Charles Finch: Die Karte des Todes

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Charles Finch: Die Karte des Todes
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Charles Finch:

Die Karte des Todes

Kriminalroman

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2018 Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2018 @ ysbrand, Depositphotos, ID 54034965

Impressum

Copyright: © 2018 Thomas Riedel

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben, wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann.«

Mark Twain (1835-1910)

»Wahres Unglück bringt der falsche Wahn.«

Friedrich von Schiller

(1759-1805)

1

Barking, England, 1889

Mit Ausnahme von Duncan Cantrell hatte sich die gesamte Familie im Salon des kühlen dunklen Hauses in der ›Clockhouse Avenue‹ versammelt. Der Herr des Hauses war verhindert. Er lag eine Etage höher auf seinem Bett und war tot. Er war ermordet worden. Eine Tatsache, die seine Familie noch verarbeiten musste. Dass er tot war, war schon an sich schwer zu glauben, obwohl seit einiger Zeit Todesdrohungen wie ein Damokles-Schwert über ihm hingen. Aber ermordet und obendrein von jemand, dem er selbst Gastfreundschaft gewährt hatte, war zu viel, um es auf einmal zu begreifen – und sie wussten, dass es einer von ihnen getan haben musste.

Es war ein seltsamer Mord, denn es gab keine Spur von Gewalt, keine Waffe und auch kein Gift. Aber da es sich definitiv nicht um einen Unfall handelte, musste es Mord sein. Jedes der im Salon wartenden Familienmitglieder, dachte in diesem Augenblick wohl darüber, dass es vermutlich besser gewesen wäre, von all dem nichts zu wissen. Und obwohl es nicht zu begreifen war, hatte sich die Annahme eines Tötungsdeliktes in sie eingeschlichen – hatte sie wie eine Schlange umwunden und ließ sie nicht mehr los.

Der Unfall, der den Mordfall aufgedeckt hatte, war buchstäblich zu sehen. Ein kleiner Junge, der auf der anderen Straßenseite wohnte, warf seinen Ball gegen eine Seite des Hauses. Anschließend konnte er den Ball nicht fangen und musste zusehen, wie dieser auf die Straße rollte. Er lief ihm nach und wurde von einem vorbeifahrenden ›Hansom Cab‹, einer einspännigen Droschke, erwischt. Man hatte den Jungen ins Haus getragen und nach einem Arzt gerufen. Wie der Zufall es wollte, war es Dr. Charles Finch, der zugleich auch Duncan Cantrells Arzt war.

Der Junge mit dem Ball war nicht schlimm verletzt worden und hatte nur einige Prellungen und einen Schock davongetragen.

Als Dr. Finch den Jungen verließ, blickte er über die Straße hinüber auf das rötliche Backsteingebäude von Duncan Cantrell. Eigentlich lag für den heutigen Tag kein Hausbesuch an, aber da er nun schon einmal in der Nachbarschaft war, beschloss er kurz vorbeizuschauen. Freudig wurde er von der Haushälterin empfangen. Er kannte sich gut im Haus aus und schritt die breite geschwungene Treppe zum zweiten Stock hinauf, da er dem erst vor wenigen Monaten eingebauten Aufzug nicht vertraute. Er hatte ohnehin nicht verstanden wozu dieser nütze sein sollte.

Finch klopfte an Duncan Cantrells Schlafzimmertür. Ohne eine Antwort zu bekommen, öffnete er und ging auf Zehenspitzen hinein, um seinen Patienten nicht unnötig zu wecken.

Aber Duncan Cantrell war nicht am schlafen. Er kämpfte in einem letzten gewaltigen Kampf mit dem Tod – allein und in stiller Qual. Sein weißes verschwitztes Haar klebte an seiner Stirn und seine knochigen Hände klammerten sich verzweifelten an die Bettdecke. Seine Augen standen weit offen und rollten wie wild hin und her.

