Mordskunst im Elbtal

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Sie brachten Katie die geschwungene Treppe hinauf zum ausgebauten Dachboden, wo in einer dunklen Ecke am Ende der Treppe das Bild sein Dasein fristete. Katie war begeistert. »Das ist es! Wenn Onkel Jakob wüsste, dass ich hier vor seinem Bild stehe!« Zärtlich strich sie über die raue Oberfläche des Ölgemäldes.

»Ist Ihr Onkel denn in den USA ein bekannter Maler?«, wollte Lukas Ziegenbarth wissen.

Katie schüttelte den Kopf. »Nein, er hat anfangs wohl als Anstreicher in der Firma meiner Großeltern in Minneapolis gearbeitet, aber später wurde er bekannt durch seine Bilderrätsel. Sie kennen das sicher: Ein Haufen Zahlen auf einem Blatt Papier, die man der Reihenfolge nach verbinden muss und zum Schluss hat man ein fertiges Bild. Diese Art von Malvorlagen hat er für verschiedene Zeitschriften in den USA erdacht und damit immerhin so viel Geld verdient, dass er sich ein wunderhübsches Haus am Lake Poygan kaufen konnte. Dort hat er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens gewohnt und ich war mit meiner Mutter jeden Sommer für mindestens drei Wochen und oft auch zwischendurch an den Feiertagen und an Weihnachten bei ihm.«

Henriette Ziegenbarth lächelte: »Wenn er ein Meister der Bilderrätsel war, dann kann man ihm verzeihen, dass er dieses scheußliche Etwas gemalt hat. Das war ganz offensichtlich nicht sein Ding, diese Landschaften in Öl.« Sie nahm das Bild von der Wand und pustete den Staub weg. »Obwohl der Hirsch ja ganz gut getroffen ist.« Sie sah ihren Mann fragend an und der nickte lächelnd.

»Hier, Miss Katie, wir schenken Ihnen das Bild zur Erinnerung an Ihren Onkel.« Sie drückte Katie das Bild in die Hand. Die wusste erst gar nicht, was sie sagen sollte, und suchte nach den richtigen Worten. »Das ist so … überwältigend. Vielen, vielen Dank!«

Katie hatte die Szene genau vor Augen und war noch einmal zutiefst gerührt, als die S-Bahn mit ihr und dem Gemälde in den Dresdner Hauptbahnhof einfuhr.

»Komm, wir schauen noch schnell nach einem Fahrplan für nächste Woche!« Tina Marwitz zog ihren Mann Richtung Bahnhofshalle, um sich noch einen Flyer mit den Abfahrtszeiten der Züge nach Tschechien zu holen. Sie wollten am nächsten Samstag einen Tag in Prag verbringen, von Bad Schandau aus ein Katzensprung. Jochen Marwitz nickte, drückte die schwere Schwingtür zur Bahnhofshalle auf und suchte nach entsprechenden Regalen oder Ständern. Seine Frau Tina folgte ihm und entdeckte sofort die junge Frau, die halb auf der Wartebank saß, halb lag. Sie schien seitlich umgekippt zu sein und sah sehr blass aus. Während Jochen Marwitz noch in den Drahtständern vor dem Schalterbüro suchte, trat Tina Marwitz näher an sie heran. »Hallo?«, versuchte sie es. Aber die Frau in ihrer dunklen Jacke reagierte nicht. Tina ging noch näher heran und versuchte herauszubekommen, was mit ihr los war. Ihr Mann Jochen hatte den Fahrplan gefunden und rief sie zurück. »Tina, lass das, die schläft bestimmt nur ihren Rausch aus!«

Aber Tina roch keinen Alkohol. Sie berührte die Frau an der Schulter, bekam aber keine Reaktion. Sie griff nach ihrer Hand und die war eiskalt. Tina hatte plötzlich ein sehr mulmiges Gefühl. »Jochen, ruf sofort den Notarzt an!«, rief sie ihrem Mann zu. »Hier stimmt was nicht. Der Frau geht es gar nicht gut, sie ist bewusstlos. Schau, wie blass sie ist, wie schnell sie atmet. Was für Augenringe!« Bei den letzten Sätzen schwang schon so viel Panik in Tina Marwitz’ Worten mit, dass ihr Mann sofort reagierte. Im Nu hatte er durchgegeben, dass eine junge Frau in der Bahnhofshalle in Bad Schandau auf einer Bank läge, nicht ansprechbar sei und dringend Hilfe brauchte.

