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Buch lesen: «Quitt», Seite 8

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Fünfzehntes Kapitel

Vom Gerichtskretscham aus bis zum »Goldenen Frieden« war die Dorfstraße leer, und erst als Lehnert an dieser Stelle links einbiegen und auf dem mehrerwähnten Schlängelpfade nach dem tiefergelegenen Wolfshau hinunter wollte, sah er Frau Opitz auf eben diesem Schlängelpfade herankommen und trat seitab in den Schatten eines hier stehenden Schuppens, um nicht gesehen zu werden. Frau Opitz sah ihn auch wirklich nicht und schritt ihrerseits auf den Gerichtskretscham zu, wo sie, wie man ihr in Wolfshau gesagte hatte, den Toten finden würde. Jeder war erschüttert, als sie hier in den Saal trat und dem Toten das Haar aus der Stirn strich und ihn küßte, und wenn sich schon vorher ein Stimmungsumschlag zugunsten Opitz‘ gezeigt hatte, so vollends jetzt. Die Männer hielten wohl noch zurück, aber die verheirateten Frauen fuhren mit dem Schürzenzipfel nach dem Auge, wenn sie nicht geradezu schluchzten und weinten. Einige drängten sich an die nun Verwitwete heran und baten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, wobei sie hoffen mochten, noch was Besonderes zu hören, die gute Frau war aber entweder zu schwach oder wollte sich nicht von dem Toten trennen. Jedenfalls nahm sie, statt der Anerbietungen ihrer Wolfshauer Nachbarsleute, lieber das Anerbieten der Kretschamwirtin an und setzte sich zu dieser in die Küche. Das geschäftige Treiben hier tat ihr wohl und zerstreute sie, denn sie hatte den Hausfrauensinn, der sich auch in diesem Augenblicke nicht verleugnete.

Drinnen im Saale war mittlerweile das Bild ein anderes geworden. Es gab nichts mehr zu hören und zu sehen, und so verliefen sich die bloß aus Neugier Herzugeströmten, und nur die, die wegen des Protokolls pflichtmäßig zu bleiben hatten, blieben noch und suchten sich über einige fragliche Punkte zu einigen. Die Tat selbst lag klar vor. Aber die Frage »wer« blieb durchaus unentschieden und wurde durch Opitz‘ Aufzeichnungen, der auf einen »Böhmischen« geraten hatte, mehr verwirrt als aufgeklärt.

»Es war kein Böhmischer«, wiederholte Gerichtsmann Klose, der seinen ohnehin starken Verdacht gegen Lehnert durch das plötzliche Verschwinden desselben nur noch bestätigt sah; »es war kein Böhmischer, und wenn ich Bestimmung zu treffen hätte, so brächen wir in dieser Minute noch auf, um Lehnert Menz in Verhaft zu nehmen. Alles deutet auf ihn, auf ihn und keinen andern. Er hat Sonnabend sechs Uhr Wolfshau verlassen, ist das Gehänge hinaufgestiegen, und die Schulkinder haben ihn gesehen. Um acht Uhr muß er oben gewesen sein, um neun Uhr ist es geschehen, um zehn Uhr war er auf der Hampelbaude. Niemand anders ist im Wald oben betroffen worden. All das sagt genug. Zudem wissen wir, daß er noch von 1870 her einen Span mit Opitz hatte, sie gönnten sich nicht so viel wie unterm Nagel, und als vorhin alles, was draußen war, in den Saal drängte, hat er immer im Hintergrunde gestanden, statt mit in vorderster Reihe zu stehen, wie doch sonst wohl seine Art ist, und als das Notizbuch von mir vorgezeigt und sein Inhalt verlesen wurde, da hat er‘s nicht ertragen können und ist davongegangen. Das alles hat mir den Beweis gegeben. Und ich wiederhole, der, der diesen Mord auf seine Seele geladen hat, ist kein anderer wie Lehnert Menz.«

