Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee

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Kapitel 8

Der alte Marshall saß auf einem Gepäckkarren im Bahnhof von Berkhamsted und sprach mit seinem neuen Freund, Dr. Charles Finch. »Schaut mir mehr nach einer Katzenmusik aus als nach einem Empfang«, bemerkte er.

»Katzenmusik? Was meinen Sie damit?«

»Wenn bei uns zwei heiraten, macht man ihnen eine in der ersten Nacht«, erklärte Marshall. »Mit Zinnpfannen und Katzenmiauen, bis das junge Paar genervt aufsteht, die ganze Bande ins Haus einlässt und ihnen etwas zu Essen und Trinken anbietet.«

»Nicht gerade sehr schön für das junge Paar, … so ein Überfall in der Hochzeitsnacht«, erwiderte Finch und stellte den Kragen seines Mantels auf.

»Ach wo, das ist hier eben Tradition«, meinte Marshall lachend. »Es dauert bis zum frühen Morgen, mit allerhand Jux, der, wie ich zugeben muss, nicht immer sehr vornehm ist.«

Es waren mehr Menschen am Bahnhof, als Dr. Finch vermutet hatte. So ziemlich die gesamte Einwohnerschaft von Little Gaddesden hatte die fünf Meilen nach Berkhamsted auf sich genommen, mit Ausnahme von Marvin Cooper und seiner Tochter. Elizabeths Vater hätte sein Atelier nicht einmal dem Erzengel Gabriel zuliebe verlassen, und sie war unterwegs, um die Papierhüte und das übrige Zeug für die Feier zu beschaffen. Man fand zwar, dass sie die Besorgung auch am Tag zuvor hätte erledigen können, aber sie war allgemein sehr beliebt, und es wurde nicht viel über sie geklatscht.

Stanley und Pauline Kennedy waren ebenfalls da, und ihr Mann befand sich im Bahnhofshotel, ›um sich in Stimmung zu trinken‹, wie Marshall sagte. Da waren auch noch William Chapman und Jack Taylor, der Bezirksanwalt und einzige Rechtsanwalt der Gegend, und natürlich auch Miss Uppingham. Am andern Ende des Bahnhofes, abseits der allgemeinen Menge, stand der junge Kenneth Jackson, der immer wieder auf seine Taschenuhr blickte, als wollte er dadurch die Ankunft des Zuges beschleunigen. Violett Stamford, ebenfalls abseits, schlank und elegant in ihrem pelzbesetzten Mantel, sprach mit einem distinguierten Herrn mittleren Alters, der einen ausgezeichnet geschnittenen Anzug trug und aus einer elfenbeinernen Spitze eine Zigarette rauchte.

»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Finch.

Marshall nahm den Strohhalm, an dem er kaute, aus dem Mund und brummte: »Das ist der ehrenwerte Richter Terrence Brown.«

»Ein Einheimischer?«

»Nein, ein Zugezogener. Er war zuvor am ›Old Bailey‹ in London. Hat sich aber vor ein paar Jahren zur Ruhe gesetzt und lebt seitdem hier … Ist ein komischer Kerl.«

Von weitem hörte man die Lokomotive pfeifen, und alles lief hin und her. Nur Kenneth Jackson stand plötzlich still und bastelte an seiner Pfeife. Kinder liefen den Erwachsenen zwischen den Beinen herum und trieben ihren Unfug. Finch sah lächelnd dabei zu, wie ein paar Buben einen Kranz leerer Blechdosen an Violetts Pferdegespann anbrachten. Irgendwo in der Menge begann der Lärm, mit Pfannen und Deckeln, Glocken und allen möglichen Instrumenten, als wollte man in Stimmung kommen, obgleich der Zug noch gar nicht in Sicht war.

Endlich erschienen über der letzten Biegung die ersten Rauchwölkchen der schweren Lokomotive, und schließlich, mit melancholischem Warnsignal, der Zug. Er fuhr schnaufend ein und kam quietschend zum stehen. »Willkommen!«, rief der Menschenauflauf und jubelte, wodurch sich der Lärm noch weiter steigerte.