Tina setzte sich inzwischen neben sie und stellte dafür das große, unförmige Paket, das neben ihr auf der Bank lag, hinunter auf den Boden. Sie bettete den Kopf der Ohnmächtigen auf ihren Schoß. Die einzige Reaktion, die sie bekam, war ein leichtes Stöhnen. Besorgt streichelte sie über ihr blondes Haar und versuchte, ihr gut zuzureden. Die reichlich zehn Minuten, die der Notarzt vom Pirnaer Klinikum brauchte, kamen ihr wie eine Ewigkeit vor. Jochen Marwitz stand derweil hilflos daneben. Er wäre lieber nach Hause in sein Bett gegangen, gleichzeitig wusste er, dass seine Frau ihn einen herzlosen Unmenschen schimpfen würde, wenn er sich jetzt aus dem Staub machte. Er war immer noch davon überzeugt, dass die junge Frau lediglich ein Drogen- oder Alkoholproblem hatte.

Als der Notarzt da war, ging es ganz schnell. Tina und Jochen sahen zu, wie der Arzt innerhalb weniger Sekunden einen Schock diagnostizierte, ihr eine Spritze gab und sie umgehend in den Rettungswagen verfrachtete.

»Ein Schock?«, fragte Jochen Marwitz. »Was bedeutet das?«

Der junge Notarzt hatte keine Zeit für lange Erklärungen: »Septischer Schock, Blutverlust, Allergie, wir müssen das schnell herausbekommen, ihr Zustand ist kritisch. Kennen Sie die Frau, können Sie Angaben zu ihrer Person machen?«

Beide schüttelten den Kopf.

Der schöne Abend in Dresden, der Besuch im Kabarett und die fröhliche Stimmung auf der Heimfahrt in der S-Bahn waren wie weggeblasen. Tina Marwitz schaute dem mit Blaulicht und Martinshorn davonrasenden Krankenwagen hinterher. »Das arme Mädchen, die war doch höchstens fünfundzwanzig. Was ihr wohl fehlt?«

Jochen Marwitz legte tröstend den Arm um ihre Schulter. »Wir können morgen in der Klinik in Pirna anrufen und fragen, ob es ihr besser geht. Vielleicht sagen sie uns das. Bloß gut, dass du noch den Fahrplan besorgen wolltest, sonst würde sie da noch immer liegen.«

Sie wandten sich zum Gehen Richtung Parkplatz, als Tina das Paket einfiel. »Du, Jochen, da stand doch so ein großes Ding neben ihr. Das gehört ihr wahrscheinlich. Wir können es nicht einfach am Bahnhof stehen lassen. Was tun wir damit?« Jochen überlegte kurz. »Wir nehmen es mit und ich bringe es am Montag auf dem Weg zur Arbeit im Klinikum vorbei.«

Er legte das unförmige Ding in den Kofferraum und fuhr mit Tina nach Hause.

Sonntag

»Oh lecker, Fleischsalat mit Gurke« Sascha Pröve deutete begeistert auf das Büffet im Café, das vom Bio-Müsli bis zur Soljanka jede Menge Gaumenfreuden zum Brunch bot. Leo Reisinger nahm das zur Kenntnis. Wenn er nicht völlig ausgehungert war, war Essen ihm nicht so wichtig. Er reihte sich hinter Sascha in die Schlange ein und lud Leckereien auf seinen Teller. Als sie wieder zurück an ihrem Tisch am Fenster waren, kam auch ihre Kollegin Sandra Kruse hinzu. Sie balancierte verschiedene Müslis, Kuchen, Quarkspeisen und Smoothies auf ihrem Tablett.

»Wo ist Olli?«, fragte Leo seine Kollegin.

Sie pustete demonstrativ eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht. »Olli ist in Abu Dhabi – Geschäftsreise für drei Wochen.«

»Und Laika?«

»Bei seinen Eltern. Ich kann den Hund ja nicht drei Wochen lang mit auf Arbeit nehmen. Richter würde ausflippen.«

Leo nickte. Nicht nur der. So niedlich Laika war, so unerzogen war sie auch.

Er nahm einen tiefen Schluck Kaffee und freute sich, seine Kollegen nach einer Woche wiederzusehen. Entspannt wandte er sich seinem Teller zu, auf den er Rührei, Schinken und frisches Obst geladen hatte.

»Habt ihr die Einladung zur Fortbildung in Operativer Fallanalyse schon gesehen?«, fragte Sandra und sortierte akribisch jedes Haselnuss-Stückchen aus ihrem Müsli.

