Internationales Privatrecht

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D. Interessen im IPR

I. Abstrakter Ausgangspunkt

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1. Die Suche nach dem Schwerpunkt des jeweiligen Rechtsverhältnisses erfolgt im deutschen IPR grundsätzlich nicht individuell wertend, sondern durch eine formale Anwendung von typisierten Anknüpfungsnormen.

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Aus einem Katalog abstrakt umschriebener Anknüpfungsthemen (vgl die Überschriften zu Art. 7 ff, Erbrecht, Ehegüterrecht, Abstammung etc) wird der Sachverhalt einem oder mehreren dieser Begriffe zugeordnet („qualifiziert“, zur Qualifikation siehe Rn 443 ff) und nach dem von der jeweiligen Kollisionsnorm – wiederum abstrakt generell – berufenen materiellen Recht entschieden. Das materielle Ergebnis hat dabei grundsätzlich keinen Einfluss auf die Auswahl des anwendbaren Rechts. Eine Korrektur des Ergebnisses erfolgt nur ganz ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt des ordre public (Art. 6), wenn das Resultat im konkreten Fall unerträglich gegen wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts verstößt.

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2. Die herrschende Ansicht[28] begründet dies – im Ansatz zu Recht – damit, dass das IPR nicht die Aufgabe hat, das beste sachliche Ergebnis zu erzielen, sondern die für den Sachverhalt geeignetste Rechtsordnung zu ermitteln. Eine Gegenansicht[29] will sachrechtlich motivierten Interessen der Beteiligten an der Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung den Vorzug geben.

II. Objektiv angemessene Lokalisierung

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1. Die Interessen im IPR sind damit objektiv für bestimmte Anknüpfungsthemen nach dem Maßstab einer generellen Wertung zu bestimmen, sie kommen vorrangig in der Festlegung abstrakt-genereller Anknüpfungsmerkmale zum tragen.

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Es kommt für die Entwicklung der Kollisionsnorm nicht darauf an, ein materiell gerechtes Ergebnis für die konkreten Beteiligten zu erzielen, sondern, wo der Sachverhalt typischerweise internationalprivatrechtlich gerecht zu lokalisieren ist. Nur innerhalb des so bestimmten anwendbaren Rechts kann die materielle Gerechtigkeit gesucht werden, wobei bis zur Grenze des deutschen ordre public das anwendbare Recht und nicht das deutsche Rechtsverständnis entscheidet, was „Gerechtigkeit“ bedeutet.

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Häufig wird in Kritik an fremden Rechtsordnungen übersehen, dass Recht nicht von seinen sozialen Bezügen getrennt werden kann. Vor allem das Familienrecht vieler Staaten mit grundsätzlich anderen gesellschaftlichen Grundwerten wird oft aus einem exklusiv-mitteleuropäischen Werteverständnis heraus als rückständig, frauenfeindlich oder gar mittelalterlich diffamiert. Die weltanschauliche Spannung, die aus dem Kolonialismus über Migration und Terrorismus angewachsen ist und zu anti-islamischen Stimmungen in Europa und den USA, sowie zu anti-westlichen Stimmungen in Nahost und Nordafrika geführt hat, hat diesen Trend noch verstärkt.[30] Ziel des IPR muss es aber sein, den Beteiligten die Rechtsordnung zur Verfügung zu stellen, auf die sie ihr Handeln einstellen und die zu ihrem gelebten Sozialverhalten passt. Das bedeutet keineswegs, dass umgekehrt europäische Werte in falsch verstandener Toleranz den Wertungen gesellschaftlich anders strukturierter Rechtsordnungen geopfert werden. Grenze der Anwendung und Anerkennung ist der deutsche ordre public, insbesondere die Grundwertungen der Grundrechte. Entscheidungen, die diese Spannung betreffen,[31] erregen oft weit über Fachkreise hinaus Aufmerksamkeit und Aufregung der Öffentlichkeit.