Charles Finch bemerkte zwei große Überseekoffer, die über und über mit Hotelzetteln beklebt waren, und dann erschien Harold Stamford – der Held des Tages. Finch war beeindruckt. Stamford war groß und dunkel und beinahe zu schön für einen Mann. Er sah aus wie ein erfolgreicher Theaterschauspieler, der von einer grandiosen Europatournee zurückkam. Seine Kleidung wirkte irgendwie überladen, fast so, als wäre die Grenze des guten Geschmacks erreicht.

Jubelnd umringte ihn die Menge. Dr. Finch kletterte schamlos auf einen Gepäckkarren, um sich nichts von dem Schauspiel entgehen zu lassen. Er sah die zwei recht gleichgültigen und nur angedeuteten Küsse, mit denen Harold seine Frau begrüßte – auf jede Wange einen. Er bemerkte die warmen Händedrucke vieler anderer, die er nicht persönlich kannte, aber von denen er bereits einige zuvor im Ort gesehen hatte. Er sah, dass sich weder Chapman noch Jackson nach vorn gedrängt hatten, um ihm die Hand zu schütteln und wie Stamford nach Jackson Ausschau hielt, um ihn zu umarmen. Dabei entging ihm nicht Kenneth Jacksons blasse, ungesunde Gesichtsfarbe. Zuletzt, als der Zug bereits wieder abgefahren war, ersuchte Richter Brown die versammelte Menge um Ruhe.

»Mein lieber Harold, man hat mich beauftragt, eine Willkommensrede zu halten«, begann er mit seiner kräftigen Stimme.

»Hört, hört!«, schrie jemand aus dem Publikum.

Die Stimme des Richters war warm und geschult. »Ich hatte eine Rede vorbereitet«, fuhr er fort, »doch die Freude, Sie wiederzusehen, hat sie aus meinem Gedächtnis vertrieben. So will ich nur sagen, dass wir glücklich sind, Sie wieder heil und gesund zurück in unserer Mitte zu sehen!«

Applaus kam auf, gefolgt von weiterem Händeschütteln, Lärm, Pfannenschlagen und Glockengebimmel, während Stamford und seine Frau langsam zur Kutsche schritten. Die Überseekoffer wurden hinten aufgeladen. Dann kletterte Stamford auf die Kutschbank neben seine Frau, und ließ die Pferde antraben. Man erließ ihnen den Rest der Katzenmusik und war so gnädig, sie ihre Wiedervereinigung allein feiern zu lassen – was sie auch taten.

*

Zu Hause angekommen, zog Violett Stamford ihren pelzbesetzten Wintermantel aus und ging in das holzgetäfelte Studio. Dort goss sie gerade zwei Drinks ein, als ihr Mann eintrat. Sie wandte sich ihm zu und sah in diesem Augenblick besonders kühl und reizend aus.

»Nun, Liebling«, sagte sie in spöttischem Ton, »hast du keine wärmere Begrüßung für mich als die zwei keuschen Küsse am Bahnhof?«

»Gewiss habe ich eine!« Er hob die Hand und gab ihr eine Ohrfeige – so beißend stark, dass sie zurücktaumelte und auf die Couch fiel. »Ist diese Begrüßung warm genug für dich?«, fragte er darauf, mit einem bösen Funkeln in den Augen.

***

Kapitel 9

Das Haus war vom Keller bis zum Dachboden hell erleuchtet. Pauline Kennedy hatte alles festlich geschmückt, Mit unzähligen Papierschleifen und Lampions – Überbleibseln der Gartenfeste aus Major Saunders' Tagen. Der Platz zwischen dem Haus und den Ställen, den früher der Gemüsegarten eingenommen hatte, diente jetzt als Stellplatz für Pferde und Kutschen. Stanley hatte vorausschauend eine Sturmlaterne an den Weidenbaum gehängt, damit niemand versehentlich in das leere Schwimmbassin fuhr.

