Der blinde Zeuge

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Der blinde Zeuge
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Der blinde Zeuge

Ein Fall für Montgomery und Primes

Kriminalroman

von

Susanne Danzer & Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

bereits erschienen:

Eine Leiche zum Lunch, IBSN 978-3-7418-3121-8

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2016 Buchcoverdesign: Sarah Buhr - www.covermanufaktur.com unter Verwendung von Bildmaterial von:

ventdusud & AC Rider / www.shutterstock.com

Impressum Copyright: © 2016 Susanne Danzer & Thomas Riedel

https://www.facebook.com/MontgomeryPrimes

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN auf letzter Seite des Buchblocks

Für Christian B.

»Himmel ich erschrecke,

was ich riech und schmecke,

stinkt nach Höllenglut,

weil der Streich der Rache

meiner bösen Sache

schwer und bange tut.

Angst und Not

ja gar der Tod.«

Johann Christian Günther (1695-1723)

Kapitel 1

Das Haus Livingston lag im Südwesten Londons, in jener Zone zwischen Stadt und Land, in der sich wohltätige Institutionen am liebsten niederließen. Erstens, weil man hier selbst noch billige Grundstücke und Anwesen erwerben konnte, und zweitens, weil solche Anstalten meist die Stille der Vororte dem Lärm der Großstadt vorzogen und die Abgeschiedenheit des Ländlichen zu schätzen wussten.

Das Haus Livingston war eine solche Einrichtung.

In den frühen 1840er Jahren hatte es ein Kaufmann namens Livingston für seine beiden Töchter erbaut, damit diese sich hier ihren Traum erfüllen konnten, ein Heim für körperbehinderte Kinder einzurichten. Es sollte ein Hort der Fürsorge und Barmherzigkeit sein. Ein Ort, der ihnen Sicherheit und Schutz bot.

Die Schwestern waren fleißig, tugendhaft, demütig und freundlich zu jedermann. Als sie in den 1870er Jahren starben, war das Haus gut erhalten, allerdings fand sich niemand mehr, der sich mit den behinderten Kindern abmühen wollte. Zu groß schien der Aufwand und zu gering das Einkommen, sodass viele mögliche Investoren davon absahen ihr Geld in eine solche Sache zu geben. Selbst wenn ein solch wohltätiger Akt dem öffentlichen Ansehen sicherlich zuträglich gewesen wäre.

Schließlich wurde durch das Bestreben von klerikaler Seite aus, ein Mädchenheim daraus, das jedoch bald wieder geschlossen wurde. Die Lage außerhalb Londons, erschwerte es den braven Mädchen, eine geeignete Anstellung zu finden, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Im Jahre 1874 wurde das Gebäude von der Stadt London übernommen und zu einem Internat mit angeschlossener Schule für Blinde und stark sehbehinderte Kinder umgebaut. So wurde das Haus Livingston wieder zu einem Ort für Benachteiligte, die von der Londoner Gesellschaft als nicht ebenbürtig verurteilt wurden. Unvollkommenheit wurde in den meisten Kreisen nicht gerne gesehen und so wurde die Eröffnung dieser Einrichtung von den meisten begrüßt.

Das Gebäude hatte einen verspielten Charme, der durch seinen verwinkelten Baustil, mit einer Unzahl von Erkern und Türmen, gemischt aus Holz und Ziegelmauern, mit kleinen Fenstern und spitzen Giebeln, entstand. Neben der Zufahrt, die durch ein breites Tor in einen Hof führte, war ein Mosaik in Blau, Grün, Rot und Gold angebracht. Das Thema war der Antike entliehen und zeigte Odysseus im Kampf mit dem Zyklopen, dessen Zurschaustellung den Widerstreit des Lebens mit einer Seheinschränkung oder gar Blindheit widerzuspiegeln schien, mit dem die armen Kinder dieser Anstalt geschlagen waren. Wobei diese am allerwenigsten mit ihrem Schicksal haderten und ein zumeist recht zufriedenes Leben unter Gleichgestellten führten.

Wenngleich das Mosaik bereits dort angebracht worden war, als das Gebäude noch kein Internat oder eine Schule war, jetzt passte es vermutlich besser als je zuvor.

Das Haus hatte zwei Stockwerke über dem Erdgeschoss, durch die je ein Gang führte, von denen ein jeder vermeintlich Tausende Winkel und Treppen besaß.

