Buch lesen: «Internationales Privatrecht», Seite 14

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Das domicile unterscheidet sich vom gewöhnlichen Aufenthalt ebenfalls durch drei Kriterien: Ein domicile wird willensabhängig begründet; es wird für Minderjährige (früher auch für Ehefrauen) abgeleitet bestimmt und es erfordert eine noch stärkere Dauerhaftigkeit des Verbleibs; während beim gewöhnlichen Aufenthalt länger befristete Aufenthalte genügen, wird ein domicile of choice nur bei vorbehaltlos dauerhaftem Bleibewillen begründet, insbesondere, wenn die Aufgabe des domicile of origin in Rede steht.

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e) Gewöhnlicher Aufenthalt, Wohnsitz und domicile lassen sich nicht linear vergleichen, sondern haben in den verschiedenen Kriterien teils Gemeinsamkeiten, teils graduelle oder diametrale Unterschiede, die jedoch durchaus sinnvoll sind: Die erforderliche Bindung an den jeweiligen Ort wächst vom Wohnsitz über den gewöhnlichen Aufenthalt zum domicile. Nur der (deutsche)[58] Wohnsitz kann (deshalb) sogar mehrfach sein. Ein Willenselement ist nur bei Wohnsitz und domicile erforderlich, wobei das Willenselement des Wohnsitzes weniger intensiv (niederlassen) als beim domicile (for an indefinite period) ist. Nur der gewöhnliche Aufenthalt kommt ohne die Figur der rechtlich abgeleiteten Bestimmung aus; rein tatsächliche, einen Willen nicht erfordernde Kriterien kann man auch bei Minderjährigen und Geschäftsunfähigen bestimmen, der nicht notwendig rechtsgeschäftliche Wille Erwachsener prägt deren Integration.

2. Parteiautonomie, Rechtswahl

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a) Der Parteiwille als Anknüpfungskriterium bedeutet Zulassung der Wahl des anzuwendenden Rechts. Die Freiheit zur Rechtswahl (Parteiautonomie) ist zu unterscheiden von der Freiheit, innerhalb des anzuwendenden Rechts bestimmte Rechtsfolgen autonom herbeizuführen (Privatautonomie). Zwar wird häufig ein Rechtsgebiet, innerhalb dessen die Privatautonomie nur geringe Einschränkungen erfährt, auch der Parteiautonomie eher zugänglich sein als Gebiete mit überwiegend zwingenden materiellen Regelungen. Jedoch besteht kein Gleichklang der Interessen. Parteiautonomie wird in jeder Rechtsordnung durch einzelne zwingende Normen begrenzt. Wo das anwendbare Recht gewählt werden kann, besteht dagegen generell das Risiko, dass sogar diese zwingenden Normen einer Rechtsordnung umgangen werden, indem man die Rechtsordnung insgesamt abwählt. Parteiautonomie wird daher – soweit überhaupt zugelassen – im IPR mit zwei Methoden begrenzt: Entweder wird sie nur in bestimmten sachbezogenen Fällen zugelassen oder das IPR gewährt sie umfassend, setzt aber Bestimmungen, die den Ausschluss zwingender Normen eines „eigentlich“ sachnahen Rechts verhindern, indem sie solche Normen gegen das gewählte Recht durchsetzen.

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So besteht etwa im materiellen Ehegüterrecht in zahlreichen Rechtsordnungen Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Güterrechtsmodellen; dennoch sehen nur sehr wenige Kollisionsrechte (zB § 19 österreichisches IPRG) eine vollständig freie Wahl des Ehegüterstatuts vor; Art. 15 Abs. 2 wählt die erste Methode der Einschränkung und erlaubt die Rechtswahl nur zugunsten bestimmter als sachnah angesehener Rechtsordnungen, wobei hier der Gedanke der Selbstintegration in einer Güterrechtsordnung prägend ist. Sehr eng sieht auch Art. 22 EU-ErbVO eine Rechtswahl des Erblassers nur zu einem Heimatrecht vor, was einerseits eine Korrektur der Aufenthaltsanknüpfung erlaubt, andererseits Gestaltungsmissbrauch (Noterben, Pflichtteilsberechtigte) verhindern soll. Soweit die Rechtswahl zulässig ist, bestimmt sich anschließend der Umfang der Privatautonomie ausschließlich nach dem gewählten Recht: Wählt ein Deutscher mit gewöhnlichem Aufenthalt in Texas sein Heimatrecht als Erbstatut, so unterstellt er sich damit auch der Beschränkung seiner Testierfreiheit durch das Pflichtteilsrecht.