Die ganze Siedlung schien anwesend zu sein – arm und reich. Es schien als sollten an diesem Abend alle Meinungsverschiedenheiten vergessen werden. Die Cunningham-Boys spielten ordentlich auf. Alkohol gab es in Hülle und Fülle. Sogar Richter Brown beteiligte sich am Tanz. Auch Charles Finch, der weder trank noch tanzte, unterhielt sich augenscheinlich ausgezeichnet. Violett Stamford, die in einem atemberaubenden Kleid erschienen war, durfte keinen Tanz auslassen. Sie fiel wie immer aus dem Rahmen und brachte die anderen Damen in Rage, aber die anwesenden Herren reagierten exakt so, wie sie es sich gewünscht hatte: Sie war der unumstrittene Mittelpunkt des Abends.

Harold Stamford schien ein wenig niedergeschlagen zu sein. Er trank schnell und heftig, um sich aufzuheitern. Finch versuchte ein- oder zweimal, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, doch jedes Mal wurde der Ehrengast abgelenkt.

Die Coopers kamen zeitig, und Miss Uppingham bemerkte, dass Elizabeth mit Kenneth Jackson tanzte, als hätte ihre Freundschaft niemals eine Unterbrechung erfahren. Marvin Cooper gefiel das ganz und gar nicht, und er versuchte, an der improvisierten Bar mit Violetts Mann um die Wette zu trinken.

Der größte Misston des Abends war Raymond Kennedys Benehmen. Sooft es ihm möglich war, flirtete er mit Mrs. Stamford, vor allem dann, wenn er wusste, dass ihn seine Frau beobachtete. Dabei stellte er lautstarke Vergleiche zwischen Violett und den anderen Damen an, die für letztere nicht gerade schmeichelhaft waren.

Stanley, der sich anfangs gut unterhalten hatte, zog sich bald zurück. Er schämte sich für seinen Vater und war wütend auf ihn. Als er aus der Küche zurückkam, wo er ein Glas Wasser getrunken hatte, stieß er in der Vorhalle auf ihn, wo er engumschlungen in einer dunklen Ecke mit Mrs. Stamford stand. Das war für ihn zuviel und er hielt es nicht mehr aus. Sofort stürzte er aus dem Haus, über den Stellplatz zu den Ställen.

Dort, wo früher die Pferdegeschirre hingen, hatte Stanley sich einen Bastelraum eingerichtet. Ein altes Bett stand darin. Er legte sich hin, deckte sich mit einer mottenzerfressenen Pferdedecke zu und starrte vor sich hin. Tränen brannten in seinen Augen, und sein Körper schüttelte sich in wildem Schluchzen. Nach einer Weile fiel er erschöpft in festen Schlaf.

Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, als er vor Kälte erwachte. Er hörte Musik – also war die Feier noch nicht zu Ende. Er wollte nicht ins Haus zurück, aber hier im Stall gab es keine Möglichkeit, sich zu erwärmen. Kurz hielt er seine Hände um die Flamme der kleinen Kerze. Seine Zähne klapperten und es blieb ihm nichts anderes übrig, als doch wieder zurückzukehren.

Draußen hatte es erneut zu schneien begonnen. Es war windstill und der Schnee fiel in großen fedrigen Flocken zu Boden. Er deckte die Furchen auf dem Fahrweg zu, verhüllte die Huf- und Radspuren am Stellplatz und hatte auch seine eigenen Fußtritte verwischt. Stanley wollte zur Küchentür laufen, als er den seltsamen Hügel im Schnee sah – dicht neben dem Schwimmbassin. Es war ein Hügel, der dort nicht hingehörte. Es sah aus, als hätte sich hier jemand schlafen gelegt und mit dem weißen Leinentuch des Schnees zugedeckt. Stanley zögerte. Dann aber ging er langsam auf den Hügel zu. Er hatte eine instinktive Angst vor Betrunkenen, woran wahrscheinlich das Benehmen seines Vaters schuld war. Aber ein Mensch, der unter der weißen Pracht einschlief, konnte leicht erfrieren …

 

Er kam näher an den Hügel heran. Dann sah er die Form von zwei ausgebreiteten Armen und die Konturen eines Körpers mit dem Gesicht nach unten. »Hallo!«, sprach Stanley die Person schüchtern an. Und nochmals, diesmal deutlich lauter: »Hallo!«

Ein kleiner Windstoß blies den Schnee von der einen ausgestreckten Hand. Sie sah wie eine weiße Klaue aus …

Augenblicklich drehte sich Stanley auf dem Absatz um, rannte in die Küche und durch deren Tür in die Halle. Die heiße, schlechte Luft und der Lärm drangen auf ihn ein, dass ihm fast übel wurde – Alkohol, Zigarettenrauch, schrilles Lachen und unermüdliches Schleifen von Füßen über das Tanzparkett. Stanley öffnete den Mund und versuchte zu schreien, aber er brachte keinen Ton heraus.