Vor den Fenstern waren winzige Balkone angebracht, wohl auf besonderen Wunsch der beiden Schwestern Livingston, welche um das gesamte Gemäuer herum verliefen. Nur an einer schmalen Seite, des rechteckigen Gebäudes, war die Balkonkette unterbrochen. Hier gab es eine große Terrasse, die das restliche architektonische Allerlei durchbrach und wohltuend zur Vielzahl der baulichen Spielereien wirkte, die das übrige Bauwerk förmlich zu erdrücken drohten.

Das Haus Livingston wurde im Augenblick von elf Erwachsenen und achtundvierzig Kindern bewohnt.

Das Regiment über die Einrichtung führte Mister Randolph Wakefield, der für seinen strengen, doch weitestgehend gerechten Umgang, bekannt war. An die angestellten Erwachsenen pflegte er einen hohen Anspruch bezüglich ihrer Tätigkeit zu haben. Er war nicht gerade der Typ des vornehmen Psychologen und Schulmannes. Vielmehr sah er eher aus wie ein indischer Teppichhändler, der viel Wert auf sein Äußeres legte. Das rabenschwarze, nur von wenigen weißen Fäden, durchzogene Haar lag in leichten Wellen, seitlich frisiert. Brillantine gab dem ganzen den nötigen Halt, sodass selbst ein forscher Luftzug seiner Frisur nichts anzuhaben vermochte. Es schien stets die etwas geröteten Ohren und Wangen wie ein Schutzhelm zu umgeben. Die Augen waren dunkel und immer von bläulichen bis schwarz schimmernden Schatten umrahmt, als würde er nie genug Ruhe und Schlaf finden. All das hätte ihn rustikal, aber als ein Mann von Geist erscheinen lassen, wäre nicht der ungeheure, walrossgleiche Schnauzbart gewesen, der seine Oberlippe zierte und mit seinen Spitzen beinahe die Ohrmuscheln berührte. So mochte man sich eher einen Zirkusdirektor, einen Dompteur, einen Komiker in Maske, einen Zirkusprimas oder einen Hutschenschleuder vom Wiener Prater denken, als einen konservativen Schuldirektor, der das Internat mit wohlmeinender, dennoch unnachgiebiger Strenge zu führen wusste. Mister Wakefield war – offenbar wegen seiner Kenntnisse oder wegen seiner Verbindungen – aus dreizehn Kandidaten vor ebenfalls dreizehn Jahren zum Leiter des Hauses Livingston ernannt worden.

In seiner Arbeit stützte er sich hauptsächlich auf Mister Tuppence Mallowan, der neben seiner Lehrertätigkeit auch die kaufmännische Verwaltung des Hauses übernommen hatte und gleichzeitig als Rektor fungierte. Ebenso berief sich Mister Wakefield auf Hazel Milburn, die zweifellos begabteste Pädagogin des Hauses, welche über einen unglaublichen Erfahrungsschatz im Umgang mit blinden Kindern verfügte. Der übrige Lehrkörper erfüllte seine Aufgaben zufriedenstellend, jedoch ohne herausragende Leistungen zu zeigen.

Die Zöglinge, die das Internat bewohnten, lebten wie andere Schüler wohlbehütet und mal mehr, mal weniger zufrieden, ihre Leben ohne Sehkraft. Gesegnet mit unglaublichem Erfindungsreichtum und geschulten Sinnen, die ihnen halfen, ihren Alltag zu meistern.

Das war Haus Livingston. Vor Jahrzehnten erbaut, um Kindern eine Heimat zu geben.

Kapitel 2

Charles Coleman, der Älteste aus Zimmer 23 im Knabentrakt, lag flach unter der Decke, die Hände über der Brust gekreuzt. Seine Handflächen waren heiß und feucht vor Angst, während er in die abendliche Stille lauschte, die nur durch das gelegentliche Geräusch von Schritten unterbrochen wurde.

Er wusste genau, was jetzt kommen würde ...

... wie seit Tagen ... jeden Abend!

Vielleicht blieben ihm noch drei Minuten, vielleicht noch fünf. Sicher sein konnte er sich dessen nicht. Nur spekulieren, wie lange es noch dauern mochte, bis die Tür geschlossen wurde. Noch stand sie offen.