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2. Das bedeutet nicht, dass das IPR lediglich formal irgendeine Anknüpfung zu finden hat. Ziel ist die Suche nach der richtigen Rechtsordnung, die – auch in Hinblick auf die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Einbettung der von der jeweiligen Rechtsbeziehung am stärksten berührten Beteiligten – auf den Sachverhalt zugeschnitten ist.

III. Privatrechtliche Interessen

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Staatliche Ordnungsinteressen an der Durchsetzung des eigenen Rechts sind bei dieser Auswahl nicht bedeutsam.

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Im IPR geht es um die Gestaltung und Entscheidung privatrechtlicher Verhältnisse, auf die staatliche Ordnungsprinzipien nur ausnahmsweise – in zwingenden Normen – durchgreifen. Daher ist ein grundsätzliches Interesse des Staates an der Anwendung des eigenen Rechts nicht anzuerkennen. Wo zwingende Wertungen bestehen und in unabdingbaren Normen oder sozial-, gesellschafts- oder wirtschaftspolitischen Ordnungsnormen Niederschlag gefunden haben, können diese nur durch Sonderanknüpfungen gegen ein „eigentlich“ anwendbares fremdes Recht durchgreifen (vgl Art. 9 Rom I-VO). Auch Art. 6 schützt deutsche Grundrechtsprinzipien nicht nur im individuellen Interesse. Hingegen dienen Art. 17a EGBGB bzw Art. 3 Abs. 3, 6 Abs. 2 S. 2, 8 Abs. 1 Rom I-VO überwiegend dem Schutz von Individualinteressen, obgleich der Schutz „Schwächerer“ immer auch sozialpolitisch motiviert ist.

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Die Anwendung deutschen Rechts mag praktisch für Gerichte und Behörden sein, weil die Ermittlung des ausländischen Rechts oft aufwendig ist. Das damit verbundene „Heimwärtsstreben“ (Kegel) ist verständlich, wird gelegentlich auch vom IPR gefördert (vgl Art. 4 Abs. 1 S. 2, Art. 5 Abs. 1 S. 2), führt aber, wie vor allem Art. 5 Abs. 1 S. 2 zeigt, nicht immer zu den IPR-gerechtesten Ergebnissen. Dieses Streben findet eine Entsprechung in jüngeren Tendenzen des EuIPR, wo sowohl im Scheidungsstatut (Art. 8 lit. a Rom III-VO) als auch im Erbstatut (Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO) die gesetzliche Regelanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt auch mit der Harmonisierung von Internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht, also mit der Anwendung der lex fori, begründet wird.

IV. Entscheidungseinklang

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1. Ein Idealziel des IPR, das schon v. Savigny genannt hat, ist die Sicherung des Entscheidungseinklangs, der in zwei Richtungen gefordert sein kann.

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Einerseits soll die Entscheidung eines gleichartigen oder desselben Sachverhalts nicht von der Zufälligkeit des Gerichtsstandes abhängen. Bei Fällen mit Auslandsbezug, für deren Entscheidung eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte besteht, muss damit gerechnet werden, dass auch eines oder mehrere ausländische Gerichte eine internationale Zuständigkeit annehmen. Ziel ist hier der internationale Entscheidungseinklang. Es geht dabei um die Vermeidung widersprechender Entscheidungen, sei es im selben, sei es in vergleichbaren Fällen, die von den Rechtssuchenden und in der Öffentlichkeit als ungerecht empfunden würden.

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2. Andererseits ist der interne Entscheidungseinklang zu suchen. Angestrebt ist dabei eine harmonische Behandlung derselben Rechtsfrage durch alle damit befassten deutschen Gerichte und Behörden.

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Beispielsweise ist die Wirksamkeit einer Eheschließung nicht nur für rein eherechtliche Fragen bedeutsam, sondern beeinflusst ggf den Ehenamen (Passbehörden), Sozialhilfeansprüche (Sozialbehörden und -gerichte), Zeugnisverweigerungsrechte (alle Verfahrensordnungen) und die Erbfolge (Nachlassgericht). Wenn verschiedene Statute auf diese Fragen anwendbar sind, könnte es geschehen, dass die Ehe einmal als wirksam, einmal als unwirksam angesehen wird. Niemand könnte verstehen, wenn ein Ehepaar von einer deutschen Behörde als verheiratet, von einer anderen als unverheiratet angesehen wird.