Noch bevor Finch das Krankenbett erreicht hatte, holte Duncan Cantrell noch einmal tief Luft – dann lag er still da.

Als Finchs Finger keinen Puls fanden, wartete er nicht untätig ab, sondern verabreichte ihm sofort eine Injektion. Dann rief er um Hilfe.

Es dauerte ein wenig, ehe Lucille Cantrell, Duncans Schwiegertochter, seinem Ruf folgte.

Für Finch gab es jetzt nichts anderes zu tun, als auf eine Reaktion auf die Injektion zu warten, die aber nicht einsetzen wollte. Während er das tat, nahm er eine Medizinflasche vom Nachttisch.

Sie war offen und ein Teil vom Inhalt auf der Tischplatte verschüttet worden.

Finch hob die Flasche an und schnüffelte an der Öffnung. Er drehte seine Handfläche nach oben und goss etwas von der farblosen Flüssigkeit darauf. Dann testete er sie mit der Zungenspitze.

»Seltsam«, merkte er an. »Keine Medizin. Das ist nichts anderes als normales Leitungswasser.«

***

2

Als Inspector Bradley von Scotland Yard dem kleinen unauffälligen Mann gegenüberstand, dachte er daran, dass der überall in der Menge untertauchen konnte und sich garantiert niemand an ihn erinnern würde. Aber was Finch an Äußerlichkeiten nicht mitbrachte, machte er mit seinen beruflichen Qualitäten wett – davon war Bradley bereits nach zwei Stunden seiner Zusammenarbeit mit ihm fest überzeugt.

»Sind Sie bereits zu einem Schluss gekommen, Inspector?«, fragte Finch.

»Ja.«

»Es handelt sich also um Mord.«

»Ja.«

»Im rechtlichen Sinn?«

»Definitiv«, bestätigte Bradley.

»Was werden Sie nun unternehmen?«

Bradley fuhr sich mit beiden Händen durch seine kurzgeschnittenen roten Haare. »Eine gute Frage, Doktor!«, erwiderte er mit einem Lächeln in den Mundwinkeln. Er legte zwei frische Holzscheite in den Kamin und Funken stoben auf.

Das Feuer brachte eine gewisse Gemütlichkeit in den Raum und das gegenüberliegende Arbeitszimmer mit all seinen angefüllten Bücherregalen.

»Sie müssen zugeben, dass ein toter Mann und eine Flasche voll Leitungswasser kein vielsprechender Ausgangspunkt sind, nicht wahr?«

»Sie sollten aber nicht vergessen, dass dieses Leitungswasser ebenso tödlich für Mr. Cantrell war, als wenn jemand über ihm gestanden und ihm ein Messer zwischen die Rippen gestoßen hätte«, erwiderte Finch.

»Ich verstehe«, lächelte Bradley. »Ich habe das nur zu gut verstanden, Doktor. Aber betrachten Sie das Problem einmal von meiner Seite aus. Wenn ein Mann durch ein stumpfes Instrument oder eine Handfeuerwaffe getötet wird, fange ich als Detektiv an, nach dem einen oder anderen zu suchen … Wenn er vergiftet wurde, dann suche ich nach Gift und versuche die Personen ausfindig zu machen, die Zugang zur Quelle hatten. Aber in diesem Fall war meine Untersuchung bereits nach fünf Minuten beendet. Mr. Cantrell wurde getötet indem jemand seine lebensrettende Medizin durch Leitungswasser ersetzt hat … Wasser, das vermutlich aus dem acht Fuß entfernt liegenden Badezimmer kam. Jeder hier im Haus hätte die Flasche entleeren und mit Wasser auffüllen können … Ein Vorgang, der absolut keine belastenden Spuren hinterlässt. Und selbst wenn wir Fingerabdrücke auf der Flasche finden, dann haben diese keinerlei Aussagekraft. Jeder im Haus kann die Flasche ohne Wissen des ausgetauschten Inhalts in gutem Glauben berührt haben. Dasselbe gilt für den Wasserhahn.« Er sah Finch mit zusammengekniffenen Lippen an. »Damit wäre ich auch schon am Ende meiner Untersuchung angelangt.«