Draußen auf dem Korridor führte jemand wie üblich die Aufsicht. Den leichtfüßigen Schritten nach konnte es eigentlich nur Hazel Milburn sein, die Lehrerin, die immer ein wenig nach Lavendel roch. Und er war, wie fast alle Zöglinge – bewusst oder unbewusst – ein bisschen in Miss Milburn verliebt. Die Schwärmerei eines Heranwachsenden.

Wie oft würde sie noch vor seinem Zimmer auf- und abgehen?

Beim letzten Mal würde sie kurz stehenbleiben und die Tür schließen. Wenn diese im Haus Livingston geschlossen wurden, dann bedeutete das absolute Nachtruhe. Unterhaltungen waren keinesfalls erlaubt, nicht einmal geflüsterte. Jeder hatte mit geputzten Zähnen im Bett zu liegen. Die Aufsichtspersonen nahmen wahrscheinlich an, ihre Zöglinge würden bereits schlafen, wenn sie die Türen schlossen und die Kinder taten alles dafür, um sie in dieser Annahme zu bestärken.

Aber es waren nur wenige, die schliefen.

Für die anderen begann mit der Nachtruhe erst jene Stunde flüsternden Lebens, in der sie richtig erwachten. Was natürlich bedeutete, dass in dem einen oder anderen Kopf Ideen reiften, wie sie nur Heranwachsende haben können.

Charles Coleman kannte dieses Leben, in dem sich die Seelen der Buben zu den kühnsten Träumen aufschwangen. Er wusste, dass dies auch heute in gleicher Weise geschehen würde wie gestern und vorgestern.

Deshalb hatte er Angst.

Heute konnte er nicht mehr ausweichen wie bisher, wollte er nicht riskieren, dass ihn seine Mitschüler ächteten. Sie würden ihn wie einen Aussätzigen behandeln und ihn mit Nichtachtung strafen, wenn er es nicht endlich hinter sich brachte. Heute jedenfalls musste er sich entscheiden ...

 

Miss Milburns Schritte, zwar behutsam und leise, aber von den blinden Kindern trotzdem in allen Details hörbar, näherten sich wieder.

Zum letzten Mal ...?

Nein!

Sie ging erneut vorbei.

Ted Faulkner, einer seiner Zimmergenossen, würde sicher nicht mehr davon beginnen. Ted schlief lieber, als dass er sich irgendetwas Unbequemes vornahm.

Aber Lucky würde keine Ruhe geben. Lucky Patterson! Er war zwar jünger als er selbst, bekleidete allerdings ganz zweifellos die Position des Chefs in diesem Zimmer. Der meiste Respekt gehörte ihm. Von fast allen Mitschülern gefürchtet und von seinen Anhängern verehrt, benahm er sich die meiste Zeit über wie ein kleiner König umgeben von seinen Vasallen.

Lucky Patterson würde keine Ruhe geben.

Nein!

Niemals!

Und er, Charles, musste sich entscheiden. Es länger hinauszuschieben würde ihm nur weiteren Spott von Lucky und seinem Gefolge einbringen.

Miss Milburn kam zurück. Sie stockte immer wieder. Charles wusste, was das zu bedeuten hatte: Sie verharrte, um die Türen zu schließen. Eine nach der anderen. Leise, doch mit Nachdruck, sodass kein Zweifel am Eintritt der Nachtruhe blieb.

Gleich war es soweit!

In wenigen Augenblicken würde sie an seiner Zimmertür stehenbleiben, um auch diese zu schließen. Sie ging weiter. Jetzt waren die Schritte bei seinem Zimmer angelangt. Kaum wahrnehmbar wehte Charles ein Hauch von Lavendel an. Würde er nicht über die geschärften Sinne eines Blinden verfügen, wäre ihm der schwache Duft sicherlich entgangen.

Ja, es war zweifellos Miss Milburn.

Ein feiner Luftzug berührte Charles‘ Stirn, als sie die Tür zuzog.

Gleich darauf verhallten ihre Schritte auf dem Steinboden des Flures.

Charles zog unwillkürlich die Decke etwas höher hinauf, als könnte er sich darunter verstecken.

»Feigling«, zischte es im nächsten Augenblick aus der Richtung, in der Lucky Patterson lag.

Charles blieb ganz ruhig und lauschte nur auf das Pochen seines Herzens.