Die Mehrzahl stimmte zu. Nur der jüngere Gerichtsmann, der in einer Art Eifersucht gegen den alten Klose war, unterhielt allerlei Zweifel (oder gab es wenigstens vor) und gab diesen Zweifeln auch Ausdruck. Alles, was eben gesagt worden sei, sei, seiner Ansicht nach, viel zu schwach, um darauf hin eine Verhaftung vornehmen zu können. Es lasse sich schlechterdings nicht sagen, niemand anders sei oben im Gebirge gewesen, im Gegenteil, man wisse nie, wer oben gewesen und wer nicht. Lehnert Menz sei gescheit und umsichtig, und gerade, daß er auf der Hampelbaude vorgesprochen und genächtigt habe, das beweise sein gutes Gewissen. Auch daß er sich hier im Saal immer an der Tür gehalten und die Vorlesung der letzten Worte kaum abgewartet habe, spräche nicht so sehr gegen ihn, als es schiene, wohl aber spräche das für ihn, daß er der erste gewesen sei, der auf Hilfe gedrungen habe. Ja, rasche Hilfe, das sei das einzig Richtige gewesen, und er für seine Person beklage jetzt aufrichtig, daß man nicht gleich gestern abend diese Hilfe geleistet. »Mondschein war. Und vielleicht hätten wir ihn um Mitternacht noch am Leben gefunden.«

Auch diese Rede (was den alten Klose sichtlich verstimmte) wurde beifällig aufgenommen, und weil man sich, wie das so leicht geschieht, infolge dieser immer persönlicher werdenden Fehde nicht recht einigen konnte, stand man eben auf dem Punkt, die Frage nach der Täterschaft vorläufig wenigstens ganz fallenzulassen, als der Grenzaufseher und gleich nach ihm der junge Forstgehilfe, die man beide zu weiterer Nachforschung an Ort und Stelle zurückgelassen hatte, voll großer Aufregung eintraten. Sie waren erschöpft, denn es war immer schwüler geworden: trotzdem ließ sich unschwer von ihrer Stirn lesen, daß sie gute Botschaft brächten und ihr Suchen nach einem Anhaltspunkte nicht vergeblich gewesen sei.

»Nun, ihr Herren«, empfing sie der alte Klose mit der ihm eigenen Bonhomie. »Was bringt ihr? Aber erst einen Cognac, und dann euren Bericht! Eine Bärenhitze! Maywald, wir wollen Tür und Fenster aufmachen. So! Nun herangerückt! Und nun, ihr Herren, was gibt es?«

Der Grenzaufseher, welcher der ältere war, nahm zunächst das Wort und erzählte mit vieler Anschaulichkeit, wie sie, nach Ausmessen der Fußspuren (denn was anderes habe sich nicht finden lassen wollen), nahe daran gewesen wären, unverrichtetersache wieder umzukehren, als sein Kamerad, und hierbei wies er auf den jungen Forstgehilfen, eines angebrannten Papierstückchens ansichtig geworden wäre, das an der abgestochenen schmalen Lehmwand des Weges geklebt hätte. Dies Papierstückchen sei, wie sie gleich vermutet, ein Schußpfropfen gewesen, was sie denn bestimmt habe, dasselbe sorglich auseinanderzufalten und zu glätten. Hier sei es und könne vielleicht zur Entdeckung des Täters führen; denn wie leicht zu sehen, sei es kein gewöhnliches Stück Zeitungspapier, sondern ein Stück von einem alten Kalender, und der Monat sei noch halb und die Jahreszahl 1816 noch ganz deutlich zu lesen. Er glaube, daß das wichtig sei; denn in demselben Hause, drin man einen alten Kalender von 1816 finden werde, werde man mutmaßlich auch den Mörder finden.

Alles war unter diesem Bericht des Grenzaufsehers in Aufregung geraten, weil jeder fühlte, daß die nächste Stunde schon das Geheimnis aufklären müsse. Natürlich war eine Haussuchung nötig, und zur Frage stand nur noch das eine, bei wem damit begonnen werden solle.

»Bei wem anfangen?« fragte der Alte.

»Bei Lehnert Menz«, antwortete der Forstgehilfe.

»Gut. Und wann?«

»In dieser Minute noch. Denn er hat viel Freundschaft hierherum, und erfährt er, was wir vorhaben, oder wohl gar, wonach wir suchen, so wandert der Kalender in den Ofen oder er selber in die Welt. Er hat es schon lange vor.«

Alle waren einverstanden. Nur einige wenige blieben im Kretscham zurück, der Rest aber erhob sieh und ging auf Wolfshau zu.