»Warum nimmst du das, wenn du gegen Haselnüsse allergisch bist?«, fragte Leo und sah ihr interessiert zu.

»Man lernt den Umgang mit den verschiedenen Analyse-Systemen zum Profiling.« Leo verdrehte die Augen. Jeder Kriminalkommissar wusste, worum es bei der OFA ging. Er mochte es nicht, wenn Sandra schulmeisterte.

Sascha widmete sich ganz seinem Fleischsalat. »Da ist noch ein Stück Haselnuss drauf!«, warnte Leo seine Kollegin, bevor die einen Löffel Müsli in den Mund schob. Sandra ignorierte die Warnung und kaute ungerührt weiter. Sie war wohl doch nicht gegen Haselnüsse allergisch, schlussfolgerte Leo. Aus Sandra wurde er nie so ganz schlau. Sie war eine fleißige, akkurate Kollegin, die gut mit dem Computer umgehen und hervorragend recherchieren konnte. Aber meistens kriegte er sich schnell mit ihr in die Wolle, deshalb vermied er es nach Möglichkeit, direkt mit ihr zusammenzuarbeiten. Sascha war da im Umgang wesentlich unkomplizierter, auch wenn er ständig angeschoben werden musste.

»Ich überlege, ob ich mich da anmelde. Für dich wäre das auch was, Leo, der Kurs dauert aber bis ins nächste Jahr.« Sandra warf sich die blonde Mähne aus dem Gesicht. Neben ihrem Teller hatte sie eine Liste, auf der sie sich zu jedem Müsli Notizen machte.

Operative Fallanalyse? Leo hatte dazu während seiner Ausbildung in der Polizeischule Fürstenfeldbruck einiges gelernt. In der Bibliothek dort gab es jede Menge Fachbücher, die nur so strotzten vor Theorie. Das war zwar mal genau sein Ding gewesen, aber inzwischen war er doch gerne praktisch unterwegs, vor Ort und nah an den Menschen. Sandra wandte sich zu Sascha: »Stellt euch vor, in meinem Wohnhaus klaut einer mein Waschmittel. Und das passiert mir, einer Kriminalbeamtin!« Sie schüttelte genervt den Kopf.

»Wie lange dauert denn diese Fortbildung?«, wollte Leo wissen.

Sascha spießte Nudelsalat auf seine Gabel und zwinkerte Sandra zu: »Am besten rufst du die Polizei.«

»Sehr witzig. Zweimal Theorie, einmal Praxis.«

»Mach halt einen Strich an die Flasche, damit man genau sieht, wie viel drin ist. Das signalisiert dem Dieb, dass du den Füllstand kontrollierst«, sagte Sascha. Er war wie seine Kollegen Anfang dreißig, allerdings machte sich bei ihm schon eine Stirnglatze breit, die ihn, ebenso wie seine etwas füllige Figur, älter erscheinen ließ. Neuerdings kleidete er sich mit Hemden und Anzughosen und sah wie ein Versicherungsvertreter aus. Auf seinem Teller lag alles durcheinander: Schinken, Fleischsalat, Nudelsalat, Kuchen und Lachs, Käse und ein Töpfchen Pflaumenmus.

 

Sandra nickte: »Das habe ich schon versucht, hat nichts bewirkt.«

»Am Wochenende?«, fragte Leo mit vollem Mund.

»Nein, meistens unter der Woche. Am Wochenende wasche nur ich.«

Saschas Blick wanderte irritiert von einem zum anderen.

Leo saß neben ihm und trug trotz des noch frischen Frühjahrswetters bereits ein kurzärmliges Polohemd zur Jeans. Sandra war in mehrere Lagen blassblauen Leinens gehüllt. Kritisch fixierte sie den Löffel Quarkcreme auf ihrem Löffel.

»Da geht es um Täterprofile. Darum, warum und wie ein Täter arbeitet«, sinnierte Leo weiter vor sich hin, während er an seiner Schinkensemmel kaute.

»Das reicht nicht, du musst alle verfügbaren Merkmale mit einer Datenbank abgleichen. Aber ich glaube, der ist einfach zu geizig, um sich selbst Waschmittel zu kaufen.« Sandra zeigte mit ihrem Löffel zuerst auf Leo, dann wandte sie sich mit einem Lächeln zu Sascha.

Der runzelte die Stirn. Sprachen die beiden gerade miteinander?

