Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia

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Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia
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Von

Notburga, Maria, Cäcilie,

Malin und Pia

Historischer Roman

Frauenschicksale von 1850 - 2015

von

Sybille A. Schmadalla

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Cäcilie 1895 - 1968

…und Pia stellt Fragen

Maria 1874 - 1958

Notburga 1850 - 1935

Malin von Althaus 1924 - 2000

Pia recherchiert die Kriegsjahre

des Vaters 1943 - 1946

Malin und Robert 1948 - 2000

Pia und Malin 1956 - 2015

Anhang

Impressum Dank Kurzbiografie

Quellenverzeichnis

Übersicht zur Rechtsgeschichte

Psychologische Dimensionen

Stammbaum der Frauen

Back up

Vorbemerkung

Wer über die geschichtliche Entwicklung von Frauenrechten schreibt, kommt am Thema Gewalt nicht vorbei.

Staatliche, gesellschaftliche, individuelle Gewalt. Letztlich ein Spiegel der gesellschaftlichen Haltung zum Thema Gewalt.

Stets gilt es die Rechte der Frauen aufs Neue zu verteidigen! Ein Thema, das immer politisch virulent ist. Die Debatte um Gleichen Lohn für Gleiche Arbeit oder die Flüchtlingswelle, die insbesondere das Thema Gewalt gegen Kinder und Frauen aufwirft. Das Wiederaufleben des Barbarischen, wie es die Terroristen des IS proklamieren, steht erkennbar gegen die Rechte des Individuums und die Errungenschaften der Zivilgesellschaft seit 1789.

Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen der Geschichte.

Dieser Roman umfasst die Zeitspanne 1850 bis 2015 und belegt den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland in dieser Frage.

Die Protagonistinnen stehen jeweils für einen psychologisch belegbaren Typus. Die aktuelle Lage in Afrika und Europa, die Katastrophe einer drohenden Völkerwanderung unbekannten Ausmaßes, fordert das Handeln des Einzelnen. Zu welchen Werten werde ich mich bekennen? Die Deutschen, die noch immer unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs leiden, müssen Antworten finden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und wären dem gemeinsamen Erleben wie Kriegstraumata, Vertreibung und Flucht geschuldet.

Die Handlung und die in ihr vorkommenden Charaktere sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig.

Jedoch ist der geschichtliche Kontext wie z.B. die Luftangriffe auf Nürnberg, der Afrikafeldzug, der Kampf um Frauenrechte usw. historisch verbürgt.

Prolog

„Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen:

lange müssen sie warten, bis sie wissen,

was in ihre Tiefe fiel.“

Friedrich Wilhelm Nietzsche: Also sprach Zarathustra - Ein Buch für Alle und Keinen Kapitel 23 Von den Fliegen des Marktes.

Malin von Althaus, geborene Grundler

Malin hatte in ihrem grünen Sessel gesessen. Sie wartete. Sie dachte nach. ‚Ich werde alleine sein‘. ‚Ich‘ hatte sie seit 1962 nicht mehr gesagt oder gedacht. ‚Ich‘. 1962. Achtunddreißig Jahre her.

Malin summte vor sich hin, ein Weihnachtslied. Verwundert lauschte sie ihrer inneren Stimme: „… still und starr liegt der See, weihnachtlich glänzet der Wald, freue dich, ‘s Christkind kommt bald …in den Herzen wird‘s warm, still schweigt Kummer und Harm ...“ Mit einer ärgerlichen Handbewegung scheuchte sie die Gedanken.

Sie fühlte wie immer – nichts. Still und starr. Malin wartete. Sie war jetzt Mitte 70. Sie war alt. Die Kinder sollten sie abholen und ins Krankenhaus fahren, wo ihr Mann Robert im Sterben lag. Schweigen schwebte im jedem Raum, füllte das Haus, mit der Gewissheit, was da kommen würde. Das Wohnzimmer, mit dem braunen, blockartigen Parkettboden, typisch fünfziger Jahre, die Marmorfensterbretter, alles gemeinsam ausgesucht. Es ging zu Ende. Gedankenverloren zwirbelte sie mit den Fingern die Tischdecke des Beistelltischchens. Jetzt fühlte sie etwas, einen leisen, ziehenden Schmerz, dort, wo die Seele sein sollte. Bedauern. Malin weinte schon lange nicht mehr. Das letzte Mal hatte sie geweint, als ihre Mutter starb, Cäcilie Grundler, das lag mehr als 30 Jahre zurück. Jetzt würde Malin alleine sein, alles, was schwer war, kam immer zu ihr. Einsamkeit wog schwer. Sie würde nicht einsam sein, nicht als Mutter von fünf Kindern. Fünf lebenden Kindern. Sie besuchten sie oft, das würde so bleiben. Es fielen ihr Sätze ein. Sätze aus Büchern, die sie den Kindern immer vorgelesen hatte >die Stille wanderte auf und ab< oder >ihr Herz war in einen Dornbusch gefallen<. Bei diesem Satz wurde ihr bewusst, dass sie fast fünfzig Jahre mit Robert verheiratete war. Ihr größtes Geheimnis teilte sie bis heute nur mit ihrer Schwester Amalie und ihrer Mutter - beide lange tot. Er wird es nie erfahren. Genauso wenig, wie er nicht ahnte, dass sie es wusste. Sie wusste, was er, Arthur, ihrem erstgeborenen Sohn, angetan hatte. Nie hatte sie Robert zur Rechenschaft gezogen. Sie seufzte tief und dachte ‚Warum eigentlich nicht?‘. Danach hatte sich alles verändert. Alles. ‚Ich‘ – Malin spürte Ratlosigkeit. Was sollte werden, wenn Robert nicht mehr lebte? Es würde kein neuer Anfang sein, obwohl es definitiv das Ende von etwas bedeutete. Wer würde sie sein? Was würde geschehen mit ihrem ungeliebten Leben? Was anfangen? Sie würde alleine sein. Das traf heute schon zu. Ihre ständigen Begleiter hießen Einsamkeit und Traurigkeit. Nie hatte sie sich verstanden gefühlt. Was sollte sich daran ändern?