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b) Der klassische Anwendungsbereich der Parteiautonomie ist das Schuldvertragsrecht. In diesem Bereich ist Parteiautonomie das vorrangige Anknüpfungskriterium (Art. 3 Abs. 1 S. 1 Rom I-VO).

Im IPR der Schuldverträge ist Parteiautonomie die Regel. Die Rom I-VO setzt aber, wie schon das EVÜ, gegen eine Rechtswahl in bestimmten Fällen (Art. 3 Abs. 3, Art. 6 Abs. 2, Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO) die zwingenden oder eine bestimmte schwächere Vertragspartei schützenden, die Privatautonomie begrenzenden unabdingbaren Bestimmungen des Rechts durch, das ohne Rechtswahl anwendbar wäre. Soweit deutsches Verbraucherschutzrecht auf Richtlinien beruht, die eine kollisionsrechtliche Absicherung vorsehen, erfolgt die Durchsetzung zusätzlich zu Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO auch aufgrund Art. 46b. Darüber hinaus werden Eingriffsnormen (zwingende Vorschriften zum Schutz eines öffentlichen Interesses) nach Art. 9 Rom I-VO gegen ein gewähltes aber auch gegen gesetzlich angeknüpftes Schuldstatut durchgesetzt.

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c) In anderen Rechtsgebieten ist die Parteiautonomie seit der IPR-Reform 1986 im Vordringen, tritt jedoch immer neben eine willensunabhängige objektive Grundsatzanknüpfung. Dann ist zu unterscheiden, ob die Rechtswahl nur in bestimmten Fällen erlaubt ist oder ob sie immer zulässig ist, ggf aber nur bestimmte Rechtsordnungen wählbar sind.

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Ob eine Rechtsordnung Rechtswahl als Grundsatz oder als Ausnahme neben einer gesetzlichen Anknüpfung formuliert, offenbart allerdings mehr die rechtspolitische Zielsetzung und ist im Ergebnis meist einerlei; soweit Rechtswahl nämlich erlaubt wird, verdrängt sie notwendigerweise das nach objektiven Kriterien bestimmte Recht. ZB normiert das schweizerische IPR – weil es die Ehegatten zur Wahl auffordern will – die Wahl des Ehegüterstatuts als Grundsatz (Art. 52 Abs. 1 schweizIPRG), erlaubt aber dennoch nur die Wahl bestimmter Rechtsordnungen (Art. 52 Abs. 2 schweizIPRG). Art. 15 Abs. 1 normiert zwar das Ehegüterstatut grundsätzlich objektiv, Art. 15 Abs. 2 erlaubt aber die Rechtswahl umfassend und lässt sogar einen größeren Kreis von Rechtsordnungen zur Wahl zu als das schweizerische Recht. Dagegen erlaubt Art. 14 Abs. 2 und 3 eine Wahl des Ehewirkungsstatuts nur in bestimmten Konstellationen und begrenzt den Kreis der wählbaren Rechtsordnungen.

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Rechtswahl ist im deutschen IPR zulässig im Namensrecht (Art. 10 Abs. 2 und 3; in bestimmten Konstellationen und nur bestimmte Rechtsordnungen wählbar), im Ehewirkungsrecht (Art. 14 Abs. 2 und 3; in bestimmten Konstellationen und nur bestimmte Rechtsordnungen wählbar), bis zum Inkrafttreten der Rom III-VO auch im Scheidungsstatut (Art. 17 Abs. 1 aF iVm Art. 14 Abs. 2, 3, zur Rom III-VO Rn 296), im Ehegüterrecht (Art. 15 Abs. 2; immer, jedoch nur bestimmte Rechtsordnungen wählbar) und bis zum Inkrafttreten der EU-ErbVO eng begrenzt im Erbrecht (Art. 25 Abs. 2 aF; nur deutsches Recht für inländische Immobilien wählbar).