»Das ist alles sehr theoretisch«, sagte er zu Leo. Zu Sandra gewandt meinte er:

»Häng halt eine Überwachungskamera in euren Waschraum. Wie viele Parteien benutzen denn den Keller?«

»Acht Wohnungen im Haus, eine allerdings, Frau Rietzschel, hat eine Waschmaschine in der Wohnung, die fällt raus. Also sechs Verdächtige.«

»So eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Spezialisten könnte mir schon sehr viel Spaß machen. Da bekommt man ja auch eine Menge Einblick in andere Wissensgebiete.« Leo begann, sich mit dem Gedanken anzufreunden.

Sascha versuchte, sich in das Gespräch einzuklinken:

»Stell dem Waschmitteldieb doch eine Falle.«

Sandra nickte. »Ja, du hast Recht. Da arbeiten immer auch Externe mit im Team, Biologen, Psychologen, Mediziner und so.« Sie zerteilte den Kuchen auf ihrem Teller, als würde sie etwas Bestimmtes suchen.

»Ich glaube, das ist unheimlich anstrengend, was die da in der Gruppe machen«, warf Sascha ein. Jetzt ging es wohl wieder um den Lehrgang. Nach einer zusätzlichen Fortbildung stand ihm der Sinn so gar nicht.

»Nee, Sascha, das geht ganz einfach. Man könnte die Verpackung mit Silbernitrat markieren, dann brauchst du dir später nur die Hände der Mitbewohner anzusehen. An der Luft reagiert die Chemikalie und verfärbt die Haut für mehrere Tage. Das macht man zum Beispiel, wenn immer wieder Geld aus Kassen geklaut wird.« Leo hatte sein Rührei verdrückt und sich im zufriedenen Zurücklehnen an Sascha gewandt.

Der sah ihn verwirrt an. Wovon redete er jetzt? Sandra mischte sich wieder ins Gespräch.

»Da gibt es auch eine Methode, die Proaktive Strategie genannt wird. Das fände ich spannend. Zu überlegen, wie man den Täter aktiv beeinflussen kann.«

»Ja, stimmt, das habe ich auch noch im Kopf. Theoretisch zumindest.« Leo nickte. »Es geht da um den Einsatz der richtigen Informationen, die man durchsickern lässt. Aber zuvor muss man natürlich ein Täterprofil haben.«

»Was eine sehr genaue Analyse der Umstände und einen Datenabgleich erfordert«, bestätigte Sandra.

»Na, dann stell doch ein Schild auf«, schlug Sascha vor.

»Ein Schild?« Sandra und Leo sahen ihren Kollegen mit gerunzelter Stirn an.

»Wie kommst du jetzt auf ein Schild?«

»Na, um ihn zu provozieren.«

Leo schüttelte den Kopf.

»Nein, normalerweise macht man das über die Medien. Tageszeitung, Fernsehen, eventuell auch Internet, also soziale Medien.«

»Um einen Waschmitteldieb zu erwischen?« Sascha tippte sich an die Stirn. »Du hast ja einen Knall! Das wäre wohl völlig überreagiert.«

Sandra schluckte den letzten Bissen herunter.

»Wer redet denn von Waschmittel? Wir reden hier von Sexual- und Tötungsdelikten.«

Sascha seufzte.

Marta war zwar erstaunt, als sie am Sonntagmorgen die Tür zum »Zeughaus« im Großen Zschand selbst aufschließen musste. Aber warum sollte sich zur Abwechslung nicht auch mal Elena verspäten? Sie öffnete die Fensterläden, sperrte die Tür zur Gaststube auf und lüftete. Die Lieferung der Lebensmittel stand schon am Hintereingang. Wie jeden Morgen zog sie die rosa Schürze über und bändigte ihr halblanges, braunes Haar mit einem rosa Stirnband. Die Speisekarte für heute stand fest, sie begann, sich in der Küche einzurichten und das Gemüse vorzubereiten. Als Elena nach einer halben Stunde immer noch nicht aufgetaucht war, rief sie sie auf ihrem Mobiltelefon an.