Bei der großen Hitze, die herrschte, zog man es vor, die ganz in greller Sonne liegende Chaussee zu vermeiden und lieber, von dem hochgelegenen Kretscham aus, gleich nach links hin bergab zu steigen, um hier, im Schatten der Berglehne, den Weg an der Kühlung gebenden Lomnitz hin zurückzulegen. Unterwegs wurden einige wieder unsicher, und Zweifel ließen sich hören, die, wenn sie nicht geradezu von dem jungen Gerichtsmann ausgingen, so doch wenigstens durch eben diesen genährt wurden. Ein halb verbrannter Papierpfropfen sei gefunden worden, soviel stehe fest, aber dieser Pfropfen brauche keineswegs aus dem Gewehre des Wilddiebs zu stammen. Auch Opitz habe geschossen, wenn nicht im Kampf (worüber sich vielleicht streiten lasse), so doch jedenfalls ein paar Not- und Signalschüsse, was aus seinen eigenen Aufzeichnungen hervorgehe. Solcher Äußerungen wurden in der Arrieregarde mehrere laut, aber an der Spitze der Kolonne, wo neben Klose der aus Erdmannsdorf herbeigekommene Gendarm Brey marschierte, hielt man an der einmal gefaßten Meinung fest und war nur einigermaßen überrascht, als man, im Näherkommen an das Inselchen und seine Stellmacherei, Lehnert Menz, in der Tür stehend, gewahr wurde, damit beschäftigt, ein paar überhängende Rosenzweige mit Bast wieder zurück an den Stamm zu binden.

So wenigstens schien es. Er stand abgewandt und sah sich bei seiner Arbeit erst um, als er den Tritt der Herankommenden auf der kleinen Bohlenbrücke hörte. Daß er zusammenfuhr und sich verfärbte, sah niemand. Rasch entschlossen ging er dem Trupp bis an den Brückensteg entgegen und begrüßte den alten Gerichtsmann.

»Ich weiß, Gerichtsmann Klose, weshalb Sie kommen.« Dabei zog er den Hut und trat respektvoll beiseite. Der Angeredete lächelte.

»Nun gut, Lehnert, wenn Ihr wißt, weshalb wir kommen, so werdet Ihr auch nicht erstaunt sein, wenn wir vorsichtig sind und Eure kleine Festung absperren und die Brückenstege besetzen. Ich will Euch und uns wünschen, daß sich schließlich alles ›als nicht nötig gewesen‹ herausstellen möge. Vorläufig aber muß ich Euch bitten, voranzugehen und dafür zu sorgen, daß wir Euch im Auge behalten. Im übrigen sollt Ihr, vorderhand wenigstens, persönlich unbehelligt bleiben, denn es handelt sich in diesem Augenblicke nicht um Eure Person, sondern um eine Sache. Wir sind nämlich hier, um Euer Haus nach einem falschen Bart zu durchsuchen.«

Der alte Klose sagte das so hin, um den unter Verdacht Stehenden auf eine falsche Fährte zu führen und dadurch wie sicher zu machen, was auch glückte. Lehnert, voranschreitend, stieg die Steintreppe hinan, während der Gerichtsmann und der junge Forstgehilfe folgten. Gendarm Brey aber postierte sich vor der Fronttür und überwachte von dieser seiner Hochstellung aus die durch den anderen Trupp erfolgende Besetzung der beiden Brückenstege. Flucht war unmöglich.

In der Stube begann inzwischen ein Wehklagen und Geschrei. Die alte Menz warf sich dem Gerichtsmann zu Füßen, küßte dem jungen Forstgehilfen die Hand und schwor und jammerte, daß sie unschuldig sei und von nichts wisse und daß Lehnert auch unschuldig sei und ein frommes Gemüt habe, was ja der liebe Pastor Siebenhaar bestätigen könne, der ihn auf die Freischule geschickt, weil er immer die Sprüche so gut gelernt und immer neben der Orgel gestanden und am besten gesungen habe. Ja, so sei das Lehnertchen immer gewesen, ein frommes Gemüt und kränke keinen und keine Fliege nich an der Wand. Und was die Leute gesagt hätten und was auch Opitz gesagt habe (Gott hab ihn selig, denn er war ein engelsguter Mann, und nun gar erst die Frau, die gab all und jedem), das sei nicht wahr und alles bloß gelogen, weil es soviel schlechte Menschen gäbe, die einem nichts gönnten, und sie seien unschuldig. Und wenn sie vor Gottes Thron stünde und sie solle es anders sagen, so könne sie nicht anders sagen, als daß sie unschuldig seien und Lehnert auch, denn er sei immer ein frommes Kind gewesen, und Siebenhaar unten in Arnsdorf …

In diesem Augenblicke wurde der junge Forstgehilfe, während die Hände der Frau Menz die Knie des alten Klose nach wie vor umklammert hielten, einiger an einem Bindfadenreste hängender Kalenderblätter gewahr und machte Miene, darauf zuzuschreiten. Lehnert, der mit klugem Auge jeder Bewegung gefolgt war, wußte, daß man ihn jetzt in Händen habe.