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Die EU-rechtlichen Kollisionsnormen im Familien- und Erbkollisionsrecht setzen verstärkt, jedoch in deutlich unterschiedlichem Maß, auf Rechtswahl: Art. 5 Rom III-VO (VO EU Nr 2010/1259) erweitert die Wahlmöglichkeiten des Scheidungsstatuts deutlich gegenüber Art. 17 aF, Art. 22 EU-ErbVO (VO EU 2012/650) erlaubt für das Erbstatut nur die Heimatrechtswahl und damit eine Rückoption zum Staatsangehörigkeitsprinzip, Art. 22 der noch nicht anzuwendenden EU-EheGüterVO (VO EU 2016/1103) und EU-ELPGüterVO (VO EU 2016/1104) sind in der Bandbreite wählbarer Rechte Art. 15 Abs. 2 EGBGB ähnlich. Wahlfreiheit wird ausdrücklich als Kompensation der durch den Übergang zum Aufenthaltsprinzip (dazu Rn 274) verursachten Vorhersehbarkeitsrisiken verstanden. Wenig bedacht wird hierbei, dass Rechtswahl im IPR nur dann ihrer Funktion gerecht wird, wenn ein Bewusstsein der Wahlmöglichkeit in beteiligten Verkehrskreisen besteht; dieses Bewusstsein kann in Fragen des Personalstatuts nicht vorausgesetzt werden, so dass allenfalls juristisch beratene Beteiligte hieraus Nutzen ziehen. Ein Problembewusstsein Betroffener dürfte eher im Ehegüter- und Erbstatut als im Scheidungsstatut zu erwarten sein.

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Im deutschen außervertraglichen Schuldrecht (dem auch neben der Rom II-VO ein sachlicher Anwendungsbereich verbleibt) wirkt sich die Rechtswahl mittelbar für die bereicherungsrechtliche Leistungskondiktion aus, weil diese an das Vertragsstatut anknüpft (Art. 38 Abs. 1). Das Deliktsstatut kann (nach der Tat – Art. 42 – aber auch vorher, zB für Delikte, die sich anlässlich einer Sonderbeziehung ereignen können – Art. 41 Abs. 2 Nr 1) gewählt werden.

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Die sachlich weitgehend für das außervertragliche Schuldrecht ab dem 11.1.2009 als loi uniforme anwendbare Rom II-VO (VO EG Nr 864/2007) knüpft ebenfalls die Leistungskondiktion an das (ggf gewählte) Vertragsstatut an (Art. 10 Abs. 1 Rom II-VO). Dasselbe gilt für das Deliktsstatut, wenn das Delikt in enger Verbindung zu einem Vertrag steht (Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 2 Rom II-VO). Überdies ist für alle außervertraglichen Schuldverhältnisse eine nachträgliche freie Rechtswahl und zwischen Unternehmern auch eine vorherige freie Rechtswahl vorgesehen (Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO; zu Einschränkungen Abs. 2, 3, dazu Rn 1412 ff).

3. Sonstige Anknüpfungskriterien

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a) Der schlichte Aufenthalt hat nur als äußerst hilfsweises Anknüpfungskriterium Bedeutung. Er bestimmt das Personalstatut für Staatenlose, die keinen gewöhnlichen Aufenthalt haben (Art. 5 Abs. 2). Der schlichte Aufenthalt eines Ausländers in Deutschland erlaubt die Bestellung eines Betreuers nach deutschem Recht (Art. 24 Abs. 1 S. 2). Es genügt für den schlichten Aufenthalt die tatsächliche Anwesenheit des Betroffenen; die Dauer oder Beständigkeit des Aufenthalts ist ohne Belang.