Plötzlich legte sich eine feste, freundliche Hand auf seine Schulter: »Mein Gott, Junge! Du siehst ja schrecklich aus! Was ist los?«

Stanley wandte sich um und sah in die milden, fragenden Augen des Doktors. »G … Gott seeeei Daaank, dass ich Sie … gefunden habe«, stammelte er mit klappernden Zähnen.

»Was ist denn los?«, fragte Finch ihn nochmals.

»Köö … nnen Ssiie mit mir … kommen? Draußen liegt jemand im Schnee. Er ist krank oder verletzt, glaube ich. Er sieht aus wiie eiiii …n … T …toter!«

***

Kapitel 10

Charles Finch und Stanley gingen unbemerkt durch die Küche hinaus. Selbst Miss Uppingham, der ja sonst nie etwas entging, beobachtete sie nicht. Ihre scharfen Augen folgten sonst jedem Paar, das den Raum verließ, insbesondere wenn die ›skandalöse‹ Violett Stamford die eine Hälfte des Pärchens war.

Finch mühte sich noch mit den Ärmeln seines Mantels ab, als er mit Stanley im Hof ankam. Er bemerkte den frisch gefallenen Schnee. Die Flocken waren jetzt kleiner und kamen dichter herunter – sogar Stanleys Spur zum Haus war nur noch undeutlich zu erkennen.

»Wer ist es, mein Junge? … Wer ist der Kranke oder Verletzte?«, wollte Finch wissen.

»Das weiß ich nicht« Stanley sah ihn verängstigt. »Ich habe mich nicht getraut, nachzuschauen.«

Finch glaubte nicht an Vorahnungen, aber den ganzen Abend hindurch hatte er eine unbestimmte elektrische Spannung in der Luft gefühlt, und nach allem, was er aus seiner Unterhaltung mit Clark Marshall wusste, war er auf eine gewaltige Gewitterentladung vorbereitet gewesen. Er fragte sich, ob die beunruhigende Entdeckung des jungen Kennedy damit zusammenhing …

Trotz seines Schocks hatte Stanley daran gedacht, eine Sturmlaterne vom Haken im Flur mitzunehmen. Er hielt sie in Richtung des Schwimmbassins. »Dort, Dr. Finch!«, sagte er und schwenkte sie wiederholt nach vorn.

Finch, der mit dem hiesigen Terrain nicht vertraut war, konnte zunächst in den von Schnee bedeckten Hügeln und Vertiefungen nichts Ungewöhnliches erkennen.

»Dort drüben liegt er, Doktor … mit dem Gesicht nach unten«, wiederholte Stanley und wies erneut auf die Stelle. »Die Arme sind ausgestreckt.«

Erst jetzt bemerkte Charles Finch im Schnee die Umrisse einer Gestalt, die in ihrer Haltung stark an die Form eines Kruzifixes erinnerte. Er legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Sind das deine Spuren, die vom Stall herführen, Stanley?«, erkundigte er sich, und als dieser nickte: »Wir müssen in deinen Spuren gehen, damit wir andere nicht zerstören.«

Der Sechzehnjährige war viel zu aufgeregt, um die Bedeutung dieses Befehls zu verstehen oder zu bemerken, wie sehr sich der Ton des Doktors geändert hatte. Sie gingen in Stanleys Spuren auf den leblosen Körper zu. Ein paar Schritte davor blieb der Junge stehen. Seine auf den kleinen Hügel gerichtete Hand mit der Laterne, fing an zu zittern.