»Es bleibt aber bei der Tatsache, dass es kaltblütiger Vorsatz war«, beharrte Finch. »Es war allgemein bekannt, dass Mr. Cantrell einen Herzinfarkt hinter sich hatte, und alles was zwischen ihm und dem Tod stand, war dieses Medizinfläschchen. Die Person, die es in den Abfluss entleerte und mit Wasser auffüllte, wusste genau was passieren würde, wenn er wieder einen Anfall bekam …«

»Ich weiß, Doktor, ich weiß«, erwiderte Bradley. Seine Stimme klang müde. »Es handelt sich um Mord.«

»Wie Sie sagen, die Suche nach physischen Beweisen ist vorbei ehe sie begonnen hat«, räumte Finch ein. »Wir haben eine Apothekerflasche mit Wasser, aber die wird uns kaum verraten, wer der Täter ist.«

»Sie haben ja eine reizvolle Art das Problem auf den Punkt zu bringen«, schmunzelte Bradley kopfschüttelnd.

»Betrachten Sie das Ganze als reizvolles Problem«, gab Finch zurück, »als ein äußerst reizvolles Problem.«

»Oh ja, ein äußerst reizvolles Problem, mein werter Doktor«, entgegnete der Inspector. Er holte eine Zigarette aus seiner Jackentasche und schob mit der Schuhspitze verärgert einen Scheit Holz weiter ins Feuer. »Normalerweise betrachten wir einen Fall aus zwei Blickwinkeln. Da sind zum einen die physikalischen Hinweise, die auf jemanden hindeuten und auf der anderen Seite Motive … quod erat demonstrandum … Da es keinerlei Hinweise gibt, haben wir nur den Fakt mit der Flasche. Es wäre vielleicht hilfreich, wenn Sie mir etwas über die Familie erzählen, Doktor, bevor ich mit den Angehörigen rede.«

Finch starrte für einen Moment ins prasselnde Feuer. »Da war Duncan«, begann er, »und da ist Hazel, seine Frau. Die beiden haben drei erwachsene Kinder, Cedric, Spencer und Dorothy. Dann gibt es da noch Spencers Frau Lucille … und Elizabeth.«

»Elizabeth?«

»Miss Elizabeth Evans ist Mrs. Cantrells Schwester. Soweit ich weiß, gehört sie schon seit gut dreißig Jahren zu diesem Haushalt.«

 

»Also eine alte Jungfer?«

»Eine Jungfer sicher, aber auf keinen Fall altmodisch«, korrigierte Finch.

»Und wie steht's mit den anderen?«

»Darüber sollten Sie sich besser Ihr eigenes Urteil bilden, Inspector. Ich will Sie auf keinen Fall zu Vorurteilen verleiten.«

»Sie haben recht, Doktor. Verzeihen Sie mir meine Frage … Aber eine Frage habe ich dann doch noch … Sehen Sie irgendein Motiv?«

Finch sinnierte eine lange Zeit, ehe er schließlich sagte: »Nichts Offensichtliches. Jedenfalls kann es nicht um Geld gehen. Vor einem Jahr, als Mr. Cantrell wusste, dass er jederzeit sterben könnte, verteilte er sein Geld bereits an die Mitglieder seiner Familie. Sie alle bekamen ihren Anteil an seinem Nachlass zu seinen Lebzeiten. Mit anderen Worten: Es gibt diesbezüglich nichts mehr, was jemand zu seinem Vorteil noch ändern könnte.«

»Nicht gerade ermutigend, finden Sie nicht auch? Keine physischen Hinweise und kein offensichtliches Motiv. Wie steht es mit Rache oder Eifersucht, Doktor?«

»Mit solchen Begriffen kann ich nicht viel anfangen«, erwiderte Finch.