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3. Entscheidungseinklang kann nie vollständig verwirklicht werden.

a) Den größten Beitrag zum internationalen Entscheidungseinklang kann die IPR-Gesetzgebung durch international vereinheitlichtes (völkervertragliches oder europarechtliches) IPR leisten; aber auch die Wissenschaft ist – in ihrer beratenden Funktion für die Gesetzgebung – aufgerufen, durch Kollisionsrechts-Vergleichung die Basis für zumindest ähnliche Kollisionsnormen in unterschiedlichen nationalen Kodifikationen zu schaffen.

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Durch das EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht vom 19.6.1980 (inkorporiert in Art. 27 ff aF) wurden die Kollisionsnormen des Vertrags-IPR in allen Mitgliedsstaaten vereinheitlicht. Art. 65 lit. b EGV aF, nun Art. 81 AEUV, setzte die Förderung der Vereinbarkeit der Kollisionsnormen der EU-Mitgliedsstaaten auf die Agenda und führt zunehmend zu einer Vereinheitlichung durch EU[32]-Verordnungen. Schon vor Inkrafttreten der IPR-Gesetze in Österreich, Deutschland und anderen Staaten seit den 1970er Jahren wurde für das Ehekollisionsrecht die nun in vielen Gesetzen übernommene Anknüpfungsleiter (vgl Art. 14) in der Wissenschaft entwickelt.

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b) Wenig förderlich für den Entscheidungseinklang ist hingegen die an sich dem Entscheidungseinklang gewidmete Methode der Rückverweisung (Art. 4 Abs. 1, dazu Rn 348 ff). Haben zwei Staaten in einem Fall spiegelbildliche Anknüpfungen und folgen beide der Rückverweisung, so wenden sie – höchst disharmonisch – jeweils eigenes Recht an. In völkervertraglichen- und europarechtlichen Instrumenten würde diese Methode die Vereinheitlichung und damit den Entscheidungseinklang wieder auflösen und wird daher nicht angewendet.

 

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c) In Anwendung der Kollisionsnormen sind die Möglichkeiten, internationalen Entscheidungseinklang zu erreichen, beschränkt. Ist die Verweisung objektiv bestimmt, so kann der Rechtsanwender das Ergebnis nicht korrigieren, selbst wenn er erkennt, dass die verwiesene Rechtsordnung oder ein anderer berührter Staat abweichend entscheiden würde. Ist jedoch die Verweisung flexibel, hat insbesondere der Richter eine engste Verbindung zu ermitteln, so kann er bei seiner Abwägung auch berücksichtigen, wo eine beteiligte Rechtsordnung den Schwerpunkt des Sachverhalts sieht. Dies führt umso mehr zu Entscheidungseinklang, als solche Schwerpunktanknüpfungen regelmäßig nicht in fremdes IPR, sondern direkt in fremdes materielles Recht verweisen, also Sachnormverweisungen sind (dazu Rn 358 ff). Auch die fakultative Berücksichtigung zwingenden Rechts einer an sich nicht berufenen Rechtsordnung (Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO) dient dem internationalen Entscheidungseinklang.

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d) Selten erlaubt auch das nach deutschem IPR anwendbare materielle Recht, eine nach einem fremden IPR anwendbare materielle Rechtsordnung zu berücksichtigen. Dies setzt voraus, dass die anwendbare Norm Ermessen einräumt, insbesondere die Beachtung von Interessen (häufig das Kindesinteresse im Familienrecht) erlaubt, der Auslegung zugänglich ist oder ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe (gute Sitten, grobe Unbilligkeit) enthält.

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e) Der interne Entscheidungseinklang wird vor allem dadurch erreicht, dass bestimmte Rechtsverhältnisse, deren Bestehen Tatbestandsmerkmal für mehrere Rechtsfragen ist, unabhängig von der jeweiligen Sachfrage beurteilt werden. Wichtiges Instrument hierzu ist die sog selbständige Anknüpfung von Vorfragen (zur Vorfrage Rn 497 ff).