»Bleib hier stehen und halt das Licht ruhig«, wies Finch ihn an. »So ruhig, wie du kannst.« Hier, wo die Spuren des Knaben aufhörten, musste er im Neuschnee stapfen, der ihm bis zu den Waden reichte. Als er auf dem kleinen Hügel angekommen war, kniete er nieder und hob eine der ausgestreckten Hände unter der Schneedecke auf – aber schon bevor er mit seinen Fingern den Puls zu suchen begann, wusste er bereits, dass sie keinen finden würden. Das Gesicht des Toten war noch verborgen. Finch zögerte, dann stand er auf und wandte sich an den Jungen. »Ich fürchte, es ist sehr ernst, mein Sohn.«

»Ist er … ist er … tot?«

»Ja, Stanley«, bestätigte Finch mit ruhiger Stimme. »Du musst jetzt ganz genau tun, was ich dir sage.« Er sah ihm fest in die Augen. »Geh schnell ins Haus und hol mir Mr. Chapman her. Sage ihm, dass ein Unglück geschehen ist und dass ich ihn hier draußen brauche.«

»Ja, Dr. Finch«, erwiderte Stanley und wollte bereits gehen als Finch ihn zurückhielt.

»Halt, Stanley! … Ich möchte nicht, dass du irgendeinem anderen etwas sagst. Nicht einmal deiner Mutter. Die Feier soll weitergehen, bis wir herausgefunden haben, was vorgefallen ist. Hat du verstanden?«

Der junge Kennedy nickte.

»Gut. Dann komm gleich mit Mr. Chapman zurück«, betonte Finch, der unbeweglich stehenblieb, während er wartete. Auch ohne das Gesicht des Toten gesehen zu haben, wusste er genau, um wen es sich handelte. Wie seltsam ist doch das Leben, fuhr es ihm durch den Sinn. Vor ein paar Stunden ist das hier noch ein lebender, atmender, denkender Mensch gewesen, der gelacht, getanzt und auf einer Kindertrompete närrische Geräusche hervorgebracht hat. Die Plötzlichkeit und Endgültigkeit des Todes machte immer wieder den gleichen tiefen Eindruck auf ihn, sooft er ihm auch begegnet war. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Die Haustür war ins Schloss gefallen und er drehte sich herum. Stanley und Mr. Chapman eilten auf ihn zu. Er formte seine Hände zu einem Sprachrohr und rief: »Machen Sie bitte keine neuen Stapfen, Mr. Chapman! Halten Sie sich genau in unseren Spuren!«

Chapman stoppte, kam der Anweisung nach und ging vorsichtig auf Finch zu. »Was ist los, Dr. Finch? … Was ist passiert?«

»Wir haben eine Leiche«, erklärte Finch knapp.

Chapman starrte auf den halbverdeckten Körper. »Wissen Sie schon, wer es ist?«

»Ich fürchte, es ist der Ehrengast«, seufzte Finch leise. »Mr. Harold Stamford.«

William Chapmans Augen zogen sich in einem ungläubigen Erstaunen zusammen. »Harold? … Aber was ist geschehen? Ein Herzschlag?«

»Das ist kaum anzunehmen«, entgegnete Finch ernst. »Allerdings habe ich ihn noch nicht genauer untersucht. Ich wollte nichts anfassen, bevor Sie nicht genau dasselbe gesehen haben wie Stanley und ich. Deswegen habe ich Sie auch darum gebeten, dass Sie in unseren Spuren gehen. Sie werden bemerkt haben, dass es keine anderen im Schnee gibt … Das beweist uns, dass er schon eine gute Weile hier liegt.«

»Aber ich habe doch erst vor ein paar Minuten mit ihm gesprochen … so kommt es mir zumindest vor!«, erwiderte Chapman verwirrt. Er schien den Ernst der Lage noch immer nicht erfasst zu haben.

»Ich versuche gerade, Ihnen schonend zu erklären, dass ich es für einen Mord halte.«

Chapman starrte ihn an. Stanley stieß einen winselnden Laut aus, und er legte instinktiv den Arm um die Schulter des Jungen.

»Als ich herkam, konnte ich noch ein wenig sehen«, fuhr Finch fort. »Der Hinterkopf lag zum Teil frei.« Er zog ein Taschentuch aus seinem Rock und staubte den pulverigen Schnee von Harold Stamfords Kopf.