»Ach, lass ihn doch schlafen ...«

Es war die brummige Stimme von Ted Faulkner, der ihm zur Seite sprang, was Charles gut tat, fühlte er sich so nicht gänzlich als Ausgeschlossener einer verschworenen Gemeinschaft.

»Er ist ein Feigling!«, sagte Luke erneut und kicherte boshaft. »Schiss hat er, das ist alles. Wahrscheinlich hat er sich bereits vor Angst in die Hosen gemacht. Irgendwie weht da ein aufdringlicher Geruch herüber.«

»Wer sagt denn, dass ich es nicht tue?«, flüsterte Charles zurück.

Ihm wurde fast übel vor Angst.

Lucky schwieg eine Weile.

»Du machst den Rundgang?«, fragte er schließlich. Es lag nicht so viel hämische Freude darin, wie Charles vermutet hatte. Dafür, dass dies der dritte Abend war, an dem er ihn wegen des Rundgangs tyrannisierte und die beiden ersten Gespräche ohne Zusage geblieben waren, hätte Charles mehr Genugtuung von seiner Seite aus erwartet. Immerhin hatte Luke es geschafft, dass Charles sich die letzten Abende unter die Decke verkroch, bemüht darum lautlos zu weinen, damit keiner ihn hörte. Sie hätten ihn nur noch mehr verspottet. Allen voran Luke, dessen Worte grausam sein konnten. Bei all den Quälereien der beiden letzten Abende, hatte Charles ein wenig mehr Enthusiasmus erwartet.

»Ich mache ihn, diesen verdammten Rundgang«, hörte sich Charles kühn sagen, und die Finger seiner beiden Hände umklammerten sich. »Damit du mich endlich in Frieden lässt.«

»Sei doch nicht blöd«, mischte sich Ted Faulkner ins Gespräch. »Dieser Schwachsinn ist gefährlich.«

»Psst«, machte Lucky, und sie lauschten gespannt.

Sie hörten Miss Milburns Schritte, als sie draußen auf dem Gang ihr Zimmer passierte.

»Du musst noch fünfzehn Minuten warten«, bestimmte Lucky, und eine gewisse Erregung war seiner flüsternden Stimme nun doch anzumerken. »Dann wird jeder denken, dass wir eingeschlafen sind und der nächste Kontrollgang wird erst in ein paar Stunden sein. Das ist deine Chance loszuziehen.«

Charles kämpfte mit sich. Er war erst mit dreieinhalb Jahren nach einem Unfall erblindet und konnte sich vorstellen, wie sein Weg auf diesem Rundgang aussehen mochte. Schon allein die Vorstellung daran, ließ seine Knie weich werden.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich heute gehen werde ...«

Sofort kam ein höhnisches Kichern als Antwort.

»Du kneifst also doch.« Es klang mehr nach einer Feststellung, denn nach einer Frage. »War ja klar. Du bist und bleibst ein Hasenfuß. Ein kleiner Schisser.«

Charles war dem Weinen nahe und schwieg. Er wusste nicht mehr, wie er die Bilder, die ihm seine Fantasie vorgaukelte, zum Schweigen bringen sollte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: den Rundgang anzutreten oder ihn abzulehnen. Beides erforderte Mut – jedenfalls gegenüber einem Knaben wie Lucky Patterson!

»Du hast recht, Charlie«, brummte Ted Faulkner.

»Halt den Mund!«, gab ihm Lucky zu bedenken.

»Er hat trotzdem recht«, konterte Ted.

»Ich verstehe das nicht mehr«, stieß Charles erstaunt hervor. »Die letzten Abende hast du genauso gesprochen wie Lucky. Warum denkst du heute anders darüber?«

Ted sprach so rasch, dass man ihn kaum verstand. Offenbar war er bereits viel zu schläfrig, um noch lange Debatten abzuhalten.

»Gestern und vorgestern«, sagte er, »hat es mir Spaß gemacht, dich unter Druck zu setzen ... ein wenig mitzukneten. Aber wenn du tatsächlich willst, kann ich nur sagen: Lass die Finger davon!«

»Du hast den Rundgang doch auch gemacht.«

»Eben. Ich habe gezittert wie ein Pudding, und ich bin aus härterem Holz gemacht als du! Lass es einfach sein! Das ist besser für kleine Jungs wie dich. Gute Nacht!«

»Du bist eben auch ein Feigling, Ted!«, zischte Lucky. »Ich habe den Rundgang schon zweimal gemacht und ich habe nie gezittert! Und wenn, dann nur aus Freude daran«, prahlte er.