Keine Antwort. Marta zuckte ratlos mit den Schultern. Das sah Elena eigentlich nicht ähnlich. Seit Anfang April teilte sie sich mit ihr eine Wohnung in Bad Schandau, und seit dem Beginn der Saison arbeiteten sie auch zusammen im Gasthaus »Altes Zeughaus«. Für Elena war es die dritte Saison, für Marta die erste. Ohne ihre Kollegin fühlte sich Marta verloren. Elena war zwei Jahre älter als sie, sprach besser Deutsch und war im Umgang mit den Gästen viel gewandter. Sie selbst versteckte sich lieber hinter ihren Kochtöpfen in der Küche, wo sie nicht mit Fremden sprechen musste. Deshalb klappte es auch so gut mit ihnen beiden. Elena bediente und übernahm das Sprechen, Marta kochte und blieb im Hintergrund. Nach dem Dienst teilten sie sich schwesterlich das Trinkgeld und verbrachten gemütliche Abende vor dem Fernseher oder schwatzend in ihrer WG-Küche. Allerdings wurden diese Abende seltener, seit Marta den Deutschkurs in Sebnitz belegt und dort Franjo kennengelernt hatte.

Marta wurde nervös, plötzlich konnte sie in der Küche nichts mehr mit sich anfangen. Was, wenn Elena gar nicht kam? Ungeschickt stieß sie die Essigflasche um. Die Flasche zerplatzte auf dem Küchenboden und füllte den Raum mit beißendem Geruch. Marta fluchte und machte sich daran, die Scherben zusammenzufegen, zu lüften und den Boden zu wischen. Als sie fertig war, war Elena immer noch nicht aufgetaucht. Sie rief Franjo an, aber der ging nicht ans Telefon.

Marta machte sich nützlich, deckte die Tische im Gastraum ein, wie Elena das sonst tat, warf die Kaffeemaschine an und stellte den Kuchen aus der Kühlung in die Vitrine. Als es zehn Uhr wurde, hielt sie es nicht mehr aus. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks hatte sie alle fünf Minuten Elenas Nummer gewählt, aber immer wieder nur die Mailbox erreicht. Unsicher rief sie ihren Chef an und berichtete in ihrem gebrochenen Deutsch, dass Elena nicht zum Dienst erschienen sei. Peter Hacker versprach ihr, so schnell es ging, eine Ersatzkraft zu schicken. Draußen schien die Sonne, und ständig marschierten Wanderfreudige am »Zeughaus« vorbei. Marta bekam feuchte Hände, wenn sie nur daran dachte, dass sie nun allein für das Bewirten der Gäste zuständig sein sollte. »Hoffentlich bald kommen Ersatz für Elena«, stammelte sie und überlegte ernsthaft, ob sie nicht lieber ein »Geschlossen«-Schild an die Eingangstür des kleinen Gasthauses hängen sollte. Die Sonne schien mild vom blauen Himmel, der Tag war wie gemacht für eine Wanderung in der Sächsischen Schweiz und den Weg in den Hinteren Zschand, zum Winterberg und zum Großen Teichstein, zur Hickelhöhle oder zu den Bärenfangwänden. Hektisch bereitete Marta die Küche für den Mittagsansturm vor, gleichzeitig wollte sie sich am liebsten aus dem Staub machen. Denn allein und mit ihrem schlechten Deutsch konnte sie das unmöglich bewältigen. Was war bloß los mit Elena?

Es musste, so dachte sie bei sich, irgendwas mit Elenas Sohn Marcin zu tun haben. Sie konnte sich nicht vorstellen, weshalb Elena sonst nicht zur Arbeit kommen und sie alleinlassen sollte. Am liebsten wäre sie nach Bad Schandau in ihre gemeinsame Wohnung gefahren. Vielleicht lag sie da ja auch und hatte sich ein Bein gebrochen oder war ohnmächtig geworden? Doch Marta war klar, dass sie jetzt nicht auch noch die Stellung verlassen konnte. Sie war genau wie Elena heilfroh über diese Arbeit. Also setzte sie die Mittagssuppe auf und bereitete die Salate vor.

Um elf Uhr kam der vom Chef versprochene Ersatz. Jennifer Korte war nicht gerade bester Laune, schließlich hätte sie heute ihren ersten freien Sonntag seit vier Wochen gehabt. Aber sie war ein Gastronomie-Profi und Peter Hackers Geheimwaffe, die er bedenkenlos in all seinen Restaurantbetrieben einsetzen konnte. Binnen Sekunden erfasste sie die Situation im »Zeughaus« und übernahm sofort das Kommando: »Tischdecken auf die Terrassen-Tische, Tafel mit dem Tagesangebot vor die Eingangstür!«, kommandierte sie. Marta war erleichtert und froh, dass ihr die Verantwortung abgenommen wurde und spurtete hinaus. Schon kurze Zeit später setzten sich die ersten Ausflügler zum Mittagessen und sie hatte alle Hände voll zu tun, die bestellten Speisen auf die Teller zu befördern. Jenni übernahm souverän Elenas Posten und niemand von den Gästen, die sich auf der Terrasse den griechischen Schafskäse mit Salat oder die Krautwickel schmecken ließen, ahnte, dass es von Elena immer noch kein Lebenszeichen gab.

