen Weg geheftet, doch war es nicht wegen der tiefen Furchen. Wenn er Violett verließ, sah er nie nach links und rechts, weil er das Gefühl hatte, dass die Leute ihn hinter den Vorhängen dieser erleuchteten Fenster beobachten. Er hatte oft versucht, sich einzureden, dass seine Unsicherheit nur einem neurotischen Schuldgefühl zuzuschreiben war – doch das half nichts. Die Menschen beobachteten und redeten über ihn, soviel stand für ihn fest. Und heute, da würden sie alle über Harold Stamfords Rückkehr sprechen. Was für eine Sensation! Würde Harold die Rolle des schmählich betrogenen Gatten spielen, wenn gute Freunde ihm erzählten, wie er sich ›um seine Violett gekümmert‹ hatte? Würde der junge Jackson verschwinden? Und was würde aus Violett werden? Und was aus Elizabeth Cooper? Es schien ihm, als hörte er die Stimmen, gedämpft vom Wind, der plötzlich einen Wirbel zusammengeballter Schneeflocken heranfegte: »Was soll aus Elizabeth Cooper werden?«

Jackson erinnerte sich an seine Ankunft in Little Gaddesden vor etwas mehr als einem Jahr. Harold Stamford hatte ihm das abseits gelegene Häuschen besorgt – gerade das richtige für einen Junggesellen, der sich zweimal pro Woche eine Aufwartefrau leisten konnte. Aber die konnte er sich nur leisten, weil Stamford ihm das Geld vorgestreckt hatte.

»Ich will nicht, dass du irgendwelche Sorgen hast«, hatte er ihm gesagt. »Du sollst nur an deine Arbeit … an deinen Roman denken.«

Der dunkelhaarige, lebhafte, unglaublich enthusiastische Harold Stamford war ihm wie ein Gott erschienen. Er hatte alles, was man sich wünschte: Reichtum, eine wundervolle Frau, ein reizendes Heim, ein blühendes Verlagsunternehmen, das er als Hobby zu betrachten schien, weil er es nicht zum Leben brauchte. Alles, was Stamford anpackte, brachte ihm Erfolg. Während der letzten sechs Monate seiner Militärzeit hatte er als Offizier in der Kronkolonie Indien gedient. Er war bedeutend, erfolgreich und dynamisch. Seine geistreichen Aussprüche wurden immer wieder von Journalschreibern zitiert. Er besitzt alles, was sich ein Mann erträumen kann, dachte Jackson.

 

Sein erster Roman war von ihm verlegt worden und hatte, wenngleich wenig Geld, so doch gute Kritiken mit sich gebracht. Jackson wollte eine Stellung annehmen und das nächste Buch in seiner Freizeit verfassen. Aber davon hatte Stamford nichts wissen wollen. Er brachte ihn nach Little Gaddesden, und als er seinem Marschbefehl folgte, war das für Jackson eine weitere Verantwortung.

»Kümmere dich gut um Violett, Kenneth«, hatte Stamford ihm gesagt. »Sie wird einsam sein, während meiner Abwesenheit. Little Gaddesden ist ein Dorf und die Leute hier sind kein Umgang für sie.«

Ihm kam diese Aufgabe vor, als gälte es, den Heiligen Gral zu behüten. Ihn verband damals ein tiefes Gefühl mit der kleinen Elizabeth Cooper, und es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass Violett diese Liebelei stören könnte. Jedenfalls nicht bis zum allerersten Tag nach Harolds Abreise, als sie – nach einem Wutausbruch, weil ihr Mann sie allein gelassen hatte – irgendwie in seine Arme schmolz und er sich nach einer kurzen Stunde an tausend Angelhaken gefangen fand. Sie zerrten an seinem Fleisch, an seinem Geist und ließen ihn nicht mehr los. Fort war das Bild einer glücklichen Zukunft mit Elizabeth – der einfachen, süßen, verständnisvollen Elizabeth. Nichts gab es mehr als Violett mit ihrem alle Sinne berauschenden Liebesspiel.

Nun war es aus! Gestern war es noch lebendig gewesen. Heute war es tot. Sie hatte ihn von den Angelhaken gelöst und zurück in die Themse geworfen worden. Und er … er hatte vergessen, wie man schwimmt!

Kenneth Jackson war so tief in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt hatte, wo er inzwischen angelangt war: auf dem Marktplatz. Die neumodischen Gaslaternen brannten jetzt, und im größten und einzigen Kaufladen herrschte der übliche Rummel vor Ladenschluss. Er brauchte noch Tabak, zögerte aber einzutreten. Das ganze Dorf sprach über ihn. Aber früher oder später …

Er ging auf den Laden zu, gerade als Elizabeth Cooper mit einem Arm voll Paketen heraustrat. Er wollte sich noch schnell abwenden, aber sie hatte ihn bereits ausgemacht.