Sie dachte an ihre Kinder, die Zwillinge Alma und Arthur. ‚Gleich Zwillinge‘, das hatte sie fast überfordert. Alma war ein liebes, braves kleines Mädchen gewesen, aber Arthur! Es fehlte ein Ärmchen, es schauderte sie, als sie den Moment erinnerte. ‚Ein behindertes Kind! Zu Beginn zudem ein unentwegt quengelndes Kind. Seine Behinderung lastete schwer auf ihrer Seele. Eine körperliche Behinderung bis Robert…‘ mit einer ungeduldigen Bewegung unterbrach sie sich, scheuchte sie erneut die Gedanken. Das Unaussprechliche blieb sogar als Gedanke undenkbar. ‚Schon im Jahr drauf kam Tilde auf die Welt, wieder ein Mädchen, robust, blond und rosig, aber eben wieder ein Mädchen und kein Junge. Jedes Jahr ein Kind, Pia, erneut ein Mädchen! Alle Kinder schienen ihr so fremd. Aber dann, die Fehlgeburt zählte nicht, aber dann gebar sie Johannes, einen rundum properen Knaben, ihr Liebling. Es gab dazwischen eine Totgeburt - wieder nur ein Mädchen‘ ‚Ich‘ – viel konnte sie damit nicht anfangen. ‚Ich?‘ Die Stille wanderte auf und ab. Ihr Herz war in einen Dornbusch gefallen – vor langer Zeit.

Johannes

Johannes, das jüngste der Kinder, der gesunde Stammhalter, Jahrgang 1960, hatte auf der Bank im Krankenhausflur gesessen.

Er sollte die Verwaltungsdame treffen, um die letzten Dinge zu regeln. Johannes, der Autorenfilmer in der Rolle des liebenden, trauernden Sohnes, der der Mutter die helfende Hand reichte. Er, der die letzten Dinge für sie regelte. Eine Paraderolle. Johannes fand sich genial. Als Filmschaffender und Regisseur fühlte er sich unabhängig. Er inszenierte sich regelmäßig - ein begnadeter Selbstdarsteller. Er hielt sich für außergewöhnlich intellektuell, unglaublich gebildet, sprachgewandt, belesen, unterhaltsam, schillernd und begabt. Schlicht, er fand sich phantastisch. Johannes kannte Gott und die Welt und was viel mehr zählte - Gott und die Welt kannten ihn! Johannes scheute sich nicht einen Satz, wie >mein Wille geschehe <, in Mikrofone zu sprechen, und ‚schon tanzten in seinen Filmen alle Figuren nach seiner Pfeife‘ – meinte er. Mit dem unbedeutenden Schönheitsfehler, dass er noch keinen ‚bedeutenden‘ Film gedreht hatte, aber das stellte in seinen Augen maximal eine Petitesse dar.

Er, der gesunde Sohn, der Liebling der Mutter, ‚der Sonnenschein‘, ‚der Augenstern‘, ‚das Süßerle‘. Er lächelte maliziös. ‚Niemand wird mich mehr hindern, das zu tun, was ich will. Meine Macht über sie ist groß. Bei mir bockt sie nicht.‘ Er stand nervös auf, nur um sich sofort wieder zu setzen. ‚Du liegst in dieser Kiste. Ich habe deine Augen zugedrückt, aber du schlugst sie wieder auf, also nochmal und noch einmal. Die Stille im Raum, die atemlose Betroffenheit im Krankenhauszimmer. Totenstille, im Sinne des Wortes‘. Er wippte nervös mit dem überschlagenen Bein, sah erneut zur Uhr, konzentriert begutachtete er seine teuren Slipper.