»Laß doch, Mutter!« rief er dieser in erkünsteltem Zorne zu, während er die Kniende vom Boden aufriss, »was erniedrigst du dich? Ich will das nicht. Ich kann das nicht mit ansehn.«

Und die kleine Frau heftig schüttelnd, schob er sie, nur um dem Geplärr und Gewimmer ein Ende zu machen (so wenigstens schien es), auf die Tür und den Flur zu.

Der mittlerweile ganz an seine Fährte gebannte Forstgehilfe war, ohne für das, was sonst in der Stube vorging, einen Blick zu haben, an die vergilbten Blätter herangetreten und hob sie samt dem Faden, daran sie hingen, vom Nagel. Und schon das erste, worauf sein Auge fiel, war das, wonach er suchte.

»Wir haben ihn!« Und triumphierenden Auges an den alten Gerichtsmann herantretend, wies er auf die Jahreszahl oben rechts in der Ecke. »Wir haben ihn!«

Und unter diesen Worten eilte man nach dem Flur hinaus, um Lehnert, dessen Schuld nun klar war, in Verhaft zu nehmen. Aber wo war er? Die Alte lag draußen, in wirklicher oder erheuchelter Ohnmacht, jedenfalls unfähig oder unwillig, auf die stürmisch an sie sich richtenden Fragen Antwort zu geben. Wo war er?

Die Brückenstege waren nach wie vor dicht besetzt, so mußt er denn, wenn nicht ein Wunder geschehen, im Hause selbst irgendwo verborgen sein. Und bis unter das Dach hin wurde nun jeder Winkel und Verschlag untersucht und die Suche bis in Schuppen und Milchkeller fortgesetzt. Man durchwühlte das Heu, die Hobelspäne, selbst in den Rauchfang stieg man hinauf und wurde nicht müde, das Oberste zuunterst zu kehren. Alles umsonst. Die Alte wußte nichts. Er war fort.

Sechzehntes Kapitel

Am Tage nach Lehnerts Verschwinden, über das nicht nur die Krummhübler, sondern auch ihre Sommergäste sich des breiteren unterhielten, saßen auch Rechnungsrat Espes wieder an ihrem Exnerschen Stammtisch. Die schöne Frau hatte sich, was seihst Espe nicht entging, unter dem mehrwöchentlichen Einfluß der Gebirgsluft wo möglich noch verschönt; ihr gegenüber saß aber nicht mehr Lieutenant Kowalski – dieser war vielmehr abgereist, um den Rest seines Urlaubs auf der Hohen Tatra zu verbringen —, sondern Assessor Doktor Unverdorben, ein feiner, kluger Herr, der seine Klugheit neben anderm auch darin zeigte, daß er eine gegen ihn gerichtete Laune der Natur – er war nämlich ein Kakerlak – sich dienstbar gemacht und das, was ihn ridikülisieren sollte, recht eigentlich zum Schemel seiner Macht erhoben hatte. Schon als Knabe gehänselt und immer nur das »weiße Kaninchen« genannt, war er auf den Einfall gekommen, sich durch Übertrumpfung zu helfen, wozu die Sommerferien in besonders heißen Jahren ihm mehr als einmal eine günstige Gelegenheit geboten hatten. Auch in diesem Jahre erschien er wieder ausschließlich in weißem Pique, Rock, Beinkleid und Weste, samt weißem Strohhut und beschränkte sich im übrigen in seinem gesamten Anzuge, seine Lackstiefel abgerechnet, auf zwei schmale schwarze Streifen, von denen der eine als Schlips, der andere als Monokelband figurierte. Diese seine Kühnheit verhalf ihm, wie allerorten, so natürlich auch in Krummhübel, zu einem vollständigen Triumphe, den allerdings, wie nicht geleugnet werden soll, umgehende Gerüchte von seiner günstigen Vermögenslage nicht unerheblich steigerten, Gerüchte, die, zwischen hunderttausend und dreihunderttausend schwankend, selbstverständlich auf letzter Zahl festgesetzt und ebenso prompt aus Mark in Taler erhoben wurden.

