Buch lesen: «Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990», Seite 8

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Skepsis gegenüber Ungarn-Flüchtlingen

Der Flüchtlingsstrom von Ungarn nach Österreich, die Überforderung der dortigen Behörden und die Solidarisierung mit der ungarischen Bevölkerung boten der offiziellen Schweiz die Gelegenheit, tatkräftig Humanität zu demonstrieren. Das passte auch ausgezeichnet ins Konzept von Bundesrat Max Petitpierre, der ab Anfang der 1950er-Jahre die Neutralität um die Maxime der Solidarität erweitert hatte. Damit wollte er den aussenpolitischen Handlungsspielraum ausweiten, einen bescheidenen Beitrag an die internationalen Bemühungen gegen die Ausbreitung des Kommunismus leisten und aus der Isolation ausbrechen, was Mitte der 1950er-Jahre weitgehend gelungen war.130

Die Schweizer Regierung verschloss sich deshalb nicht, als Hilferufe eintrafen. Während andere Länder noch über die Aufnahmekriterien diskutierten, trafen die ersten Flüchtlinge in der Schweiz ein. Bereits am 6. November 1956 stellte Bundesrat Markus Feldmann, der Vorsteher des EJPD, einen Antrag, 2000 ungarische Flüchtlinge aufzunehmen. «Das Schweizerische Rote Kreuz kann die gesammelten Gelder, die ihm in reichem Masse von allen Seiten zufliessen, nicht mehr für konstruktive Hilfe in Ungarn selbst einsetzen», weshalb es 2000 Flüchtlinge in die Schweiz bringen möchte, hiess es im Antrag.131 Kurze Zeit später reisten weitere 2000 Flüchtlinge ein, obwohl es an den nötigen Strukturen fehlte. Die Hilfsbereitschaft aber war gross, wie nach einer Besprechung zwischen Feldmann und Vertretern der Hilfswerke registriert wurde. «Aus dem ganzen Lande sind inzwischen zahlreiche Hilfsangebote eingegangen. Zum Teil haben sich Kantone bereit erklärt, eine grössere Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, d. h. ihnen eine Aufenthaltsund Arbeitsbewilligung zu verteilen. […] Aber auch Verbände, Firmen und Private haben sich zur Übernahme von Flüchtlingsfamilien verpflichtet.»132 Dabei sei davon auszugehen, dass die Flüchtlinge sehr lange in der Schweiz bleiben würden.

Entgegen dem Rat der Hilfswerke beschloss der Bundesrat Ende November, weitere 6000 Flüchtlinge vorübergehend aufzunehmen, allerdings mit der Zusicherung des Hochkommissariats für Flüchtlinge, dass diese in Drittländer weiterreisen würden. Die Hilfsangebote aus der Bevölkerung waren so zahlreich, dass nicht alle berücksichtigt werden konnten. Entgegen der Annahme reisten weniger Familien ein, sondern vor allem Männer, die «grösstenteils darauf brennen, möglichst rasch zur Arbeit eingesetzt zu werden». Dem kam entgegen, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Industrie ausserordentlich stark war. «Grosse Firmen haben sich bei den Kantonen gemeldet und bitten um Zuweisung von ungarischen Arbeitskräften.» Es seien über 7200 Plätze angeboten worden. Da und dort hätten Schweizer – so ein Bericht von Bundesrat Feldmann an den Bundesrat – «ihre Enttäuschung kundgegeben, wenn ihnen vom zuständigen kantonalen Koordinationsausschuss nicht mit Bestimmtheit ungarische Flüchtlinge versprochen werden konnten». Allerdings gebe es auch eine Anzahl «unerfreulicher Elemente», die nicht an Leib und Leben bedroht seien und die versuchten, illegal in die Schweiz zu reisen.133