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b) Der Ort einer Handlung ist noch immer ein verbreitetes Anknüpfungskriterium, auch wenn seine Bedeutung geringer ist als manchmal von Nichtkundigen vermutet.

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Wegen der Manipulierbarkeit und Zufälligkeit ist die früher als objektive Anknüpfung bei Fehlen einer Rechtswahl vieldiskutierte und in anderen Rechtsordnungen noch bekannte Anknüpfung der materiellen Beurteilung von Verträgen an den Abschlussort einer Gesamtschau von Kriterien im Sinne der engsten Verbindung gewichen. Auch die materielle Beurteilung familienrechtlicher Verhältnisse unterliegt nicht dem Eheschließungsort (eine in Las Vegas geschlossene Ehe ist also nicht etwa in ihren Wirkungen vom Recht Nevadas beherrscht).

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Für die Anknüpfung der Form von Rechtsgeschäften ist der Abschlussort gleichberechtigtes alternatives Anknüpfungsmerkmal neben dem Geschäftsstatut (Art. 11 Abs. 1). Für die Form der Eheschließung in Deutschland ist die Anknüpfung an den Ort sogar das einzige Anknüpfungskriterium (Art. 13 Abs. 3 S. 1). Für die Form von letztwilligen Verfügungen existieren dagegen neben dem Errichtungsort zahlreiche andere (alternative) Anknüpfungskriterien (Art. 1 Haager Testamentsformübereinkommen).

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Unerlaubte Handlungen werden zwar noch grundsätzlich nach dem Recht des Tatortes (lex loci delicti commissi, lat: Recht des Ortes des begangenen Delikts) beurteilt; ausgehend vom praktisch wohl häufigsten Bereich der Verkehrsunfälle kommen aber auch andere, sachnähere Anknüpfungen in Betracht (Art. 41; Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO).

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Die gewillkürte Stellvertretung (Vollmacht) wird an das Recht des Ortes angeknüpft, wo der Stellvertreter von der Vollmacht Gebrauch macht. Juristische Personen werden nach dem Recht ihres tatsächlichen Sitzes behandelt, was eine Anknüpfung an den Ort bedeutet, wo die Hauptverwaltung der Gesellschaft handelt. Im Verfahrensrecht bestimmt der Gerichtsort das anwendbare Verfahrensrecht (lex fori, lat.: Recht des Gerichts).

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Die Interessen, die zu einer Anknüpfung an Handlungsorte führen, sind unterschiedlich. Zum Teil geht es darum, die Beteiligten zu schützen, die am Ort des Geschehens Rechtsrat eingeholt haben und die kollisionsrechtliche Komponente des Falles nicht erkennen (typischerweise bei der Ortsform, welche die Wirksamkeit sicherstellen soll). Teils geht es um den Schutz des Vertrauens Dritter (zB Vollmachtsstatut und Gesellschaftsstatut). Eine echte Schwerpunktsuche führt dagegen beim Deliktsstatut zum Tatort und begründet andererseits in vielen Fällen die Abkehr von der Ortsanknüpfung: Die dort geltenden Sorgfaltsanforderungen kennzeichnen nur dann die engste Verbindung der Deliktsparteien, wenn sich diese dort zufällig deliktisch begegnen und keine andere wesentlich engere gemeinsame Bindung haben.

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c) Der Belegenheitsort (lex rei sitae, lat.: Recht der belegenen Sache, bzw lex situs, lat.: Recht der Belegenheit) von beweglichen und unbeweglichen Sachen ist maßgeblich für die daran bestehenden dinglichen Rechte im Sachenrecht.

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d) Die engste Verbindung nimmt unter den Anknüpfungskriterien eine Sonderstellung ein; sie ist kein determiniertes Anknüpfungskriterium, sondern erfordert eine generalklauselartige Gesamtschau von Einzelkriterien, die jeweils für sich genommen nicht gewichtig genug sind, um Anknüpfungskriterium zu sein. Zugleich steht die „engste Verbindung“ dem Savigny’schen Ansatz am nächsten, denn sie verlangt vom Richter im Einzelfall die Lokalisierung des Rechtsverhältnisses. Welche Einzelfaktoren in die Bewertung einfließen, hängt jeweils stark vom Gegenstand der Anknüpfung ab.