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So wird in der geschilderten Situation (Rn 58) das Bestehen der Ehe in formeller und materieller Hinsicht nicht nach dem maßgeblichen öffentlichen Recht (Sozialrecht oder Passrecht), Erbstatut, Scheidungsstatut etc beurteilt, sondern einheitlich nach dem Eheschließungsstatut, auch wenn die Eheschließung nicht die Hauptfrage ist (was bei Anmeldung der Eheschließung oder im Aufhebungsverfahren der Fall wäre), sondern eine Vorfrage, also eine bloße tatbestandliche Voraussetzung einer anderen Rechtsfrage.

V. Weitere bestimmende Kriterien

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1. Im Übrigen verlangt die Rechtssicherheit meist nach starrer Anknüpfung und verbietet die individuelle nachträgliche Beachtung einzelner Parteiinteressen. Der Einzelne muss – sofern er sich diese Frage stellt – vorher mit Verlässlichkeit bestimmen können, welcher Rechtsordnung sein Rechtsgeschäft, seine familienrechtliche Beziehung oder sein Nachlass später unterworfen sein wird. Wo die Rechtssicherheit starre Anknüpfungen nicht verlangt, ist auch das IPR offen für einen Blick auf das materielle Ergebnis. Die jüngeren IPR-Kodifikationen, auch das deutsche Gesetz zur Reform des IPR von 1986, haben sich deutlich dieser Idee geöffnet.

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2. Gehen die Interessen der Beteiligten typischerweise in unterschiedliche Richtungen, so muss entweder ein gemeinsames oder ein neutrales Anknüpfungskriterium gefunden werden, es sei denn, es werden die objektiv vermuteten Interessen eines der Beteiligten vor die des anderen gestellt, insbesondere weil die Beteiligten unterschiedlich schutzwürdig sind.

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Bei objektiven Anknüpfungen im Internationalen Eherecht wird nur bei gemeinsamer Staatsangehörigkeit an diese, sonst an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft; hingegen wird im Internationalen vertraglichen Schuldrecht – sofern keine Rechtswahl vorliegt – häufig der Vertrag dort lokalisiert, wo der die Sachleistung Erbringende seinen Sitz hat (Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO). Ähnlich wird im Internationalen Deliktsrecht der Geschädigte durch Anwendung des Rechts am Schadensort geschützt (Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO), noch stärker ist sein Schutz, soweit[33] Art. 40 Abs. 1 gilt und er unter mehreren Rechten wählen darf, wenn Handlung und Erfolg der deliktischen Rechtsgutverletzung in verschiedenen Staaten eintreten.

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3. Wo ein bestimmtes materielles Ergebnis vermutlich von allen Beteiligten oder einem besonders schutzwürdigen Beteiligten gewollt ist, dringen auch alternative Anknüpfungen vor, die es erlauben, den Eintritt einer Rechtsfolge (zB Abstammungsfeststellung, Formwirksamkeit) nach mehreren Rechtsordnungen zu prüfen und schon dann anzunehmen, wenn nur die Voraussetzungen einer Rechtsordnung gewahrt sind.

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4. Deutlich im Vordringen ist schließlich auch die Parteiautonomie,[34] also die Zulässigkeit einer Wahl des anwendbaren Rechts. In Bereichen, in denen ganz vorwiegend die Interessen der an der Rechtswahl Beteiligten berührt sind, kann ein der Privatautonomie (im materiellen Recht) verbundenes Rechtssystem diesen getrost die Bestimmung der sachnächsten Rechtsordnung überlassen.