Während der Bundesrat eine ausgeprägte Willkommenskultur praktizieren wollte, waren die Hilfswerke gegen eine weitere Erhöhung der Zahl der Flüchtlinge, weil sie die Verantwortung für deren Unterbringung und Betreuung nicht aufbringen könnten. Es fehlte am nötigen Wohnraum. Und dann ein bemerkenswerter Satz im Protokoll, der den Enthusiasmus der Bevölkerung relativierte: «Es muss ferner auch abgewartet werden, ob der spontane Helferwille des Volkes sich über die ersten Kontakte mit den Flüchtlingen hinaus aufrecht erhält. Nur wenn weiterhin die Bereitschaft zur Mithilfe des ganzen Volkes besteht, lässt sich die Eingliederung der Flüchtlinge, die vielfach nicht den Vorstellungen, die man sich gemeinhin von ihnen macht, entsprechen, [realisieren].»134 Und weiter: «Die Schweiz nimmt alle auf, die kommen wollen und hat keine Auslesekriterien aufgestellt. Es werden sich unter den Aufgenommenen deshalb sicher auch schwierige Elemente befinden.» Während die Schweiz dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge das höchste Kontingent zusicherte, verhielten sich andere Staaten zurückhaltend: Deutschland wollte 3000 Flüchtlinge aufnehmen, Italien 2000, die USA 5000. Als in der Schweiz schon 2400 angekommen waren, hatten andere Länder erst ein paar hundert Flüchtlinge übernommen.

Bundesrat Feldmann verbreitete nach wie vor Optimismus, doch die Vertreter der Kantone waren zurückhaltender, wie sich an einer Besprechung Mitte März 1957 zeigte. Er rühmte erneut die Schweiz und ihre Bevölkerung: «Wenn die Schweiz heute in der Eingliederung ungarischer Flüchtlinge mit Abstand an der Spitze aller Länder steht, verdankt sie dies der verständnisvollen Mitarbeit und grosszügigen Hilfe der Kantone sowie der guten Zusammenarbeit mit den eidgenössischen Behörden.»135 Doch die Kantone reagierten zurückhaltender. Es gebe allzu viele Schwierigkeiten mit der Unterbringung und den Arbeitsplätzen. «Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge will in Mangelberufen tätig sein», sagte der Vertreter des Kantons Zürich. Klartext sprach der Neuenburger Kantonsvertreter: «Les difficultés causées par les Hongrois ne proviennent pas de la différence de langue, mais de leur caractère, de leur refus d’accepter le travail qui leur est proposé, de leurs prétentions de salaires exagérées, autrement dit de leur mentalité désagréable.» Der Berner Vertreter fügte bei: «Die Eingliederung der Jugendlichen bis zu 19 Jahren bietet am meisten Schwierigkeiten, weil diesen Leuten ethische Werte fremd sind und ihre Arbeitsdisziplin zu wünschen übrig lässt.»

In der kollektiven Erinnerung war die Hilfe für die Ungarn-Flüchtlinge enorm, die Zahl der Aufgenommenen gross. Sie galt als Beispiel für eine geglückte Integration und liess die oft menschenverachtende Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg vergessen machen. Der schonungslose Bericht von Carl Ludwig über die fragwürdige Flüchtlingspolitik lag zwar bereits 1955 vor. Der Bundesrat veröffentlichte ihn aber erst 1957 – angereichert mit Selbstlob über die «Willkommenskultur gegenüber den neuen Flüchtlingen».136 Die Realität ist eine andere: Insgesamt reisten 12 000 ungarische Flüchtlinge in die Schweiz ein, von denen 5000 weiterzogen.137 Dennoch nahm die Schweiz fast so viele Flüchtlinge auf wie Frankreich, Deutschland oder Australien.138 Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen 1968 flohen 13 000 tschechoslowakische Bürgerinnen und Bürger in die Schweiz. Und auf dem Höhepunkt der Balkankriege stellten im Jahr 1999 46 000 Menschen – vor allem Bosniaken – ein Asylgesuch. Die Aufnahme Hunderttausender Asylsuchender in den vergangenen 20 Jahren blieb in der Erinnerungskultur im Gegensatz zu den Ungarn-Flüchtlingen nicht positiv haften, sondern wurde im Gegenteil negativ konnotiert und politisch instrumentalisiert, was sich in Wahlerfolgen insbesondere der SVP auszahlte.