Bradley starrte ihn an.

»Mr. Bradley, wenn ein britischer Soldat einem indischen Baby die Hand abschneidet und dessen Vater den Soldaten einholt und tötet, ist das Rache. Es wurde ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht begangen, und das daraus resultierende Ergebnis ist Rache für dies Unrecht.«

»Dem würde ich zustimmen,«

»Aber betrachten wir das Ganze einmal anders und lassen Sie uns annehmen, das Falsche ist nicht real«, fuhr Finch fort. »Angenommen, es ist eine Fantasie im Kopf eines Menschen, der sich nur vorstellt, verletzt worden zu sein. Angenommen diese Person tötet wegen dieser Fantasie … Sprechen wir dann immer noch von Rache, Mr. Bradley? Immerhin gab es kein wirklich vorhandenes Unrecht … In diesem Fall können wir wohl kaum von Rache sprechen, nicht wahr?«

»Das ist eine metaphysische Definition, werter Doktor.«

Finch hatte die Fingerspitzen seiner Hände leicht gegeneinander gedrückt. Seine blassen grauen Augen schauten nachdenklich ins Feuer. »Es geht nicht um Definitionen, Mr. Bradley. Es geht um Fakten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Mann stiehlt seinem Arbeitgeber fünf Pfund und zahlt davon seine Miete. Sie werden das damit erklären, dass der Mann unter Druck stand, in Gefahr seine Unterkunft zu verlieren und gezwungen war zu stehlen, um sich davor zu schützen.«

»Worauf wollen Sie mit diesem Beispiel hinaus?«

»Ich möchte darauf hinaus, dass diese Erklärung nicht tief genug geht«, erklärte Finch. »Eine frühe Konditionierung lässt diesen Mann glauben, dass er einen Anspruch auf diese fünf Pfund hat, dass sie ihm zustehen, um seine Miete zu bezahlen, völlig unabhängig davon, wie er an das Geld kommt. Mit dem Diebstahl ist ein Risiko verbunden, aber er geht es ein, weil er glaubt, dass es gerechtfertigt ist. Nun stellt sich die Frage, wie er zu dieser Auffassung kommt. Wurde er als Kind verwöhnt und verzogen? Hat darüber den Glauben gewonnen, dass er alles haben kann, was er will? Oder glaubte er vielleicht, dass ihm als Kind Dinge vorenthalten wurden, die ihm zugestanden hätten? Fakt ist, er nimmt sich die fünf Pfund, wenn er sie braucht und sie ihm keiner gibt.«

»Ich muss gestehen, dass ich Ihnen nicht so ganz folgen kann, Doktor.« Er zündete sich die Zigarette an, die er schon eine Weile in den Fingern hielt.

Finch begann sich eine Pfeife zu stopfen. »Nun, Sie würden das Motiv in diesem hypothetischen Fall als das überwältigende Bedürfnis des Mannes beschreiben Miete zahlen zu müssen. Ich würde es seiner Überzeugung zuschreiben, dass er glaubt ein Anrecht auf die fünf Dollar zu haben und er deshalb nicht zögert sie unehrlich an sich zu nehmen, wenn er muss. Die beiden Motivationen sind völlig verschieden. Ihre ist rational und meine die Wahrheit. Wenn wir Ihre akzeptieren, wäre es leicht anzunehmen, dass der Mann nie wieder stiehlt, wenn er aus seinen Schwierigkeiten heraus ist. Nehmen wir meine an, können wir davon ausgehen, dass er immer wieder stehlen wird, denn er glaubt dazu berechtigt zu sein.«

»Das ist eine interessante Theorie, Doktor, nur frage ich mich, was sie mit dem Tod von Mr. Cantrell zu tun hat?«