»Ich habe doch gesagt, dass ich ihn mache.«

»Heute ist der beste Tag.«

»Warum gerade heute?«

»Heute ist Neumond.«

»Woher willst du das wissen?«, mischte sich Ted ein.

»Von Mallowan. Mister Mallowan hat es auf seinem Kalender gelesen.«

»Um dir Auskunft zu geben?«

»Ja«, erklärte Lucky. »Weil ich ihn danach gefragt habe. Ich wollte wissen, wie die Sterne stehen ... für dich, Charles! Neumond ist die schönste Deckung, die es gibt. Licht benötigst du ja eh nicht, deshalb ist es besser, je dunkler es draußen ist. So kann man dich schwerer entdecken. Das wird dir jeder sagen, den du fragst. Heute oder nie! Ein anderes Mal interessiert es mich nicht mehr!«

Charles schwieg.

Ted begann so regelmäßig zu atmen, dass die beiden übrigen genau Bescheid wussten: Er war tatsächlich trotz des ganzen Wirbels um den Rundgang eingeschlafen.

»Heute oder nie!«

Komischerweise erinnerte sich Charles gerade jetzt an einen Augenglick vor eineinhalb Jahren, der ihn auf seltsame Weise mit Lucky verband. Sie hatten gerauft, wie sie es öfter taten, denn Lucky schien gerne seine Stärke zu demonstrieren, besonders den körperlich kleineren Jungen gegenüber. Wahrscheinlich weil es leichter war, als jemanden zu drangsalieren, der einem an Größe und Statur ebenbürtig war. Und Lucky war für sein Alter groß gewachsen und kräftig. Jedenfalls war Charles der Unterlegene gewesen, und als sie auf dem Boden lagen, fasste er Lucky plötzlich mit beiden Händen ins Gesicht. Es war ein großes Gesicht und Charles erinnerte sich an die breite raue Nase und an den großen Mund mit den aufgeworfenen Lippen.

Er sah es förmlich vor sich, obgleich er ihm nie ins Angesicht würde blicken können. Und er wusste, wie böse dieses Gesicht lächeln konnte, denn er hörte es in Luckys Stimme.

Wenn er jetzt nicht all seinen Mut zusammennahm, dann wurde das Leben im Internat für ihn erst recht zur Hölle. Dafür würden Lucky und seine Kumpane schon sorgen. Es würde ein Leben voller Scham für Charles bedeuten, auf das er nicht wirklich erpicht war und davor hatte er am meisten Angst, die nur von der ›vor dem Rundgang‹ noch übertroffen wurde.

»Also gut, ich gehe!« Er hoffte bei diesen Worten mutiger zu klingen, als er sich fühlte. »In zehn Minuten ist es soweit, dann mache ich mich auf den Weg.«

Lucky nahm die Entscheidung gelassen zur Kenntnis und gab lediglich ein schnaubendes Geräusch als Zustimmung von sich.

Charles wurde es plötzlich kalt und er fröstelte. Er war kein sehr tapferer Bursche, dass wusste er, trotz seines Alters von zehn Jahren, selbst. Dennoch versuchte er sich möglichst viel Mut zu machen, um sich stärker und der Sache einigermaßen gewachsen zu fühlen. Wenn er sich etwas vorgenommen hatte, dann führte er es allen Schwierigkeiten zum Trotz durch. Sich einen Blödkopf zu schimpfen, dafür war danach immer noch Zeit. Bestimmt würde er es eifrig tun, denn es war nichts anderes als eine große Dummheit, auf die er sich besser nicht einlassen sollte. Trotzdem war es jetzt zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

Da er sich den Rundgang gerade eben endgültig vorgenommen hatte, würde er sich einfach solange einreden, dass es ein Kinderspiel war, bis er daran glaubte und Lucky ihm damit keine Angst mehr machen konnte.

In zehn Minuten also ...

Kapitel 3

Lucky hatte kurz darauf schwungvoll seine schwere Daunendecke zurückgeworfen, war aufgestanden und tapste barfuß zur Tür. Wenn ihn in dieser schwarzgrauen Nacht jemand im Zimmer gesehen hätte, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass Lucky Patterson blind war, so sicher bewegte er sich durch diesen vertrauten Raum.