Topografie der kommunistischen Bedrohungen


Der Kommunismus warf überall seine Tentakel aus, in Betrieben, Schulen und ausländischen Organisationen. Er verbreitete verdeckt seine Botschaft in Jugendliteratur und in den Medien, wusste sich geschickt zu tarnen. Es galt deshalb, Aufklärungsarbeit zu leisten: in der Schule, im Militär, im Elternhaus. Zahlreich und intensiv waren die Bemühungen, dem Kommunismus die Fratze zu entreissen, die wahren Absichten aufzudecken. Einen wesentlichen Beitrag dazu sollte wiederum die Geistige Landesverteidigung leisten, die eine Renaissance erlebte.

Fremdarbeiter und Kryptokommunisten

Wider Erwarten geriet die Schweizer Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in eine Rezession, sondern erlebte – mit einer leichten Delle 1947/48 und 1952 – einen historisch einzigartigen Boom, der bis 1973 anhielt. Schon 1947 erteilten die Behörden die Bewilligung für 150 000 Einreisegenehmigungen; Hunderttausende von Arbeitsmigranten sollten folgen. Bis in die 1970er-Jahre hinein waren die «Fremdarbeiter», die später semantisch durch die «Gastarbeiter» abgelöst wurden, vorwiegend Italiener. In Italien waren die Kommunisten eine starke politische Kraft mit Stimmenanteilen von rund 30 Prozent. Die italienischen Arbeitsmigranten (darunter gab es von Anfang an viele Frauen) wurden deshalb von den Behörden und vom Staatsschutz mit Misstrauen beobachtet. Ein «vertraulicher», anonymer Bericht von 1948, dessen Verfasser mit «zuverlässigen Gewerkschaftsfunktionären in Bern, Zürich, Winterthur, Schaffhausen und Basel Fühlung» aufgenommen habe, beschreibt deren Motivation so: «Die italienischen Fremdarbeiter in der Schweiz haben zur Hauptsache ein Interesse, Geld zu verdienen. Sie sind an möglichst hohen Löhnen interessiert und wehren sich gegen alle Geldabgaben, so z. B. gegen die Bezahlung von Steuern.»1

Für die italienischen Arbeiter – so der Bericht weiter – sei Demokratie nicht mehr als ein Wort. «Kommunismus steht für sie nicht im Gegensatz zur Demokratie, sondern stellt vielleicht eine Antipode [sic] zu der katholischen Kirche dar. […] Ein eigenes kritisches Urteil fehlt den meisten. Sie sind an politischen Fragen nicht desinteressiert, doch kommt in diesem Punkt ein gewisser Herdeninstinkt zum Vorschein, d. h. sie haben die Tendenz, irgendeinem ‹nachzulaufen›.» Es sei selbst für Gewerkschaftsfunktionäre schwer zu sagen, welche parteipolitischen Strömungen unter den Fremdarbeitern vorhanden seien. «An verschiedenen Orten versuchten auch Leute der PdA mit den italienischen Fremdarbeitern in Kontakt zu kommen. Sie versuchten es entweder über eine Tessinersektion der PdA oder über Gewerkschaftssektionen, in welchen die PdA einen massgebenden Einfluss hat. Zum Teil geschah dies in Verbindung mit italienischen Kommunisten.» In Winterthur und Schaffhausen, wo die PdA-Leute in den Gewerkschaften überhaupt keinen Einfluss hätten, würden die Gewerkschaften jeden Versuch von PdA-Leuten, mit italienischen Fremdarbeitern in Kontakt zu kommen, unterdrücken.