Dr. Barthel war müde. Sie hatte Nachtdienst gehabt und wollte eigentlich nur noch unter die Dusche und ins Bett. Aber nun noch dieser unangenehme Anruf bei der Polizei. Sie wählte die Nummer der Dresdner Polizeidienststelle und informierte die Beamten über den Todesfall.

»Eine junge Frau, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Wir haben keine Papiere, keinen Namen, keine Angehörigen. Sie wurde gestern um Mitternacht per Notarzt gebracht, aber wir konnten sie nicht retten, die innere Blutung war schon zu weit fortgeschritten.«

Was sie befürchtet hatte, trat ein: Der Polizeibeamte bat sie, auf die dafür zuständigen Beamten von der Kriminalpolizei in Dresden zu warten. Das könne ein wenig dauern.

Also keine Dusche. Aber sie würde sich trotzdem aufs Ohr legen. Dr. Viola Barthel bat die zuständige Krankenschwester, sie zu wecken, wenn die Kriminalpolizisten im Hause wären, und zog sich auf die schmale Liege im Aufenthaltsraum zurück.

Am Sonntagnachmittag streunte Katie wie eine Katze durch die Hinterhöfe der Dresdner Neustadt. Jeder Innenhof war ein neues Schatzkästchen, das es zu erkunden galt. Sie bewunderte handgefilzte Eierwärmer, Kleider mit merkwürdigen Schnitten und bunte Töpferwaren und drückte sich die Nase an den Schaufenstern der vielen Schmuckateliers und Designerstudios platt. Glücklicherweise waren die Läden alle geschlossen, das schonte ihren Geldbeutel. In einem stillen Innenhof mit reichlich Graffiti an den Wänden stand sie schließlich vor einem Geschäft, das im Schaufenster lediglich eine kleine Zeichnung ausstellte. »Raffael Gottlöber. Zeichner und Restaurator« stand in modernen Lettern an der Glastür. Als sie sich schon umwenden und den Innenhof verlassen wollte, erschien ein Mann im Laden und öffnete die Tür, um frische Luft hineinzulassen. Neugierig kehrte Katie um. »Hey, Sie können nicht aufmachen, heute ist doch Sonntag in Germany«, rief sie ihm schnippisch zu.

Der Mann schaute sie interessiert an und lächelte. »Ich hoffe doch, Sie verraten mich nicht an die CIA?«

Katie ärgere sich ein wenig, weil er sie an ihrem Akzent sofort als Amerikanerin erkannt hatte, aber es gab Schlimmeres. Es war nett, mal wieder mit jemandem zu plaudern.

»Hi, ich bin Katie. Sie verkaufen Bilder?«

Der Mann nickte. Er stellte sich als Raffael vor. Den Namen fand Katie sehr deutsch, sie konnte ihn kaum aussprechen. Er wirkte ein wenig heruntergekommen, nicht ganz so geschniegelt und gebügelt wie die meisten Deutschen, die sie herumlaufen sah. Seine Haare waren strähnig und etwas zu lang, sein Gesicht unrasiert und an der Augenbraue hatte er eine Schramme. Trotzdem fand sie ihn sympathisch. Seine Augen waren wach, wirkten jedoch ein wenig gehetzt.

»Auch. Ich zeichne, aber ich restauriere vor allem alte Gemälde. Sie haben nicht – wie alle Touristen – eines im Gepäck, das mal dringend gereinigt werden müsste?« Er hatte das als Scherz dahingesagt und Katie schüttelte lachend den Kopf.

»Ihr Deutsch ist großartig«, lobte er sie. Katie freute sich sehr darüber. Alle anderen machten den Eindruck, es sei selbstverständlich, dass sie Deutsch sprach.

Sie erzählte ihm, dass sie aus Minneapolis komme und Deutschland auf den Spuren ihres Großonkels Jakob bereise. Der Mann schickte sie sofort in den Zwinger, in die Gemäldegalerie Alte Meister. »Das müssen Sie sich ansehen, so was bekommen Sie sonst nirgendwo auf der Welt zu sehen«, versprach er ihr.