Wieder schwieg Finch einen kurzen Moment. »Ich möchte Ihnen meinen persönlichen Eindruck von Mr. Cantrell nicht nennen«, erwiderte er. »Ich würde damit möglicherweise ein Vorurteil schüren. Ist das der Fall, glaube ich kaum, dass sie noch ein direktes, offensichtliches Motiv finden werden, Mr. Bradley. Mr. Cantrell hat keinem Baby die Hände abgeschnitten. Mit anderen Worten: Er hat keine physische Tat begangen, die dazu herhalten könnte, ihn zu töten.«

»Sie wollen damit sagen, dass der Grund seiner Ermordung einer Fantasie, einer Vorstellung entspringt und es keinen wirklichen Grund gibt?«

»Ich muss gestehen, dass es mir ein unbeschreibliches Vergnügen bereitet knifflige Fälle zu lösen«, lächelte Finch. Er entzündete den Tabak im Pfeifenkopf und nahm ein paar Züge. »Ich war immer der Überzeugung, dass die Motive, die Mördern zugeschrieben werden, nur selten die wahren Motive sind. Die wahren Beweggründe liegen viel tiefer und müssen mühsam ausgegraben werden. Und ich denke, in diesem Fall werden Sie sehr viel graben müssen, Mr. Bradley.«

»Damit werden Sie recht haben, Doktor, eine dieser Personen …«

»Lassen Sie mich ein anderes Bild zeichnen«, unterbrach ihn Finch freundlich. »Sie überqueren eine Straße. Der Bobby, der den Verkehr regelt, winkt ihnen zu. Eine Kutsche kommt auf Sie zu, die Sie aber nicht beachten, da Sie wissen, dass Sie ausreichend Zeit haben, die Straße zu überqueren. Auch verlassen Sie sich auf den Verkehrspolizisten, der die Kutsche anhalten wird. Vermutlich registrieren Sie nicht einmal, dass es sich um einen einspännigen Landauer handelt. Das Gespann stellt ja keine Gefahr für Sie dar. Richtig?«

»Richtig.«

»Nehmen wir jedoch an, dass Sie aus irgendeinem Grund der Funktion des aufrechten Gangs beraubt wurden und Sie die Straße auf Händen und Knien kriechend überqueren müssen. Sie sehen die Kutsche aus dieser Position auf Sie zukommen und sind sich nicht mehr sicher, dass der Bobby Sie jederzeit im Auge hat und Sie die Straße rechtzeitig überqueren können. Wenn Sie es also nicht schaffen, dann werden Sie unter das Pferd geraten und vermutlich zu Tode getrampelt. Plötzlich wird das Gespann zu einem Instrument der Zerstörung. Dennoch ist es immer noch ein einspänniger Landauer und kein todbringendes Monster, nur können Sie sich aus Ihrer Position auf Händen und Knien nicht davon überzeugen.«

»Worin liegt der Sinn dieser Analogie, Doktor?«

»Der menschliche Geist ist ein komplexer Mechanismus, Mr. Bradley … da können bestimmte Funktionen schon einmal eingeschränkt sein oder ganz ausfallen. Und eine Person, die eine solche Funktion nutzen will, sieht plötzlich alles von einem völlig verzerrten Punkt der Wahrnehmung aus. Um das Bild weiterzuführen: Sie und ich, die diese Einschränkung nicht haben, können eine Person beobachten, die etwas tut, was wir als durchaus gerechtfertigt sehen. Aber jemand dessen Funktion unvollkommen oder gar gänzlich gestört ist, betrachtet die gleiche Handlung als bedrohlich, niederträchtig oder verräterisch. «

»Worauf Sie hinauswollen ist …« Der Inspector nahm einen Zug von seiner Zigarette.