»Mein Gott!«, entfuhr es Chapman leise.

Stamfords Schädel war eingeschlagen worden. Selbst ungeübte Augen konnten auf Anhieb erkennen, dass es mindestens ein Dutzend Hiebe gewesen sein mussten, mit einem Gegenstand, der das Fleisch zu Brei und die Knochen zu Splittern geschlagen hatte.

Das haltlose Schluchzen des Jungen ließ Chapman aus seiner Trance erwachen. Er hielt ihn fest und murmelte: »Still, mein Junge … Ganz ruhig, Stanley.«

»Wir dürfen uns nichts vormachen«, bemerkte Finch. »Es kann sich auf keinen Fall um einen Sturz handeln. Er ist unzweifelhaft erschlagen worden … wild und sadistisch, … und mit einem schweren Gegenstand.«

»Aber warum?«, fragte Chapman und schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum nur?« Sein Gesicht wirkte auf einmal alt und müde.

»Wenn man immer den Grund solcher Verbrechen wüsste, könnte man sie verhindern, Mr. Chapman, statt sie nachher zu bestrafen«, antwortete Finch trocken, aber auch er wirkte jetzt um zehn Jahre gealtert.

William Chapman schüttelte erneut den Kopf, diesmal deutlich langsamer. »Sehen Sie, Doktor, ich bin zwar Polizeivorstand, aber ich habe hier noch niemals mit einem derartigen Verbrechen zu tun gehabt. Höchstens mit Hühnerdiebstählen. Auf so etwas wie einen Mord bin ich nicht vorbereitet. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll …«

»Ist Mr. Taylor nicht der zuständige Anwalt für diesen Bezirk?«, erkundigte sich Finch.

»Ja, ist er«, bestätigte Chapman. »Das fällt gewiss in sein Ressort. Ich werde ihn sofort holen.« Er wandte sich dem Haus zu. »Und vor allem werde ich den Musikern sagen, dass sie mit dem spielen aufhören sollen.«

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun«, gab Finch zu bedenken. »Es ist besser, wenn Mr. Taylor herkommt, ohne Aufsehen zu erregen. Je weniger Leute sich vorbereiten können, ehe Sie mit der Untersuchung beginnen, um so besser.«

»Aber der Mörder …«, warf Chapman ein.

»Der Mörder weiß bereits, dass sein Verbrechen entdeckt worden ist«, unterbrach ihn Finch. »Er hat gewacht und gewartet. Je länger wir ihn warten lassen, desto größer wird seine Unruhe … Und dieser Umstand wird für Sie arbeiten. Glauben Sie mir, Mr. Chapman … Lassen Sie ihn ruhig ein wenig schwitzen!«

***

Kapitel 11

Jack Taylor war Anfang der Dreißig, dunkelharig, energisch und ehrgeizig. Er dachte nicht daran, seine Karriere als Anwalt in einem Dorf wie Little Gaddesden zu beenden. Charles Finch erriet sogleich, dass Taylors erste Gedanken seinen politischen Zielen galten, als er vor dem im Schnee stand, was von Harold Stamford übriggeblieben war: ›Wenn ich diesen Fall kläre, ist das ein großer Schritt vorwärts. Wenn ich versage, werden sich die Leute lebhaft daran erinnern … Eine große Chance oder eine große Niederlage …!

Aber wenn Stamfords Tod ihm vielleicht auch weniger wichtig vorkam als seine eigene Zukunft, wusste Taylor, was zu tun war. Zunächst musste Scotland Yard verständigt werden. Dann der ansässige Mediziner, der einen Bericht über die Todesursache machen musste. Doch der war zu einer Entbindung ins Nachbardorf gefahren und konnte telefonisch nicht erreicht werden. Man musste ihn holen lassen. Vielleicht kann Stanley Kennedy … Halt! Der Gedanke brachte ihn auf den Jungen. Er wandte sich rasch, aber nicht unfreundlich an ihn. »Wie kommt es, dass gerade du den Leichnam gefunden hast, Stanley?«

Der Junge schluckte heftig, um das Zittern aus seiner Stimme zu bringen. »Ich war im Stall«, sagte er und deutete auf den Gebäudeteil. »Ich bin von der Feier weggegangen, weil ich genug davon hatte. Dann habe ich mich im Stall auf das Bett gelegt und bin eingeschlafen. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe …«

»Du hattest genug von der Feier?«, fragte Taylor erstaunt.