Nach dem kleinen Geplänkel machte er deutliche Anstalten, sich zu verabschieden und wieder in seinem Laden zu verschwinden, als Katie das Bild ihres Großonkels einfiel. Bisher hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, was sie mit Onkel Jakobs Bild anstellen würde. Aber bei der Vorstellung, dass sie dieses Ungetüm ab sofort mitschleppen sollte, wurde ihr ganz anders. Wenn sie es bei dem Restaurator lassen könnte, wäre es für ein paar Tage sicher untergebracht und eine Reinigung hatte es absolut nötig. So würde sie ihrer Mutter zuhause als ganz besonderes Souvenir ein picobello Gemälde präsentieren können.

 

Als Gottlöber schon mit einer eleganten Handbewegung die Schlüssel von innen ins Schloss der Ladentür steckte, machte sie auf dem Absatz kehrt und rief: »Stopp, Raffael, du wirst es nicht glauben, aber ich habe ein Bild!«

»Was?« Gottlöber machte die Tür wieder auf und trat davor. »Was hast du?«

Katie sprudelte hervor: »Morgen gehe ich nach Meißen, Jugendherberge. Da kann ich das Bild nicht gut mitnehmen. Also, kannst du es reinigen und aufbewahren, bis ich bin wieder zurück?«

»Ja, also, klar, kann ich …« Gottlöber war zögerlich, aber Katie sah darüber hinweg.

»Warte, ich brauche zehn Minuten, dann komme ich mit Bild«, rief sie ihm zu, drehte eine Pirouette und sprintete aus dem Innenhof.

Sie rannte bis zum Albertplatz, von dort aus orientierte sie sich zum Hotel, wo sie schwer atmend ankam. Bevor es sich der Mann anders überlegte, musste sie ihm das Bild von Onkel Jakob in die Hand drücken, das war ihr klar. Die Gelegenheit war einfach zu günstig. Andernfalls müsste sie das große Ding mit nach Meißen schleppen und hätte neben ihrem Rucksack, der Gitarre und dem Beutel noch auf ein viertes unhandliches Gepäckstück zu achten. Sie packte das Bild und schaffte es tatsächlich, nach zwanzig Minuten wieder vor Raffael Gottlöbers Werkstatt zu stehen. Die Tür war verschlossen, und Katie ließ enttäuscht die Schultern sinken, aber auf ihr Klopfen hin erschien er im Laden und machte ihr auf.

Katie drängte sich an ihm vorbei und legte ihr Paket mit großer Geste auf den Tisch: »Das hat mein Großonkel Jakob gemalt, so um 1938. Ist es nicht fantastisch?« Sie öffnete das Packpapier und ließ Gottlöber schauen. Der zuckte sichtlich zurück und machte »Oh«.

Katie lächelte ihn an. »Es ist ganz besonders, nicht wahr?« Sie hatte jedenfalls noch nie zuvor so ein Bild gesehen und fand es wunderschön.

»Besonders … Das trifft es ganz gut.« Gottlöber nahm das Bild aus dem Papier und betrachtete es im Licht. »Man muss es reinigen und dann sehen, wo eventuell Schäden sind. Sagen wir: dreihundert Euro?«

Katie schluckte. Das war mehr als sie erwartet hatte. »So viel?«, fragte sie und machte dazu das Gesicht, das früher immer geholfen hatte, wenn sie etwas von Onkel Jakob oder ihrer Mutter gewollt hatte.

Auch Gottlöber konnte diesen flehentlichen Blick nicht lange aushalten. »Also gut, zweihundert Euro. Am Freitag kannst du es abholen. Einen Hunderter als Vorschuss!« Er streckte ihr fordernd die Hand hin, aber sie umarmte ihn begeistert. Sie war zufrieden mit sich.

Onkel Jakobs Kunstwerk würde jetzt von einem deutschen Restaurator zu vollem Glanz verholfen werden. Das hatte er sich wirklich verdient. Auf einem Quittungsblock mit Eselsohren füllte ihr Gottlöber ein Formular aus, in das er ihren Namen »Hoffstetter« und das Datum eintrug. Sie gab ihm einhundert Euro als Anzahlung und stopfte den Zettel in die Tasche ihrer Jeans. Erleichtert verließ sie den Laden und beschloss, seiner Empfehlung zu folgen und die Galerie Alte Meister zu besuchen.