Er konnte die hektische Atmung von Charles Coleman hören, während dieser flach unter seiner Zudecke lag, die Hände über der Brust gekreuzt. Seine Handflächen waren, vor lauter Aufregung über sein bevorstehendes Abenteuer, heiß und feucht.

Lucky hatte das Gefühl, als könne er die Angst des Kleinen förmlich riechen. Es war für ihn einfach, das alles wahrzunehmen – denn wenn man seit der Geburt blind war, übernahmen die anderen Sinne einfach mehr Arbeit und glichen es aus. So war die Nacht für ihn nicht dunkler als der Tag.

Lucky lauschte und war zufrieden mit der Stille, die draußen im Flur herrschte. Kein Lehrer im Anmarsch, der womöglich im letzten Moment das Vorhaben vereiteln konnte.

Er trat an Charles‘ Bett und setzte sich auf die Kante. Grob rüttelte er ihn an der Schulter.

»Ich will nicht unfair sein. Ich schaffe dir die gleichen Bedingungen, die ich beim zweiten Rundgang hatte. Ich sage dir genau, wie viele Balkone auf jeder Seite zu überklettern sind. Da ich heute in gnädiger Stimmung bin, lasse ich dich ebenso wissen, wo die Gefahr am größten ist. Na, ist das nicht großzügig von mir?«

Charles spürte den Atem des Jungen an seiner Wange. Lucky hatte sich über ihn gebeugt, suchte seine Stimme noch weiter zu dämpfen und tat gerade so, als würde es sich um eine Verschwörung handeln. Dabei war es nur eine Übung, mit der man sich in das Register der ›wahren Ritter‹ des Hauses Livingston eintrug. Eine lange Tradition an diesem Internat. Wenn man dazu gehören und sich Respekt verschaffen wollte, musste man den Rundgang bewältigen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz, seit das Internat in dieser Form bestand. Generationen von Schülern hatten diesen gefährlichen Weg bereits hinter sich gebracht. Vor ein paar Jahren war sogar einer der Jungen bei seinem Rundgang abgestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Es war jediglich als bedauerlicher Unfall abgetan worden, denn kein Lehrer hätte auch nur im Ansatz daran geglaubt, dass einer ihrer Schützlinge sich zu so einer Dummheit verleiten lassen könnte.

Es war allerdings eine gefährliche Übung für einen blinden Knaben.

»Du musst jetzt genau Acht geben, weil du ein paar Anweisungen von mir erhältst«, sagte Lucky. »Wenn du die befolgst, dann schaffst du es mit großer Wahrscheinlichkeit wieder heil hierher zurück. Wenn nicht, dann könnte es natürlich böse ausgehen …« Er ließ den Satz in der Luft hängen.

»Das tue ich ja«, gab Charles ziemlich unfreundlich zurück. Merkwürdig! Seit er sich zum Rundgang entschlossen hatte, fühlte er sich gegenüber Lucky nicht mehr so unterlegen. Irgendwie wurde ihm plötzlich bewusst, dass er eigentlich der Ältere und Intelligentere war und ihm das Kommando über diesen Schlafsaal zustand.

»Von unserem Fenster aus sind es zunächst fünf weitere nach links. Wiederhole!«

 

»Von unserem fünf weitere nach links.«

»Dann kommen die ersten kritischen Punkte: Die Hausecke und an der Stirnseite die Terrasse. Wenn man das weiß, ist es keine Schwierigkeit, aber wenn man glaubt, den nächsten Balkon vor sich zu haben, ist es gefährlich! Du solltest dir also besser sicher sein.«

»Ich verstehe.«

»Nach fünf Balkonen Hausecke und Terrasse. Wiederhole!«

»Nach fünf Balkonen Hausecke und Terrasse. Ich bin kein Idiot.«

»Die Terrasse bietet keine Schwierigkeiten. Aber der Übergang zur anderen Längsseite. Du musst nur darauf achten, dass du mit jeder Hand einen der Eisenstäbe des Balkongitters zu fassen bekommst. Wohlgemerkt, mit beiden Händen! Denn manche davon sitzen so locker, dass man für nichts garantieren kann. Die sind schon ein bisschen durchgerostet. Sollte sich eine Stange lösen, bedeutet das den Absturz. Dabei bricht man sich locker den Hals.«

»Gut. Einen Eisenstab mit jeder Hand.«

Charles wurde immer ruhiger, je weiter sie in den Instruktionen kamen.