Stanleys Wangen überzogen sich mit dunklem Rot. »Ja«, bestätigte er.

»Aber es war doch so lustig!«, lächelte Taylor. »Alle haben sich gut unterhalten. Du auch … Ich habe doch gesehen, dass du mit der kleinen Hardwick getanzt hast.«

»Aber er hat sich nicht gut unterhalten, wie er sagt«, warf Finch freundlich, doch mit korrigierendem Nachdruck ein.

»Alle haben sie Mrs. Stamford angehimmelt«, erklärte Stanley. »Sie, der Richter und … eben alle.«

Vor allem dein Vater, dachte Finch und sah Taylor an, den die Antwort des Jungen nicht aus der Ruhe gebracht hatte.

»Wenn man mit einer Frau tanzt, bedeutet das doch nicht gleich, dass man sie auch anhimmelt, Stanley«, stellte Taylor schmunzelnd klar. »Mrs. Stamford und ich sind nur gute Freunde.«

Der Junge senkte betreten die Augen und stieß mit einem Fuß gegen den Schnee.

»Du bist also im Stall eingeschlafen. Und was dann, Stanley?«, nahm Taylor seine Fragen wieder auf.

»Dann bin ich aufgewacht, weil ich gefroren habe. Ich wollte nicht ins Haus zurück, aber im Stall war es einfach sehr kalt. Deshalb ging ich hinaus … und dann habe ich hier etwas gesehen, das … das hier nicht hergehört. Eine Art Hügel … unter dem Schnee …«

 

»Und du wolltest natürlich nachsehen, was es damit auf sich hat?«

Der Junge nickte. »Ich habe geglaubt, dass jemand krank geworden ist, deshalb bin ich schnell ins Haus gelaufen. Dort traf ich Dr. Finch und bat ihn, nachzusehen.«

»Und du hast keine Spuren im Schnee gesehen?«

»Nein. Keine Spuren.«

»Als ich mit ihm herauskam«, fügte Finch hinzu, »war nichts außer seinen Fußstapfen zu sehen, und auch die waren schon halb verweht. Wir haben gut aufgepasst, keine neuen zumachen.«

»Können Sie mir erklären, warum Sie so umsichtig gehandelt haben, Doktor? Sie konnten zu diesem Zeitpunkt ja schließlich nicht wissen, dass es sich um einen Tatort handelt«. Taylor sah ihn fragend an.

Der kleine graue Mann zuckte die Achseln. »Betrachten Sie es als eine Ahnung.«

»Sie haben geahnt, dass es einen Mord gibt?« Taylor krauste die Stirn.

»Ich habe geahnt, dass die Bombe geplatzt ist«, erwiderte Finch ruhig.

»Von welcher Bombe sprechen Sie, Doktor?«

»Haben Sie es nicht selbst gespürt? Seit drei Tagen lag etwas in der Luft … Das brauche ich Ihnen doch nicht zu erläutern.«

Taylor und Chapman blickten einander an.

»Ich habe es auch gefühlt, mich aber nicht auf meinen Instinkt verlassen«, räumte Chapman ein.

»Lauf hinüber und bringe mir eine Decke aus dem Stall. Stanley«, befahl Taylor dem Jungen. Als Stanley fort war, meinte er: »Wenn seine Fußspuren die einzigen waren, könnte er es gewesen sein …«

»Aber um Himmels willen, Mr. Taylor! Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein!«, unterbrach ihn Chapman sofort.

»Man muss schließlich jede Möglichkeit in Betracht ziehen«, erwiderte Taylor gelassen.

»Haben Sie nicht daran gedacht, dass Sie noch etwas anderes unter dem Schnee finden könnten als die Fußstapfen des Mörders?«, warf Finch mit milder Stimme ein.