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Die engste Verbindung als subsidiäres Anknüpfungskriterium letzter Stufe im internationalen Eherecht (Art. 14 Abs. 1 Nr 3, sowie durch Verweisung aus Art. 15 Abs. 1) bezieht sich vor allem auf gemeinsame soziale Bindungen.

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Im internationalen Schuldvertragsrecht war die engste Verbindung des Vertrages bei Fehlen einer Rechtswahl nach dem EVÜ das theoretisch einheitliche objektive Anknüpfungskriterium, das jedoch durch Vermutungen konkretisiert wurde, die sich vorrangig an der räumlichen Lokalisierung der Leistungserbringung orientierten. Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO nennt die engste Verbindung nur als subsidiäres Kriterium und stellt die bisherigen Vermutungen als objektive Kriterien voran (Art. 4 Abs. 1, 2 Rom I-VO), deren Indizfunktion aber widerlegbar bleibt (Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO). Dieser Wandel im theoretischen Ansatz, der sich kaum praktisch auswirkt, zeigt augenfällig die der Anknüpfung eigene Spannung zwischen Objektivierung und Einzelfallangemessenheit.

III. Kombination von Anknüpfungskriterien

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Mehrfache Anknüpfung durch Kombinationen von Anknüpfungskriterien in der Anknüpfungsnorm für dasselbe Rechtsverhältnis kommen in unterschiedlichen Techniken vor und haben jeweils unterschiedliche Zielsetzungen.

1. Subsidiäre Anknüpfung, Anknüpfungsleitern oder -kaskaden

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a) Subsidiäre Anknüpfung bedeutet die Reihung mehrerer Anknüpfungskriterien (die zu verschiedenen Rechtsordnungen führen können) in der Weise, dass das jeweils nächstfolgende Kriterium nur maßgeblich wird, wenn die Voraussetzungen des vorangehenden Kriteriums nicht erfüllt sind. Sie wird dann erforderlich, wenn der Gesetzgeber in erster Stufe ein Anknüpfungskriterium wählt, das nicht in allen in Betracht kommenden Fallgestaltungen vorliegen muss. Hierdurch entstehen Anknüpfungsleitern, die Stufe um Stufe von einem Hauptanknüpfungskriterium zu hilfsweisen und äußerst hilfsweisen Kriterien führen.

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b) Der im deutschen IPR wichtigste Fall, die eherechtliche Anknüpfungsleiter, ist im Zuge der Berücksichtigung der Gleichberechtigung von Mann und Frau im IPR entstanden. Das vor dem 1.9.1986 geltende EGBGB stellte (verfassungswidrig) auf die Staatsangehörigkeit des Mannes ab; damit stellten sich keine anderen Anknüpfungsprobleme als im Personalstatut eines einzelnen Anknüpfungssubjekts, wo nur bei Staatenlosen eine Hilfsanknüpfung erforderlich ist (vgl Rn 236 ff). Auch die objektive Anknüpfung der Rom III-VO sieht für das Scheidungsstatut eine Anknüpfungsleiter vor, die jedoch von der des Art. 17 Abs. 1 S. 1 aF iVm Art. 14 deutlich abweicht.

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aa) Mit dem Wechsel zur gemeinsamen Staatsangehörigkeit der Ehegatten als Hauptanknüpfungskriterium (Art. 14 Abs. 1 Nr 1 mit Verweisungen aus Art. 15 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1 aF, Art. 19 Abs. 1 S. 2 und Art. 22 Abs. 1 S. 2) entstanden zahlreiche Fälle, in denen das Kriterium versagte, weil die Ehegatten Angehörige verschiedener Staaten waren. Eine Kumulierung der beiden Heimatrechtsordnungen schied aus, da aus unterschiedlichen oder widersprechenden familienrechtlichen Regelungen (zB Gütergemeinschaft und Gütertrennung) auch im Weg der Kumulierung (Rn 330 ff) kein „gemeinsames“ Recht geschaffen werden kann.