Zu einem Konflikt kam es 1948, als es um die Rückerstattung von Reisespesen für Wochenendausflüge nach Italien (die meisten kamen aus Norditalien) ging. Einige italienische Arbeiter organisierten deswegen einen Streik, woraufhin sie ausgewiesen wurden – das erste Mal nach dem Krieg.2 Bei einem Arbeitskonflikt in Pratteln im selben Jahr sollen kommunistische Funktionäre im SMUV die italienischen Fremdarbeiter dazu aufgewiegelt haben, in einen Streik zu treten. Diese hätten Forderungen gestellt, die sie gegenüber den Schweizer Arbeitern privilegiert hätten. Der SMUV habe im Verhalten der PdA-Leute eine Verletzung des Friedensabkommens gesehen und diese sofort ausgeschlossen. Die Gewährsleute des anonymen Berichterstatters waren davon überzeugt, dass die extremistischen Elemente ihre Anstrengungen «verdoppeln» würden. Es sei bekannt, dass die Gewerkschaften in Italien seit einiger Zeit ausserordentlich stark unter kommunistischem Einfluss stünden. Es sei deshalb durchaus möglich, dass die Zahl der aktiven Kommunisten unter den italienischen Fremdarbeitern inskünftig grösser und der kommunistische Einfluss stärker sein würden als bis anhin. In der Westschweiz sei er bereits jetzt gross. In den Gewerkschaften finde ein Kampf um Einfluss und Macht zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten statt.3 Das Dokument ist deshalb interessant, weil es schon frühzeitig die Marschrichtung aufzeigte, die die Behörden und Gewerkschaften einschlagen würden.

Anfang der 1950er-Jahre schlossen die PdA und die Kommunistische Partei Italiens (Partito Comunista Italiano, PCI) ein Abkommen und gründeten die «Federazione di lingua italiana del Partito svizzero del lavoro», die für die Kommunisten in Italien Propaganda machen und die Zeitung Unità und anderes Propagandamaterial in der Schweiz verteilen sollte. Am 1. Juni 1955 führte die Polizei eine Razzia bei der Federazione in Winterthur, Zürich, Basel und Schaffhausen durch und verhaftete 26 Aktivisten, die jedoch bereits am folgenden Tag wieder freigelassen wurden. Sie wurden beschuldigt, an ihren Arbeitsorten kommunistische Zellen errichten zu wollen. Zwanzig Aktivisten wurden nach Verhören ausgewiesen. Strafrechtlich liess sich der Strafbestand des «Nachrichtendienstes zum Nachteil der Schweiz» nicht beweisen, wie Bundesrat Chaudet vermutet hatte.

Winterthur, in eingeweihten Kreisen als «Stalingrad» bezeichnet, galt als Hochburg der italienischen Kommunisten in der Schweiz. Zwölf von neunzehn in einem Bericht des EJPD4 namentlich aufgeführte italienische Kommunisten wohnten dort. Sie würden sich bemühen, in die Betriebskommissionen gewählt zu werden und in «unsere Gewerkschaften einzudringen». In der Vernehmung hätten sich die Verhafteten «renitent» gezeigt. Ihnen wurde vorgeworfen, an Schulungen und Zellenkursen teilgenommen und Propagandamaterial verteilt zu haben sowie konspirativ tätig gewesen zu sein. Aufgrund des gefundenen Materials wurden später drei Arbeiter bei Rieter und neun bei Sulzer entlassen, nachdem die Fremdenpolizei diese Firmen über die Razzien informiert hatte. Der Aktion vorangegangen waren Observationen von vermuteten Kommunisten durch die Zürcher Polizei, wobei sich der Personalchef von Sulzer hervortat, indem er Verdächtige der Fremdenpolizei meldete. Im Juni 1956 wiesen die Behörden weitere acht Italiener aus der Schweiz aus, was zu Spannungen mit Italien führte. Nach der «Juni-Aktion» von 1955 rief der Schweizerische Aufklärungsdienst (SAD) auf, weiterhin wachsam zu sein. «Meldet jede verdächtige Wahrnehmung den zuständigen Stellen! Bestimmt gibt es spezifisch schweizerische Möglichkeiten, die Sache zu untersuchen.»5 Kurz nach «Ungarn» stellte der SAD beruhigt fest, dass die kommunistische Ideologie in der Schweiz «auf keinen fruchtbaren Boden» falle. Deshalb würden die Schweizer Kommunisten versuchen, «die Erfüllung der Thesen Lenins am ehesten durch die Aktivierung der als Fremdarbeiter in der Schweiz lebenden italienischen Kommunisten» zu erreichen.6