Seine Bekanntschaft mit den Espes war jetzt genau zwei Wochen alt und hatte sich, gleich nach Kowalskis Abreise, ganz natürlich gemacht. Espes waren auf der Annakapelle gewesen, um dort Forellen zu essen, bei welcher Gelegenheit Selma ihr rot und schwarz kariertes Plaid – das sie (bei dreizehn Jahren etwas vorzeitig) als eine mit einem Riemen festgeschnallte Außentournure trug – verloren hatte. Seitens des bald nach den Espes auf der Annakapelle erscheinenden und daselbst seinen Nachmittagskaffee nehmenden Assessors war unschwer in Erfahrung gebracht worden, wem das Verlorengegangene gehöre (waren doch »Rechnungsrats« so gut wie Stammgäste dort oben), und am nächsten Vormittage schon war, in weiterer natürlicher Entwicklung der Dinge, das Plaid in der Espeschen Wohnung abgegeben worden, zugleich mit einer großen goldgeränderten Karte, darauf Stand und Name lautete:

Dr. Sophus Unverdorben

Kammergerichtsassessor und Lieutenant der Reserve

im 2. Garde-Grenadier-Regiment Kaiser Franz.

Berlin W. Lützow-Ufer 7 a.

Wie sich denken läßt, wurde das Wiedereintreffen des von dem etwas rätselhaften »Onkel« herrührenden rot und schwarz karierten Plaids – der Onkel beschenkte seine Nichten regelmäßig zu Weihnachten und Kaisers Geburtstag – von der ganzen rechnungsrätlichen Familie mit aufrichtiger Freude begrüßt, aber soweit Espe persönlich in Betracht kam, verschwand diese Freude doch neben einem sozusagen auf staatlicher Grundlage ruhenden Wohlgefühl, womit der Anblick einer so korrekt abgefaßten Karte den Rechnungsrat erfüllt hatte.

»Seht, Kinder, so muß dergleichen aussehen«, waren seine mehr als einmal wiederholten Worte, während die Rätin ihrerseits sich ausschließlich mit Feststellung der Personalfrage beschäftigte. Wer war dieser Assessor Unverdorben? Alle, die beim Abstieg von der Annakapelle ihnen begegnet waren, wurden durchgenommen, und für Geraldine stand es alsbald fest, daß es der distinguierte Herr mit dem aufgesetzten Schnurrbart und dem schwarzen, etwas gekräuselten Haar gewesen sein müsse, der so verbindlich gegrüßt und sie, so flüchtig die Begegnung auch gewesen sei, doch ganz eminent an Hendrichs erinnert habe. Die Rätin führte dann diese Lieblingserinnerung, die sich, wie selbst Selma schon wußte, bei jeder mit einem brünetten Herrn gehabten Begegnung unweigerlich wiederholte, des weiteren aus und schloß damit, daß Espe die Pflicht habe, den Assessor behufs Dankeserstattung aufzusuchen, und zwar heute noch, denn es gäbe jetzt so viele, die bloß Passanten wären und nur einen Tag blieben. Espe schien anfänglich das Rangverhältnis zwischen Rechnungsrat und Assessor abwägen und danach langsam und mit einer sich und seiner Stellung schuldigen Reserve seine Entscheidung treffen zu wollen, gab aber schließlich doch nach und versprach, am Nachmittag um die fünfte Stunde nach dem Assessor fragen und, wenn er noch da sei, sofort seine Visite bei demselben machen zu wollen.

Damit war die Rätin denn auch einverstanden, nicht ahnend, daß das Schicksal eine viel schnellere Lösung der Frage beschlossen hatte. Denn kaum daß die Mitglieder der Familie nach Zurücklegung des kurzen Weges vom Tannicht (wo sie wohnten) bis zum Exnerschen Gasthaus an dem ein für allemal für sie reservierten Ecktisch glücklich placiert waren, als auch schon ein Herr auf sie zuschritt, der sich, während er eben noch die Lachlust aller weiblichen Espes wachgerufen hatte, gleich danach als Assessor Unverdorben vorstellte. Die Verlegenheit konnte nicht wohl größer sein, und der einzige, der in dieser schwierigen Lage volle Contenance bewahrte, war Espe selbst. Er bat den Assessor, Platz nehmen zu wollen, und sprach in der ihm eigenen würdigen und gewählten Weise den Dank für soviel Liebenswürdigkeit aus, denn von der Annakapelle bis nach Krummhübel hinunter sei doch ein ziemlich weiter Weg, und die ganze Zeit über ein rotes Plaid zu tragen oder doch wenigstens ein Plaid mit eingemusterten roten Karos …

Er stockte hier und brach ab, weil er plötzlich fühlen mochte, daß ihm das ewige und noch dazu ganz nutzlose Hervorheben des Rot und wieder Rot als etwas politisch Absichtliches gedeutet werden könne. Dies war ihm aber fatal, denn Espe war ein korrekter Mann und sehr ängstlich dazu.