Die vier abgestuften subsidiären Anknüpfungen (aktuelle/letzte gemeinsame Staatsangehörigkeit, derzeitiger/letzter gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt/gemeinsame engste Verbindung) führen wieder formal zu einer alle Fälle erfassenden[59] Anknüpfungsleiter („Kegelʼsche Leiter“). Allerdings verursacht die Bestimmung einer engsten Verbindung große Probleme, weil diese Stufe der Leiter erst erreicht wird, wenn die Ehegatten immer verschiedenen Staaten angehörten und noch nie einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt hatten.

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bb) Diese Leiter wird in einzelnen Bereichen des internationalen Familienrechts durch die Zulassung einer Rechtswahl überlagert. Je nachdem, ob die Rechtswahl immer zulässig ist oder ob sie auf bestimmte Fallsituationen (nicht wählbare Rechtsordnungen, vgl Rn 293 ff) beschränkt wird, wird sie entweder zur obersten Stufe der Anknüpfungsleiter oder zu einer Zwischenstufe.

Im Ehegüterstatut geht die von Art. 15 Abs. 2 zugelassene Rechtswahl – zugunsten eines nicht effektiven Heimatrechts oder eines Aufenthaltsrechts – sogar einer aktuell bestehenden gemeinsamen Staatsangehörigkeit (Art. 15 Abs. 1, 14 Abs. 1 Nr 1) vor, ist also oberste Stufe einer erweiterten Leiter. Im Ehewirkungsstatut tritt die von Art. 14 Abs. 2 zugelassene Rechtswahl hinter die gemeinsame Staatsangehörigkeit, weil die Wahl eines nicht den Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 entsprechenden gemeinsamen Heimatrechts nur erlaubt ist, wenn die Ehegatten keine gemeinsame, Art. 5 Abs. 1 genügende Staatsangehörigkeit haben.

Weiter geht die Zulassung der Rechtswahl in der Rom III-VO. Dass sie dort formal auf erster Stufe der Anknüpfung erscheint (Art. 5 Rom III-VO), hat allerdings nur rechtspolitische Bedeutung, denn Rechtswahl, soweit sie zugelassen ist, verdrängt immer die objektive Anknüpfung, auch wenn sie systematisch an zweiter Stelle steht. Das gilt auch für Art. 22 EU-EheGüterVO, dessen Reichweite der des Art. 15 Abs. 2 ähnlich ist, der aber formal vor der objektiven Anknüpfung (Art. 26) rangiert.

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cc) Zweck einer Anknüpfungsleiter ist es, subsidiäre Anknüpfungskriterien zur Verfügung zu stellen für Fälle, in denen die Hauptanknüpfung versagen würde. Jede einzelne Stufe einer Anknüpfungsleiter bringt aber wiederum Interessenabwägungen und Gerechtigkeitsvorstellungen zum Ausdruck; es geht nicht darum, irgendeine nächste Stufe, sondern die geeignetste nächste Stufe zu bestimmen. Die Anknüpfungsleiter des Art. 14 Abs. 1 macht insbesondere deutlich, dass auch das IPR-Neuregelungsgesetz des Jahres 1986 der Staatsangehörigkeit als Anknüpfungskriterium besonderes Gewicht beimisst.

Das kommt nicht nur in der Einordnung einer früheren gemeinsamen Staatsangehörigkeit als über dem gegenwärtigen gewöhnlichen Aufenthalt stehend zum Ausdruck; Art. 14 Abs. 3 sichert sogar durch Zulassung einer – im Ehewirkungsrecht als problematisch empfundenen und rechtsvergleichend kaum bekannten – Rechtswahl in besonderen Fällen das Staatsangehörigkeitsprinzip als vorrangiges Anknüpfungsmoment, wenn der gewöhnliche Aufenthalt ungeeignet oder eher zufällig erscheint.

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1730 S. 1 Illustration
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9783811492448
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