Die italienischen Fremdarbeiter und ihre Organisationen gerieten denn auch unter Generalverdacht und wurden von Bundesanwaltschaft und Bundespolizei systematisch überwacht und unterwandert. So verfasste die Stadtpolizei Zürich 1963 einen neunseitigen Bericht über den Kongress der 1943 als antifaschistische Bewegung gegründeten Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS). Eine Analyse der Bundesanwaltschaft von 1967 schildert Organisation, Tätigkeit und Ziele der PCI in der Schweiz.7 Daraus geht hervor, dass selbst Kadertagungen infiltriert gewesen waren. Diese Analyse konstatierte, dass «der Kommunismus dem grossen Kontingent, vor allem italienischer aber auch spanischer Fremdarbeiter in zunehmendem Masse Beachtung zu schenken scheint; von der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) aus wurde mit einer systematischen Bearbeitung dieser politischen Reserve begonnen». Es wurde darauf hingewiesen, «welche Bedeutung eine vom Ausland her gelenkte KPI in der Schweiz (mit geschulten Kadern und fortgeschrittener Zellenbildung) in Krisen und Kriegszeiten für unser Land erhalten könnte». Dank ihrer grossen Zahl könnte sie Streiks, Unruhen, Sabotage, subversive Tätigkeit usw. anzetteln.

Der Bericht der Bundesanwaltschaft fasste auch Beschlüsse einer Konferenz des Zentralkomitees der Schweizer KPI-Organisationen in Zürich vom 24. Juni 1966 zusammen, an der eine engere Zusammenarbeit mit der PdA beschlossen worden sei. Das Ziel: «Entfaltung einer Hetzkampagne auf internationaler Ebene gegen das faschistische Regime in der Schweiz. Es ist vorgesehen, eine ähnliche Hetzkampagne zu entfalten, wie sie 1963 nach der Wegweisung einer Anzahl italienischer militanter Kommunisten aus der Schweiz ausgelöst worden ist. Es wird damit gerechnet, dass mit einem derartigen Feldzuge, mittels Presse und Radio, erreicht werden könne, die Schweizerbehörden einzuschüchtern, damit sie von weitern Ausweisungen italienischer Genossen absehen […].» Drei Monate später war ein Beamter der Bundesanwaltschaft Zeuge einer Konferenz von 51 Funktionären der KPI. Dabei hätten sie Anweisungen erhalten, wie sie konspiratives Material in die Schweiz bringen könnten. Aufgrund von Äusserungen an dieser Konferenz ging die Bundesanwaltschaft davon aus, dass von 700 000 Italienern in der Schweiz 300 000 Sympathien für die KPI hätten. Die eingeschriebenen Mitglieder der KPI bezifferte die Bundesanwaltschaft allerdings auf lediglich 2500.8 Auch hier zeigt sich das immer gleiche Muster: Der Staatsschutz übertreibt die Gefahr, um die Überwachung zu rechtfertigen. Selbst als die grösste Kommunistenhysterie vorbei war, wurden die Italiener-Organisationen noch kontrolliert. So erhielt Bundesrat Ludwig von Moos 1970 einen Bericht über deren Kongress, weil er über «sich abzeichnende Entwicklungen informiert sein» wollte.9