Die Rätin ihrerseits hatte, während dieses Gespräch andauerte, sowohl Lachen wie Verlegenheit überwunden, was nicht wundernehmen durfte, weil sie mittlerweile Zeit gefunden hatte, das, was den Assessor in allem übrigen auszeichnete, sowohl zu bemerken wie zu würdigen. Und zwar lag dies ihn Auszeichnende nach einer ganz bestimmten und den meisten Menschen immer wieder imponierenden Seite hin, nach der Seite der tadellosesten weißen Wäsche. Beide, Rat und Rätin, hielten auch auf weiße Wäsche, sie von Sauberkeits, er von Ordnungs wegen, aber was waren ihre vereinten Anstrengungen auf diesem Gebiete neben einem Manne wie Unverdorben. Und neben dem allen her lief die Betrachtung: So ganz zweifelsohne, wie dieser Piquerock war, war er selber, und unwillkürlich wiederholte sich Geraldine den Inhalt seiner bis dahin nicht genug gewürdigten Visitenkarte, ganz besonders aber die Schlußzeile: »… im 2. Garde-Grenadier-Regiment Kaiser Franz.« Selbst die Kaninchenaugen hörten auf, ihr zu mißfallen, sahen sie doch mit einer merkwürdigen Mischung von Klugheit und Selbstbewußtsein und dazu mit einem Anfluge von Ironie in die Welt. Geraldine verstand sich aus zurückliegenden Tagen her auf feine Leute, und kein Zweifel, der Assessor gehörte dieser Gruppe zu.

Unverdorben blieb bei Gelegenheit dieser ersten Vorstellung nur etwa zehn Minuten, aber diese zehn Minuten hatten doch ausgereicht, ein vorzügliches Verhältnis herzustellen. Espe war einfach entzückt, die Rätin war es beinah, und selbst Selma versicherte, sie begriffe nicht, wie sie habe lachen können, eine Bemerkung, der sie, mit einer ihr kleidenden Wichtigkeit, hinzusetzte, sie würde sich von Stund an nicht genieren, unmittelbar an seiner Seite durch ganz Krummhübel zu gehen. Und wenn es sein müsse, durchs Leben.

»Selma, sprich nicht so!« bemerkte tadelnd Espe. »Das ist über deine Jahre.« Die Rätin aber sagte: »Espe, das verstehst du nicht! Selma hat ganz recht: sie hat sich, um eines Höheren willen, in ihrem ersten Gefühl überwinden gelernt, und darauf kommt es an. Formen entscheiden.«

Espe wiegte den Kopf, was ebenso Zustimmung wie Zweifel ausdrücken konnte.

Von jener ersten Begegnung an sahen sich Espes und Unverdorben täglich, wobei sich des letzteren Verhältnis zur Rätin immer intimer gestaltete, trotzdem er ihr, darüber war kein Zweifel, den auf der Hohen Tatra weilenden Kowalski nicht voll ersetzen konnte. Sie fühlte das namentlich an einem gewitterschwülen Tage, wo eine an sie gerichtete Hotelpostkarte mit aufgedruckter Landschaft (Tannen inmitten von Burgtrümmern) eintraf, darauf nichts stand als »Eljen Geraldine« und darunter in geschnörkelter altdeutscher Schrift: »Ein Fichtenbaum steht einsam …« Die Rätin liebte dergleichen Dunkelheiten, besonders wenn sie sich in poetischer Geheimsprache gaben, andererseits aber – und das sorgte für Balancierung dessen, was dem Assessor fehlen mochte – war sie zärtliche Mutter und als solche bei jenem Lebensabschnitt angelangt, wo die hinsterbende »große Passion«, ohne übrigens ganz zu schweigen, in der verklärten Gestalt einer umschauhaltenden Mutterliebe wieder aufzuwachen pflegt. Selma freilich war noch ein halbes Kind, aber was tat das? Es war ja keine Sache von heut auf morgen, und es verdroß Geraldinen ernstlich, ihren ewig rechnenden Espe bei Behandlung dieser Frage zu beharrlich den Kopf schütteln zu sehen.