»Worauf ich hinaus will ist folgendes: Ich bezweifle, dass Sie bei der direkten Untersuchung eine einzige Handlung von Mr. Cantrell entdecken werden, die Sie, von einem normalen Punkt der Wahrnehmung aus, auch nur im Entferntesten als Auslöser der Mordtat erkennen werden. Wie ich bereits sagte: Sie werden das Motiv nicht an der Oberfläche finden, Mr. Bradley. Es liegt irgendwo tief vergraben in den dunklen und verwinkelten Gängen des Geistes des Mörders.«

***

3

Die Cantrells warteten immer noch im Salon. Es handelte sich um einen hohen Raum mit einem dunklen Marmorkamin an einem Ende. Düstere, dunkle Familienportraits starrten von den Wänden herab. Der Rest des Zimmers war ein Widerspruch in sich. Die Sitzgruppe war mit hellem Chintz bezogen und es wirkte, als sei jemand großzügig durch den Salon gegangen, um Duncan Cantrells strengen Vorfahren den Vorteil einer modernen Einrichtung aufzuzeigen. Vor dem Kamin stand ein niedriger Couchtisch mit Einlegearbeiten, in der Ecke fand sich eine Messing-Bar auf Rädern – hinzu kamen farbige Lampenschirme, silberne und kristallene Aschenbecher. Links neben dem Kamin stand ein Ausziehtischchen mit aktuellen Journalen.

In einem alten Herrenhaus wie diesem hätte man eher Dinge aus Fisch- und Elfenbein und langsam vergilbender Spitze erwartet – etwas Staubiges, etwas Formales. Aber hier gab es nichts von alledem. Dafür gab es eine scharfe, adstringierende, trockene Sprödigkeit, die über den sechs wartenden Familienmitgliedern hing.

Selbst Hazel Cantrell, die Witwe des Toten, hatte es nicht geschafft die Stimmung der Tragödie einzufangen, die man von ihr erwartet hätte. Sie trug ein dunkelrotes Kleid mit hohem Spitzenkragen – ein Kleid, welches Sie oft trug, wenn im Salon eine Party stattfand. Auf eine eigentümliche Weise passte es zu den Lampenschirmen.

»Ich hätte wohl besser etwas Schwarzes tragen sollen«, stellte sie fest. Sie saß in einem Ohrensessel nahe dem Feuer. Ihre Hände flatterten in ihrem Schoß, wie sie immer flatterten. Es waren Hände, die nie einem anderen Zweck gedient hatten, als betrachtet und bewundert zu werden.

»Das ist doch Unsinn, meine Liebe«, bemerkte Elizabeth Evans, Hazels Schwester. »Du weißt sehr gut, dass Duncan es immer gehasst hat, wenn du etwas Schwarzes angezogen hast.« Elizabeth selbst trug schwarz, aber es war ein schwarz von modischer und auffallend erlesener Eleganz. Ihr weißes Haar war wie immer perfekt frisiert. Kleine Perlenohrstecker und eine dazu passende Kette vervollständigten das Bild einer äußerst vornehmen Dame von fünfundfünfzig Jahren, deren einzige Lebensaufgabe seit dreißig Jahren darin bestand den Haushalt der Familie Cantrell zu führen.

Hazel hatte keinen Kopf für die Listen der Lebensmittelhändler, Gehaltsverhandlungen mit Bediensteten oder das am Laufen halten eines Betriebes, das glatt und ohne einen ›Mechaniker‹ lief.

Abgesehen davon, dass Elizabeth all diese Aufgaben mit Leichtigkeit bewältigte, vermittelte sie zudem den Eindruck, mit all dem gar nichts zu tun zu haben.

Hazels drei Kinder schienen nicht sehr darauf bedacht zu sein, sie zu trösten. Ihr ältester Sohn Cedric stand mit dem Rücken zum Feuer. Er war dreißig Jahre alt, hatte schwarze Haare und einen kleinen schwarzen Schnurrbart, den er gekonnt an den Enden aufzwirbelte. Seine braunen Augen standen ein wenig auseinander und verbreiteten den Anschein fadenscheiniger Unschuld. Ein Ausdruck, der zu sagen schien: ›Trotz meiner Art und Weise, wie ich meine Kleidung trage und ein Kerl bin, der immer an den richtigen Orten mit den richtigen Leuten zu sehen ist, bin ich ein schüchterner, freundlicher und unerfahrener junger Mann.