»Was meinen Sie?«

»Nun, ich denke dabei an die Mordwaffe«, antwortete Finch. »Sehen Sie sich die Wunde bitte einmal genau an, Mr. Taylor … Finden Sie nicht, dass da zwei oder drei Pünktchen glitzern?«

Die drei Männer blickten hinunter auf das rohe, klaffende Loch in Stamfords Schädel. Jack Taylor bezwang seinen Widerwillen und richtete den Schein der Sturmlaterne direkt darauf. Dann bemerkte er, was Finch bereits zuvor gesehen hatte.

»Die Knochen sind völlig zermalmt«, konstatierte er zögernd. »Enthalten Knochen nicht eine gewisse Menge an Phosphor?«

»Gewiss tun sie das und auch das Gewebe. Aber was Sie hier glitzern sehen, ist definitiv kein Phosphor. Die Felsen in dieser Gegend enthalten Glimmerschiefer in kristalliner Form. Die Kristalle splittern leicht ab, wie Sie vielleicht wissen. Natürlich werden Sie eine Analyse machen lassen. Aber ich bin sicher, dass Mr. Stamfords Kopf mit einem solchen Felsstück eingeschlagen wurde … Und da ich mir nicht vorstellen kann, dass der Mörder ihn nach Hause getragen hat, muss der Stein folglich noch irgendwo unter dem Schnee zu finden sein … Vermutlich irgendwo in Wurfweite … Möglicherweise findet er sich auch hier, … direkt neben dem Leichnam.«

»Dr. Finch hat recht«, bestätigte Chapman nickend. »Das sind Glimmersplitter. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Ich glaube nicht, dass Sie abgesehen von Blut und Haaren noch andere Spuren am Stein finden«, fuhr Finch fort.

»Dann wissen wir zumindest gesichert, wie es geschehen ist«, hielt der Anwalt fest. »Aber nicht, wer es war und warum …«

»Stimmt. Wir wissen nicht wer es war und auch nicht warum er es getan hat«, nickte Finch zustimmend.

Stanley kam mit einer alten Pferdedecke zurück. Taylor und Chapman legten sie über Stamfords Leiche. »Dann lassen Sie uns nach dem Stein suchen«, sagte Taylor im Anschluss.

Sie brauchten nicht lange zu suchen und fanden ihn, keine zehn Schritte entfernt. Obwohl er nass vom Schnee war, bildete er fraglos das Beweisstück, das Finch in ihm vermutet hatte.

»Stamford muss herausgekommen sein, um nach Luft zu schnappen oder eine Zigarette zu rauchen«, folgerte Taylor nachdenklich, »… und irgendjemand ist ihm nachgeschlichen, um ihn zu erschlagen.«

»Das braucht nicht unbedingt zu stimmen«, warf Finch ein. »Sie gehen davon aus, dass Mr. Stamford allein war. Es gibt aber keinerlei Beweis dafür, dass ihm jemand unbemerkt gefolgt ist. So leicht kann das nicht gewesen sein.« Er trat einmal mit beiden Füßen auf der Stelle. »Hören Sie, wie der Schnee unter jedem Schritt knirscht? Mr. Stamford hätte es gar nicht überhören können. Sie vermuten, dass er hinterrücks angegriffen wurde …« Er sah Taylor herausfordernd an. »Wir können aber nicht ausschließen, dass Mr. Stamford nicht selbst der Angreifer war. Vielleicht hat der Täter aus reiner Notwehr gehandelt.«

»Ist das Ihre Meinung, Doktor?«, fragte Taylor mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich habe noch gar keine Meinung, Mr. Taylor!«, stellte Finch mit Nachdruck klar. »Ich möchte nur klarstellen, dass wir noch vieles herausfinden müssen, bevor wir sagen können, was hier geschehen ist …« Er lächelte. »Verzeihen Sie, dass ich so viel spreche. Schließlich ist es Ihre Aufgabe und nicht die meine.«

Taylor suchte in seiner Tasche nach dem Zigarettenetui und sah Finch scharf an. »Sie sprechen gerade so, als ob Mord für Sie ein Alltagsereignis wäre!«

Finch atmete tief durch und seufzte: »So ist es auch, Mr. Taylor … So ist es … Leider.«

***

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