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Im Internationalen vertraglichen Schuldrecht ist dies die Regel (vgl Art. 3 Rom I-VO). Hingegen sind im Internationalen Eherecht und Erbrecht häufig auch Drittinteressen berührt, weshalb dort im deutschen IPR bisher nur in engen Grenzen eine Rechtswahl zugelassen (vgl Art. 14 Abs. 2 und 3, Art. 15 Abs. 2, Art. 17 Abs. 1 aF iVm Art. 14; Art. 25 Abs. 2 aF) wurde. Im EU-Kollisionsrecht wird die Rechtswahl auch in diesen Bereichen ausgedehnt (Art. 5 Rom III-VO, Art. 22 EU-ErbVO), wobei eine fragwürdige Funktion hinzutritt: Der EU-Gesetzgeber erwartet, dass die Beteiligten die vordringende Grundanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt, die nicht immer angemessen ist und zu Zweifelsfällen führt, durch Parteiautonomie korrigieren; das setzt freilich Kenntnis und Beratung über die Wahlmöglichkeit und das Anknüpfungsproblem voraus, was gerade in familienrechtlichen Fragen nicht ohne weiteres zu unterstellen ist. Im Internationalen Sorgerecht kommt hingegen eine Rechtswahl nicht in Betracht, da das Kindesinteresse im Vordergrund steht.

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5. Häufig wirken sich auch rechtspolitische Werturteile zum materiellen Recht mittelbar aus, weil das IPR eines Staates nicht im rechtspolitisch freien Raum entsteht, sondern denselben Grundwertungen gehorcht, die sich im materiellen Recht durchsetzen. Besonders deutlich wird dies im Internationalen Familienrecht, das – wie das materielle Familienrecht – in seiner Fortentwicklung kaum von Dogmatik, dafür umso mehr von aktuellen rechtspolitischen Tendenzen geprägt ist.

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Dem Übergang des materiellen Rechts von der Verschuldens- zur Zerrüttungsscheidung (1.7.1977) und der Erkenntnis, dass Art. 6 Abs. 1 GG auch die Freiheit der Scheidung einer gescheiterten Ehe als Teil der Eheschließungsfreiheit schützt, entsprach die Regel des Art. 17 Abs. 1 S. 2 aF, die dem deutschen Ehegatten eine Scheidung nach deutschem Recht sicherte, wenn das eigentliche Scheidungsstatut die Scheidung verweigert. Art. 10 Rom III-VO erklärt in diesem Fall die lex fori für anwendbar. Das Internationale Kindschaftsrecht des Kindschaftsrechtsreformgesetzes 1998 kehrt sich mit dem materiellen Recht ab von der Unterscheidung ehelicher und nichtehelicher Kindschaft; was keineswegs zwingend erst so spät erfolgen musste, hatte sich doch schon vorher das deutsche IPR mit zahlreichen Rechtsordnungen auseinanderzusetzen, deren Kindschaftsrecht mit der Unterscheidung der Anknüpfung in Art. 19 und 20 aF nicht sachgerecht zu bewältigen war. Der Schutz bestimmter Personen im Internationalen Schuldrecht (Verbraucher, Versicherte, Arbeitnehmer, Vertragspartner von AGB-Verwendern) durch Sonderanknüpfungen folgt den entsprechenden materiellen Schutzbestimmungen nach.

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Eine Berücksichtigung solcher Wertungen, sei es seitens des Gesetzgebers durch eine legislatorische Entscheidung für ein bestimmtes Prinzip, sei es durch den Rechtsanwender in der Auslegung der Norm, bedeutet jedoch immer kollisionsrechtliche Umsetzung, nicht aber konkrete materielle Verwirklichung eines gewünschten Ergebnisses.

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Verbraucherschutz im IPR bedeutet zB nur, den Verbraucher vor dem Entzug eines ihm nahen Rechts (regelmäßig seines gewöhnlichen Aufenthalts) zu bewahren. Ob dadurch konkreter Schutz gewährleistet wird, kann nur der Inhalt dieser Rechtsordnung entscheiden.

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6. Insbesondere sind die Kollisionsnormen den Wertungen des Grundgesetzes unterworfen, haben also zB die Gleichheitssätze bei der Auswahl der Anknüpfungskriterien zu wahren. Das lange Zeit (zum Ehekollisionsrecht) vertretene Argument, Kollisionsnormen seien wertneutral[35] und könnten daher auch einseitig anknüpfen, weil erst das materielle Recht zu einer gleichheitswidrigen Benachteiligung führe, hat das BVerfG[36] deutlich zurückgewiesen.