Dies Kopfschütteln Espes indes, wie durchaus gesagt werden muß, galt nur dem vorzeitigen und überhasteten Schlachtplane seiner Frau, keineswegs dem, an den dieser Plan anknüpfte. Diesem, eben unserem Assessor, war Espe vielmehr mit Aufrichtigkeit zugeneigt, besonders nachdem sich ein paar kleine Unebenheiten, auf deren eine wenigstens an dieser Stelle hingewiesen werden mag, rasch wieder beglichen hatten. Unverdorben nämlich (so war die Sache gekommen), in dem sich von Zeit zu Zeit das ganze Selbstbewußtsein eines vom mündlichen Examen dispensierten Primus omnium mit dem größeren Hochgefühl eines Trienniums in Göttingen, Bonn und Heidelberg und dem selbstverständlich größten eines Garde-Reserve-Offiziers mischte, hatte sich in einem im übrigen rein akademisch und jedenfalls ganz unpersönlich geführten Gespräche zu der Bemerkung hinreißen lassen, daß der alte Blücher, all seiner Meriten unerachtet, eigentlich doch nur eine »subalterne Natur« gewesen sei, welchen Ausspruch der von dem großen Worte »subaltern« allemal höchst unangenehm berührte Espe mit vieler Geistesgegenwart, ja, wie zugestanden werden muß, sogar mit einer gewissen Würde dahin beantwortet hatte, daß er dem preußischen Staate viele »Subalternen« à la Blücher wünsche, demselben preußischen Staate, von dem es, beiläufig bemerkt, weltkundig sei, daß er zwar nicht die »großen Männer«, die fänden sich überall, wohl aber die Dorfschulmeister und ähnliche »subalterne Leute« vor anderen Staaten voraushabe. Denn worauf es allezeit ankomme, das seien die Fundamente, nicht aber die Krönung des Gebäudes – ein Ausdruck, bei dem die Rätin immer in ähnlicher Weise zusammenzuckte wie Espe bei dem Worte »subaltern«.

Dies kleine Rencontre. wenn man der Szene diesen Namen überhaupt geben durfte, hatte gleich in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft stattgefunden. Seitdem war längst wieder Friede geschlossen, und die Rätin, wenn sie mit Espe spätabends im Fenster ihrer kleinen Wohnung lag und, sentimental angeflogen, nach den Sternen hinaufsah und an die Hohe Tatra dachte, pflegte dann wohl zu sagen: »Ja, Lieutenant Kowalski. Denken muß ich seiner. Er war, wenn er aus den Redensarten heraus war, eigentlich gemütlicher und ungenierter als Unverdorben, ja fast könnte man sagen, zu gemütlich. Aber Unverdorben ist ihm doch sittlich überlegen und hat es nicht bloß in seinem Namen, wiewohl der Name auch viel bedeutet, sondern ist wirklich ein höchst anständiger Mann.«

Espe teilte diese Meinung vollkommen und erging sich in Lobsprüchen; das eigentlichste Bindeglied in dem freundschaftlichen Verkehr beider Parteien blieb aber doch Selma, die seitens des Assessors ganz als Kind und Backfisch und doch zugleich mit sichtlicher Vorliebe behandelt wurde, was die Rätin Mal auf Mal mit einem auf Espe gerichteten und nicht mißzuverstehenden Blick der Überlegenheit und Siegeszuversicht begleitete. »Du siehst, ich werde recht behalten.«