»Die andere Längsseite hat insgesamt acht Balkone. Du musst genau mitzählen, damit du nicht überrascht wirst. Verzähl dich bloß nicht.«

»Acht Balkone ... das merke ich mir schon.«

Die Angst meldete sich wieder, aber Charles schluckte sie hinunter. Er wollte sich vor Lucky keine Blöße geben. Wenn er ihm je imponieren wollte, dann war jetzt die beste Chance dafür. Nur so würde er ihn endlich in Frieden lassen. Mehr wollte Charles eigentlich nicht.

»Dann wieder eine Ecke und auf dieser Schmalseite sind zwei breitere Balkone.«

»Zwei breitere Balkone an der zweiten Seite.«

»Dann Hausecke ...«

»Hausecke!«

»... und wieder drei Balkone. Der dritte ist unserer, bei dem der Rundgang begonnen hat. Ich warte an der Balkonbrüstung auf dich, bis du zurückkommst, damit du nicht schwindelst!«

»Ich schwindel nicht.«

»Weißt du noch alles?«

»Ja.«

»Wiederhole!«

»Links fünf Balkone, Ecke, Terrasse, Ecke, acht Balkone, Ecke, zwei breitere Balkone, Ecke, drei Balkone, der dritte ist dann wieder unser.«

»Prima, Charles. Dann solltest du dich besser auf den Weg machen, bevor wir noch die halbe Nacht verquatschen und uns möglicherweise jemand auf die Schliche kommt.«

Charles stand auf.

»Gleich so?«, fragte er, und es war, als würde er über die Toilette für eine halboffizielle Veranstaltung nachdenken.

»Zieh den Mantel darüber. Mit dem Nachthemd fällst du zu sehr auf.«

Charles fror, obgleich es gegen Ende August, fast schon September, und die Luft von der Hitze des Spätsommers aufgeheizt war. Sorgfältig knöpfte er seinen Mantel zu. Aber selbst das, half nicht viel.

Der Rundgang! Himmel, was hatte er sich nur dabei gedacht! Seit er in diesem Internat angekommen war, schien diese Mutprobe wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf zu schweben. Ein Alptraum, der ihn schon seit Tagen um den nächtlichen Schlaf brachte, bis er an nichts anderes mehr denken konnte.

Jetzt wollte er ihn wagen. Nein, er musste. Schließlich wollte er endlich von den anderen respektiert und nicht länger herumgeschubst werden.

Warum nicht?, fragte er sich und versuchte es als etwas Alltägliches und Lapidares abzutun, als würde er sich die Schuhe binden oder sein Hemd zuknöpfen. Wenn man den Dingen mit einem Lachen begegnete, dann fürchtete man sich nicht mehr so sehr davor.

Lucky Patterson war jünger als er und von Geburt an blind. Er hatte es geschafft. Charles dagegen, hatte die Welt und die Dinge darin schon einmal gesehen, und die Erinnerungen an die Gegenstände und Formen würden ihm sicher helfen, obwohl er dieses Haus und seine Fassaden noch nie gesehen hatte. Zumindest konnte er es sich vorstellen. Miss Milburn hatte ihn bereits mehr als einmal für seine Vorstellungsgabe gelobt, wovon er vor lauter Stolz und Freude ganz heiße Ohren bekam.

Dass man den Rundgang schaffen konnte, hatte Lucky Patterson schließlich schon zweimal bewiesen. Jedenfalls behauptete er das.

Immer wieder gingen Charles die gleichen Gedanken durch den Kopf: Du kriegst das hin und dann müssen sie dich respektieren.

Er hörte Lucky, der nur zwei Schritte von ihm entfernt stand, erwartungsvoll atmen. Charles lauschte. Doch es war nichts zu hören. Der Korridor vor dem Schlafsaal lag verlassen da. Keine Schritte von Miss Milburn oder einem anderen Lehrer waren zu vernehmen. Sicher gingen sie davon aus, dass ihre Schützlinge sich wie verlangt zu Bett begeben hatten und schliefen.

Charles tastete nach dem Riegel der großen Fensterflügel, um diese zu öffnen und um auf den Balkon hinaus zu gelangen.