»Ich wette, der alte Dr. Finch erzählt dem Inspector erstmal alles über uns, was er weiß«, behauptete Cedric Cantrell. Er nahm ein Etui aus der Tasche seines Anzuges, nahm eine filterlose Zigarette heraus und klopfte deren Ende gegen die Rückseite der Silberhülle, nachdem er sie geschlossen hatte. »Was würde ich wohl antworten, wenn man mich um ein Dossier über meine Familie bitten würde?«

»Was kann Dr. Finch schon über uns erzählen, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass er das macht?«, fragte Hazel.

»Der liebe Doktor«, spöttelte Cedric, »ist doch eine kleine, graue Maus … und nicht mehr! Völlig unbedeutend!«

»Wenn er mit dem Inspector spricht, dann tut er, was er für seine Pflicht hält, nicht mehr und nicht weniger«, ermahnte ihn Hazel. »Natürlich muss er sich irren, wenn er glaubt, dass …« Sie sprach den Rest nicht aus. Auch so wusste jeder, was sie meinte, während sie von einem zum anderen sah. Wieder flatterten ihre Hände.

»Wir sollten der Sache ins Gesicht sehen, Mutter«, mahnte Dorothy Cantrell. »Ich denke nicht, dass er falsch liegt.«

»Aber Dorothy, wie kannst du das nur sagen, meine Liebe? Ich meine …« Hilfesuchend sah sich Hazel um.

Dorothy saß wenig damenhaft auf der Couchlehne und ließ ein Bein baumeln, in ihrem grauen Kleid. Sie hatte hohe Wangenknochen, einen breiten Mund und dunkelbraunes, lockiges Haar, dass sie lehrerinnenhaft zu einem Dutt hochgesteckt hatte. Sie spielte mit einem Finger an ihrem Highball-Glas. »Jemand hat absichtlich dafür gesorgt, dass Vater bei seinem nächsten Anfall stirbt. Es hat funktioniert und damit ist es Mord! Warum also so tun, als ob? Wir alle leben hier und müssen uns der Tatsache stellen.«

 

»Also wirklich, Dorothy! Ich denke, zumindest für Mutter solltest du …«

»Um Gottes willen, Spencer!«, widersetzte sich Dorothy.

Spencer Cantrell saß neben seiner Frau Lucille auf der Couch und hielt ihre Hand sehr fest in der seinen. Spencer hatte nicht Cedrics Schick, was die Kleidung anbelangte. Er sah immer ein wenig ungepflegt aus. Seine Hornbrille gab ihm einen eulenhaften Ausdruck, der die Symmetrie seines Gesichts verwischte. Seine Augen waren blau wie die von Hazel. Seine Nase war gerade, perfekt geformt und genau richtig. Seine Stimme hatte nichts Besonderes an sich – sie war sanft und beruhigend.

»Dorothy hat recht, Liebling«, sagte Lucille zu ihrem Mann.

Hazel ließ Lucille nicht aus den Augen, während sie mit Spencer sprach.

»Es hat keinen Sinn, sich den Tatsachen zu entziehen«, beharrte Lucille weiter. »Wir lassen uns schon nicht unterkriegen!« Lucille war attraktiv, schlicht und einfach. Sie war nicht hübsch genug, um stundenlang an ihrer Schönheit zu arbeiten, aber auf ihre Art sehr weiblich. Die Männer mochten sie – sogar Cedric Cantrell.

Jeder im Salon wusste, dass Lucille recht hat. Sie mussten sich der Tatsache stellen.

***

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