Solche Blicke waren auch heute, gleich zu Beginn der Mahlzeit, über den Tisch geflogen, denn man hatte, wie herkömmlich, gemeinschaftlich diniert, was man so in Sommerfrischen dinieren nennt, und eben erschien wieder die hübsche Marie mit dem großen Tablett, um die Kalbsbratenreste samt einigen übriggebliebenen Kartoffeln in der Schale abzuräumen, blauschalige, von denen der Rechnungsrat nicht mit Unrecht bemerkte, daß sie mehr durch ihre Farbe wie durch sonstige Vorzüge wirkten, als sich das seit Minuten um Opitz und seinen mutmaßlichen Mörder drehende Tischgespräch plötzlich unterbrochen sah, und zwar durch Selma und Frida, die mit dem Jubelrufe »Sie kommen« auf den Eßtisch zurückstürzten. Wer diese »sie« waren, wußte zunächst niemand zu sagen, aber im nächsten Augenblick gab ein seltsames Trommeln und Pfeifen jede wünschenswerte Aufklärung. Unter Vorantritt einer überaus zahlreichen Dorfschuljugend, in die sich, allen Residenzhochmut und alle Standesunterschiede vergessend, auch kleine Berlinerinnen mit Kiepenhüten und roten Jacketts gemischt hatten, erschien ein dunkeläugiger Italiener, zwei Bären hinter sich, von denen der eine mit seinem wie von Motten zerfressenen Pelz nur noch als Tummelplatz für zwei blaujackige Affen diente, während unmittelbar daneben ein großes wohlkonditioniertes Prachtexemplar, der unzweifelhafte Held der Kavalkade wie der ganzen Situation, einhertrottete. Zwischen den beiden Bären aber, und für die tanz- und musiklustige Jugend von annähernd gleichem Interesse, wurde man eines auf einem zweiräderigen Karren ruhenden mächtigen Leierkastens gewahr, neben dem eine phantastisch gekleidete schwarze Person einherschritt. Einen Augenblick schienen Selma und Frida von der Angst erfüllt, den Zug an dem Exnerschen Lokal, als einem zu vornehmen, vorüberziehen zu sehen, dieser Angst jedoch machte der Abruzzenmann ein rasches Ende, denn kaum war er bis in die Höhe des gerade lebhaft plätschernden Springbrunnens gekommen, als er auch schon anhielt und tambourmajorartig mit seiner Pickelflöte ein Zeichen gab, auf das hin der Musterbär sich erhob und, einen Stock über Hals und Rücken, seinen Tanz begann. Seine glänzende Leistung würde allein schon genügt haben, eine Welt von Entzücken wachzurufen, aber wer beschreibt den Jubel aller und ganz besonders der Espeschen Mädchen, als eben jetzt das mit allerlei roten Tüchern drapierte Zigeunerweib die Leierkastenkurbel zu drehen und dem Prachtbären – für den Trommel und Pfeife ganz augenscheinlich als nicht gut genug erachtet worden waren – zum weiteren Tanz aufzuspielen begann. Dazu kam noch, daß der Leierkasten selbst keine gewöhnliche Drehorgel, sondern ein höheres Kunstinstrument mit Janitscharenmusik war, dessen Becken und Pauke, ja selbst Trompete durch Strippeziehen und eine spinnradähnliche Tretvorrichtung in beständiger Aktion erhalten wurden. Und damit nicht genug, sprangen in eben diesem Augenblick auch noch die beiden Affen von ihrem Mottenpelzbären plötzlich auf den Exnerschen Staketenzaun, also mitten in die Krummhübler Zaungäste hinein, was, als diese laut aufschrien, das Entzücken aller derer noch steigerte, die, weil zurückstehend, diesem unerwarteten Überfall entgangen waren.

Jung und alt waren erheitert, nur Espe konnte dergleichen nicht ertragen. Was sich allen andern einfach als Mummenschanz, als ein Stück poetischer, mit dem Zauber des Fremdartigen ausgestatteter Welt darstellte, war ihm nur eine Welt der Unordnung, der Unsitte, der Faulenzerei, durchsetzt mit Keimen, aus denen allerlei Verbrechen über kurz oder lang aufgehen müsse. »Selma … Frida!« rief er zwei-, dreimal, ohne daß die Kinder hörten, und als die darüber mehr und mehr in Verlegenheit geratende Rätin ihm schließlich zuflüsterte, daß er doch auf die Nachbartische Rücksicht nehmen und sich seiner Erziehungsphilistereien enthalten möge, wurd er unwirsch und beinah heftig, wie immer, wenn das Kapitel der Ordnung in Frage kam, und mit dem Zeigefinger auf den Tisch schlagend (er traf leider die Gabel, die nun in einem Bogen aufflog und dann erst zur Erde fiel), fuhr er in spitzem Tone fort: »Liebe Geraldine, das sind Prinzipienfragen, und Prinzipienfragen sind nicht deine Stärke …«

»Nein«, sagte diese.

»Nun wohl. Es gibt aber Prinzipien, und es gibt Erfahrungssätze. Was da herumzieht – den großen Bären nehm ich aus; der Bär ist der einzig Anständige von der Gesellschaft —, was da herumzieht, sag ich, ist Gesindel, und ich mag nicht alles auf der Seele haben …«

»… und ich noch weniger auf dem Körper«, ergänzte Sophus …

»… was sich da drüben bei dem seinwollenden Ehepaare, das doch natürlich keines ist, vorfindet …«

»Es gibt so viele Ehepaare, die keine sind«, sagte Geraldine gereizt. »Ich bitte dich, Espe, wenn du nur nicht immer verbessern und die Menschen so vortrefflich machen wolltest, wie du bist. Du verlangst lauter Espes. Das hilft dir aber nicht. Der liebe Gott hat es anders gefügt, und die Menschen gehen nun mal ihrer Lust und ihrem Vergnügen nach.«