In der NZZ erschienen Ende 1960er-, Anfang 1970er-Jahre mehrere Berichte über den angeblich kommunistischen Einfluss in den italienischen Emigrantenorganisationen. Diktion und Argumentation lassen vermuten, dass sich diese Berichte auch auf Informationen der Bundesanwaltschaft stützten. In einem Bericht von 1969 übernahm die NZZ die Perspektive der Missione Cattolica und hielt die FCLIS für eine «kommunistische Tarnorganisation».10 Knappe vier Jahre später bezeichnete sie die Organisation als «offiziell parteipolitisch und konfessionell neutral», fügte aber bei: «Das Urteil über den Grad denkbarer kommunistischer Unterwanderung dieser Gruppen muss indessen offenbleiben. […] Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass diese Organisationen zum Teil vom Ausland abhängig sind und in jedem Fall enge Kontakte mit der Heimat unterhalten.»11 Wenige Tage später publizierte die NZZ eine ausführliche Analyse der FCLIS beziehungsweise KPI.12 Die KPI habe 1955 in Winterthur die erste Sektion gegründet. «Nachdem jene Sektion aufgedeckt war, verzogen sich die italienischen Kommunisten in den Untergrund. Sie tauchten 1960 wieder auf, suchten die Colonie Libere Italiane (CLI) zu infiltrieren und übernahmen dort nach einiger Zeit die Führung. Mit dem zahlenmässigen Erstarken der Colonie, die parallel ging mit der wachsenden Einwanderung, kamen selbstverständlich mehr italienische Kommunisten in führende Stellungen. […] Jeder KPI-Funktionär muss Mitglied der CLI werden.» Die KPI zähle 5000 bis 6000 Mitglieder, die CLI 16 000. Die Partei werde aus Rom gelenkt. Kuriere überbrächten wichtige Weisungen, vielfach auch Propagandamaterial. Die NZZ zitierte ein «vertrauliches» Dokument der KPI aus dem Jahre 1965/66, das James Schwarzenbach 1972 veröffentlicht hatte. Es handle sich um «die vertraulichen Instruktionen der italienischen Kommunisten an die in der Schweiz arbeitenden Emigranten, wie sie den revolutionären Geist in unser Land hineintragen sollen». Zu diesen Weisungen gehöre neben der Infiltration der Gewerkschaften auch, dass man sich als «friedfertiger, liebenswürdiger und gemässigter Mensch» ausgeben und mit Persönlichkeiten des Ortes «durch Gewährung von Gefälligkeiten und Liebenswürdigkeiten Kontakt suchen» solle. Die NZZ warnte: «Seien wir uns bewusst, dass eine solche Infiltrationsarbeit, die seit Jahren systematisch betrieben wird, ihre Früchte trägt, die wir leider erst dann erkennen, wenn es bereits zu spät ist.» Wenige Monate später sah sich die NZZ erneut zu einer Warnung veranlasst. «Die ideologische und organisatorische Zusammenarbeit zwischen der PdA und der KPI wird immer enger, zumal sich für beide Parteien auf dem Feld der Einwanderungspolitik grosse Aktionsmöglichkeiten ergeben.» Die KPI lege in der Schweiz «neuerdings grössten Wert auf äusserlich korrekte Formen und auf Respektabilität».13

In der Logik der NZZ heisst das: Wer sich als Italiener integriert, mit den Nachbarn freundlich verkehrt und einen korrekten Umgang pflegt, tarnt sich als verkappter Kommunist. Resultat der italienischen Zuwanderung: Die Italiener wurden später die Lieblingsausländer, die Schweiz hat sich mediterranisiert, Pizza und Pasta haben die Schweiz unterwandert, nicht der Kommunismus.