Raffael Gottlöber war belustigt. Das Bild dieses amerikanischen Mädchens war so kitschig, dass er es kaum in Worte fassen konnte. Ein röhrender, großer Hirsch reckte seinen Kopf vor einem großen Felsmassiv der typischen Art, wie sie in der Sächsischen Schweiz zuhauf herumstanden. Daneben ein paar Fichten, oben drüber ein bewölkter Himmel. Gottlöber schüttelte sich. Dabei war die Kleine eigentlich ganz sympathisch gewesen, nicht umwerfend hübsch, aber nett und aufgeweckt. Sie hatte das typisch breite Lächeln amerikanischer Mädchen, trug zu enge Jeans für ihre eher pummelige Figur und ihr Haar in einem schmucklosen Pferdeschwanz zusammengefasst. Aber sie war lustig gewesen und sprunghaft wie Quecksilber. Wahrscheinlich hätte man sie auf jede Party mitbringen können und in Windeseile hätte sie im Mittelpunkt gestanden, amerikanische Popsongs geträllert und für Stimmung gesorgt. Vielleicht würde er sie fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte, sobald sie das Bild wieder abholte. Er würde nicht viel Zeit damit verschwenden. Es reichte, die Oberfläche mit etwas Alkohol zu reinigen, vielleicht müsste er auch den Firnis über der Ölfarbe entfernen und einen neuen aufziehen. Mehr als drei Stunden Arbeit würde er keinesfalls investieren. Er schlug das Bild wieder in das Packpapier ein und stellte es in seinen Materialschrank. Diesen Schinken sollte keiner sehen, der einen Blick in sein Geschäft warf.

Gottlöber drehte den Hundert-Euro-Schein in seiner Hand. Gestern Abend hatte er gewonnen. Versonnen ließ er seine Hand über den leeren Tisch in seinem Hinterzimmer streichen. Sein Computer fehlte ihm sehr und nur allzu gern hätte er einen neuen gekauft. Dafür brauchte er aber mehr Geld. Die einzige Chance, die er hatte, war zu spielen. Er nahm den Rest seines Geldes aus seinem neuen Versteck im Kühlschrank und begann, seine Hände geschmeidig zu kneten.

»Klinikum Pirna, Sie wenden sich an eine Frau Dr. Barthel. Das ist zwar eigentlich kein Fall für die Mordkommission, aber da wir momentan Luft haben, hat der Chef entschieden, dass unsere Abteilung sich drum kümmert. Sie sollen das übernehmen, Herr Reisinger.«

Leo hatte sich nach dem üppigen Frühstück gerade von seinen Kollegen getrennt, als ihn der Anruf von Frau Kerschensteiner, der Sekretärin seiner Abteilung, erreichte. Statt auf dem Elberadweg eine Tour Richtung Meißen zu unternehmen, radelte er also die wenigen Kilometer hinüber ins Polizeipräsidium in der Schießgasse. Dort ließ er sich die Unterlagen und den Autoschlüssel geben und machte sich auf den Weg nach Pirna.

In der weiten Eingangshalle des Klinikums war zum Sonntag wenig los. Vor ihm lieferte eine Mutter ihren übel mit dem Fahrrad gestürzten Sohn ein. Die Frau hinter dem Anmeldetresen nahm großen Anteil am Leid von Mutter und Kind, jedenfalls zog sie bei jedem Satz ihre mit dicken Balken nachgemalten Augenbrauen hoch. Hinter ihrer markanten schwarzen Brille wirkte das, als würde sie Morsezeichen senden. Als das Weinen des verletzten Jungen langsam im Flur zur Notaufnahme verebbte und sich die Dame hinter dem Schalter endlich ihm zuwandte, hatte sich Leo bereits an den Informationstafeln orientiert.

Dr. Viola Barthel war seit drei Jahren Internistin am Klinikum. Ihre Abteilung, das Internistische Zentrum, lag im ersten Stock des linken Flügels. Genau dahin schickte ihn auch die Dame vom Empfang. Zuvor hatten sich ihre Augenbrauen entspannt hinter das Brillengestell gesenkt. Er war kein Notfall.

Natürlich nahm Leo nicht den Lift, sondern tänzelte die Treppe hinauf. Auf der Station bat ihn eine Krankenschwester, einen Moment zu warten. Dr. Barthel stand die Müdigkeit der letzten Nacht noch ins Gesicht geschrieben, ihre Haut war blass und ihre Augen leicht gerötet. Trotzdem hatte Leo sie beängstigend hübsch gefunden, als sie nach fünf Minuten auf ihn zugekommen war und seinen Namen gesagt hatte. Dunkle lange Haare wie Schneewittchen, dazu ein Porzellan-Teint und blaue Augen. In einem Behandlungszimmer informierte sie ihn über den Todesfall der letzten Nacht.