Was war schon dabei?

Jetzt oder nie! Ein Kinderspiel!

Kaum hatte er eine der Türen soweit geöffnet, dass er hinausschlüpfen konnte, betrat er den Balkon. Er war schon oft hier draußen gewesen, hatte sich seinen Weg bis zur Brüstung gebahnt und seine Nase in den Wind gestreckt. Als er das Geländer, das am Balkon entlanglief, streifte, griff er danach. Kurz hielt er inne und überlegte, wie er das Hindernis am besten überwinden sollte. Die Temperatur hier draußen war deutlich höher als drinnen. Grillen zirpten munter, wenngleich sie sich in Charles Ohren im Moment ein wenig spöttisch anhörten, als wollten sie sich über ihn lustig machen. Da er barfuß war, konnte er die rauen Steinplatten unter seinen Fußsohlen spüren. Der Boden war noch warm, aufgeheizt von der Sonne eines heißen Sommertages.

»Geh doch endlich! Worauf wartest du Feigling noch?«, drängte Lucky und seine Stimme klang dabei ungerührt und kalt.

Lucky folgte ihm nach.

»Kennst du den Weg noch?«, hakte er sicherheitshalber noch einmal nach. »Wir wollen ja nicht, dass du kleiner Schisser einen falschen Tritt tust und abstürzt. Das würde mächtig viele Fragen aufwerfen, was reichlich lästig wäre.«

Charles‘ Antwort war ein einfaches Nicken, was Lucky natürlich nicht sehen konnte, doch das war ihm egal. Stattdessen wiederholte er im Geiste: Fünf Balkone links, Ecke, Terrasse, acht Balkone, Ecke, drei Balkone, der dritte war der, auf dem er im Moment stand.

Charles ließ die Hände über das Geländer gleiten und tastete sich vor bis zum Rand des nächsten Balkons, der linker Hand und höchstens eine Armlänge entfernt war, nicht mehr. Er erklomm die Brüstung, legte sich auf das Geländer und fasste mit beiden Händen nach dem des nächsten. Dann zog er sich hinüber. Ein Bein legte er über die Kluft zwischen den beiden Balkonen, und holte dann das zweite mit einem kleinen Ruck nach. Und schon stand er auf dem Nachbarbalkon.

Es war ganz einfach gewesen!

Geradezu ein Kinderspiel!

Davor hatte er sich tatsächlich die ganze Zeit gefürchtet? Er lachte leise, als eine Woge von Glücksgefühlen seinen kleinen Körper überflutete.

Im Augenblick seines ersten Triumphes erschien ihm seine Furcht geradezu lachhaft.

Hoffentlich erwischt mich keiner bei dieser ganzen Sache, dachte er bei sich. Die werden mir eine ordentliche Strafe aufbrummen. Latrinen putzen oder ähnliches.

Um seinen Ruf als braver, folgsamer Schüler machte er sich im Moment die wenigsten Gedanken.

Jetzt kam der nächste Balkon.

Er hatte den Rundgang begonnen, nun würde er ihn auf jeden Fall beenden. Komme was da wolle. Er war entschlossen es durchzuziehen. Sobald er es geschafft hatte, würde sich sein Leben endlich zum Besseren wenden. Keiner würde es mehr wagen ihn zu hänseln oder ihn zu boxen.

Weiter ging es. Es kam der dritte, der vierte, und fünfte ...

So langsam begann ihm die Sache Spaß zu machen. Er fühlte sich geradezu beflügelt. Was für eine lächerliche Mutprobe, dachte er übermütig.

Seine größte Sorge war nun tatsächlich von einer Lehrkraft erwischt zu werden und womöglich eine Disziplinarmaßnahme aufgebrummt zu bekommen. Wobei ein paar Schläge mit dem Stock aufs Hinterteil sicherlich am besten zu verkraften waren. Sie durften ihn nur nicht der Schule verweisen, denn er wüsste nicht, wo er dann hin sollte. Dieses Internat war praktisch zu seinem Zuhause geworden – leider hatte seine Familie kein großes Interesse an ihm. Die war froh gewesen, als sie ihn hierherbringen und somit vergessen konnte.

Lucky Patterson würde nie mehr Feigling zu ihm sagen, wenn er von der anderen Seite wieder zum Balkon des Zimmers 23 zurückgekommen war.