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Gleichberechtigung von Mann und Frau im Kollisionsrecht bedeutet also nicht die Verwirklichung eines materiell gleichberechtigungskonformen Ergebnisses. Eine gleichberechtigungskonforme Kollisionsnorm wird (lediglich) die Auswahl des maßgeblichen Rechts ohne Bevorzugung eines nicht Art. 3 GG entsprechenden Kriteriums vornehmen. Erweist sich sodann das grundrechtsentsprechend ausgewählte Recht inhaltlich nicht als grundrechtskonform, so kann – in engen Grenzen – nur der ordre public helfen.

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Ob mit der zunehmenden Europäisierung des IPR der hohe Standard der Verwirklichung deutscher Grundrechte im IPR erhalten bleiben kann, muss angesichts der Selbstbeschränkung des BVerfG gegenüber dem Europarecht und angesichts des zum Teil geringeren Schutzstandards der EU-GRC bezweifelt werden.

Teil I IPR: Grundlagen › § 1 Einführung und Abgrenzung › E. Quellen des IPR

E. Quellen des IPR
I. Autonomes deutsches Recht

1. EGBGB

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Wesentlichste Quelle des deutschen IPR sind Art. 3-46, die durch das Gesetz zur Neuregelung des IPR[37] grundlegend reformiert wurden und seitdem insbesondere im internationalen Namensrecht (Art. 10),[38] im internationalen Kindschaftsrecht (Art. 19 ff)[39] und im Verbraucherschutzrecht (Art. 29a aF)[40] Änderungen erfahren haben. Erweiterungen ergaben sich durch das Gesetz zum Internationalen Privatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und für Sachen[41] (Art. 38 bis 46), das GewaltschutzG[42] (Art. 17a), das LPartG[43] und das LPartÜG[44] (Art. 17b[45]), das PersonenstandsrechtsreformG[46] (Art. 47[47]) sowie die Reform des Ehevermögensrechts[48] zum 1.9.2008 (Art. 17 Abs. 3, 17a, 17b Abs. 1). Erhebliche Änderungen ergeben sich in jüngerer Zeit als Konsequenz der Europäisierung des IPR, die zur Aufhebung der Art. 27 bis 37 und Einfügung von Art. 46b, 46c,[49] zur Aufhebung des Art. 18,[50] zur Anpassung des Art. 17[51] und zur Anpassung der Art. 25, 26[52] geführt hat. Nicht zuletzt soll Art. 3 Nr 1 nun den Rechtsanwender davor schützen, europarechtliches IPR zu übersehen, indem dort sukzessiv das europäisierte Kollisionsrecht aufgelistet wird.[53]

Das im EGBGB kodifizierte IPR ist komplementär zum fortschreitend europäisierten IPR (im Einzelnen Rn 91); es umfasst somit noch größere Teile des internationalen Personen- und Familienrechts (außer dem Unterhaltsstatut, dem Scheidungsstatut und künftig dem Ehe- und ELP-Güterstatut) mit geringen Lücken – zB ist das Verlöbnisstatut nicht ausdrücklich geregelt. Auch das Sachenrecht ist im EGBGB geregelt. Europäisiert ist das internationale vertragliche Schuldrecht (außer für Altfälle) und in weiten Bereichen das außervertragliche Schuldrecht; das internationale Erbrecht ist de facto vollständig europäisiert, weil Art. 25 Abs. 1 EGBGB subsidiär auf die EU-ErbVO verweist.

 

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Für Sachverhalte mit Bezug zur früheren DDR bestimmt Art. 236 für abgeschlossene Vorgänge, familienrechtliche Rechtsverhältnisse und güterrechtliche Wirkungen von Ehen zum 3.10.1990 teilweise die Anwendung des „bisherigen“ Internationalen Privatrechts. Gemeint ist damit, sofern ein Sachverhalt vor dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik interlokal der DDR zuzuordnen war, das IPR der DDR. Dieses war hauptsächlich im Rechtsanwendungsgesetz der DDR[54] geregelt.