»Hallo, Kenneth!«, rief sie ihm zu. Er meinte Vorwurf, Ärger und Widerwillen aus ihrer Stimme herauszuhören, obgleich nichts davon vorhanden war.

»Hallo, Elizabeth!«, grüßte er zurück.

Vielleicht war es die Kälte, die sie erröten ließ. Sie trug ein dickes Kleid und eine hellgelbe Weste unter ihrem Wintermantel. Ihre Hände steckten in gelben Wollhandschuhen. Ein Windstoß hatte ihr hellbraunes Haar mit Schnee gepudert. »Ein typisches Landmädchen«, so hatte Raymond Kennedy sie einmal beschrieben und aus seinem Mund war das nicht gerade als Kompliment gemeint. Aber Kenneth Jackson kam es damals treffend und irgendwie sogar liebenswürdig vor. Ihre großen, ehrlichen Augen gefielen ihm, und die stolze Art, in der sie ihren Kopf hochzuhalten pflegte. Sie war bescheiden, offen und ohne Verwicklungen, und sie liebte schlichte Dinge und träumte einfache Träume. Er hatte sie geliebt und von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr geträumt, in der sie sein Haus führen, seine Kinder betreuen und sich für seine Arbeit interessieren würde, ohne sich zu geistreicher Kritik berufen zu fühlen. Für ihn war sie die vollkommene Frau gewesen – bis zum Augenblick seines ersten Besuchs bei Violett Stamford, um die er sich ›kümmern sollte‹.

»Es wird wohl noch weiterschneien«, meinte sie nach einem kurzen Blick zum Himmel. »Der Wind kommt aus Südwest.«

Von diesen Dingen sprach man auf dem Land außerhalb Londons; sie waren wichtig und gingen alle an, denn man musste gemeinsam kämpfen, um die Straßen und Wege offen zu halten und Kontakt mit den unmittelbaren Nachbarn zu wahren. Jeder führte auf seinem Gespann eine Schaufel und ein Schleppseil mit sich, um einem Freund oder einem Fremden zu helfen, oder selbst Beistand zu finden, sollte man das Pech haben, in einem Schneesturm stecken zu bleiben.

»Hast du schon die Neuigkeit gehört?«, wollte er wissen, ohne genauer zu erklären, worum es ging, denn es gab nur eine Neuigkeit.

»Du meinst Harold?«

»Ja.«

Darauf konnte sie nichts erwidern. Alles Weitere hätte für ihn eine Spitze bedeutet. »Sei mir nicht böse, Kenneth, ich muss loslaufen. Vater wartet auf das Dinner.«

»Nur auf eine Minute, Elizabeth!«, hielt er sie zurück. Sie wartete, und er sah, wie sie sich bemühte, die Dinge leicht und einfach zu nehmen. Es musste sich sammeln, ehe er fragte: »Darf ich zu dir kommen, Elizabeth? Bald? … Ich muss unbedingt mit dir sprechen. Ich muss … irgendwie versuchen, dir … dir zu …«

»Du bist immer willkommen, Kenneth«, lächelte sie.

»Dessen bin ich mir nicht so sicher«, murmelte er und war erstaunt darüber, wie nahe er daran war, aufzuschreien. »Ich will nichts von dir verlangen. Ich erwarte auch nichts von dir. Ich möchte nur, dass du verstehst …«

»Ich verstehe alles, Kenneth«, erwiderte sie sanft. »Und natürlich kannst du kommen. Wann immer du willst. Wir werden uns beide freuen, Vater und ich.«

Jackson wusste, dass Marvin Cooper sich ganz sicher nicht über seinen Besuch freuen würde. Jetzt und hier muss ich sie festhalten, erzählen und erklären – nicht mehr warten, schoss es ihm durch den Kopf. Aber da fiel die Ladentür ins Schloss, und er sah auf: Der alte grauhaarige Clark Marshall stand auf der Treppe. Es tropfte von den Enden seines unglaublichen Schnauzbartes und William Chapman war bei ihm. Chapman grüßte mit einer kurzen Handbewegung und Jackson winkte zurück.

In diesem Augenblick entzog sich Elizabeth ihm. Sie nahm ihre Pakete fester in den Arm und machte sich auf den Heimweg. »Komm, wann du willst, Kenneth!«, rief sie ihm noch über die Schulter zu.

Mit hängenden Schultern stand er da. Er fühlte sich elend, als er sie so gehen ließ.

***