‚Ich hatte vorher mit den Ärzten geredet. Ich hätte dir eine Spritze gegeben, ich hätte das für dich getan, mein Vater. Ich bin ein guter Mensch, bereit dich zu ermorden, bereit dich zu erlösen. Du bist vorher gestorben. Als Kind habe ich mich versteckt, wenn ich dein Auto in der Auffahrt gehört habe. Ich erinnere mich nicht, ob du mich je geschlagen hast. Aber ich erinnere mich, an deinen Jähzorn. Egal, jetzt bin ich am Drücker!‘ Johannes stand auf. Er ging Richtung Wanduhr. Er tigerte ungeduldig den Flur entlang. Die Uhr zeigte nach neun. ‚Man muss in die Zukunft blicken. Ab jetzt werde ich mich um das gesamte Vermögen kümmern! Ich überzeuge sie schon davon, dass dies das Beste ist‘ Bei dem Gedanken besserte sich eine Laune schlagartig.

Matilde

Nach den Zwillingen erblickte Matilde das Licht der Welt. Wieder eine Tochter, das dritte Kind, 1952. Als Dreijährige konnte Matilde ihren Namen nicht richtig aussprechen, seither hieß sie Tilde. Sie liebte das Genaue, Akkurate, Exakte. Zahlen gaben Halt, die logen nicht, die zeigten sich verlässlich, berechenbar. Tilde galt als diszipliniert, präzise, korrekt. Sie arbeitete als Buchhalterin in einer renommierten Steuerkanzlei. „Stinklangweilig“ ätzte Johannes. Größere Unterschiede zwischen Geschwistern hätte es kaum geben können. Darüber hatte sie sich des Öfteren gewundert, wie Kinder, die dieselben Eltern haben, so verschiede Entwicklungen nehmen konnten.

 

Der erwartete Anruf traf ein. Der Vater war in den Mittagsstunden verstorben. Tot.Tilde und ihre Tochter Imke saßen über Fotoalben gebeugt, betrachteten die Fotos aus Tildes Kindheit. Weihnachten, Kommunion, Nikolaus und Schulbeginn. Tilde erinnerte sich. Sie strich über die Seiten, gedankenverloren sah sie ihre Tochter an: „Wir hatten eine schöne, unbeschwerte Kindheit. Ein schönes, neues Haus mit weitläufigem Garten. Wir haben Zelte und Baumhäuser gebaut.“ Imke nickte. Tilde schwieg, sie erinnerte sich. Es gab einen Sandspielkasten, im hinteren Teil des weitläufigen Gartens. Eine Schaukel. Sie und Alma im Sandkasten und Pia, wie sie dem Vater Sandkuchen verkauften gegen Erdbeeren oder Radieschen.

Tilde versank wieder in Gedanken. Der Vater war tot. Jetzt wurden alle liebevollen Erinnerungen herausgekramt. Sie war seine Lieblingstochter gewesen, da war sie sich sicher. Brauchte es dafür einen Beweis? Nein, Tilde genügte ihre eigene Gewissheit. Sie war seine Lieblingstochter - schon immer. Tilde tutzte. Es beschlich sie ein plötzliches Unbehagen. ‚Meine schöne Kindheit?‘ Sie rief sich zur Ordnung ‚Ja! Ich hatte eine schöne Kindheit und einen liebevollen Vater‘ versicherte sie sich selbst.

>Wer seine Rute schont, der hasst sein Kind; wer es aber liebhat, der züchtigt es bald<

Das hatte er oft gesagt, irgendetwas aus der Bibel. Tilde dachte trotzig, ‚ich war deine Lieblingstochter‘, sie merkte das Aufsteigen eines Klumpens im Hals. Jetzt bloß keine Aufwallungen hochkommen lassen, Kontrolle, alles unter Kontrolle! Tilde beherrschte sich, lies keine anderen Gedanken zu. Nein, alles o.k. - wie immer. Alles unter Kontrolle! Ökonomie der Emotionen. Niemand sollte sie weinen sehen.

Tilde hatte eine Suppe gekocht, eine dicke, sämige Kartoffelsuppe mit Majoran. Suppe zentriert. Suppe heilte Wunden, beruhigte die Sinne. Suppe ließ Aufregung oder Anspannung einfach dahinschmelzen in ihrer sanften, wohlschmeckenden Wärme. Erst auf der Zunge und dann im Bauch verströmte sie Wohlbehagen.

So hatte jeder seine Aufgabe. Pia und Johannes hatten in der Nacht abwechselnd beim Vater Wache gehalten. In der Früh hatte Johannes die Mutter ins Krankenhaus gefahren, Pia kam grau und erschöpft zurück.

Pia

Der Vater existierte nicht mehr. Gestorben, vor wenigen Stunden. Pia blickte auf ambivalente Erinnerungen. An ihn, den Vater. Sie las in ihrem Tagebuch, aus Kindertagen: „Sein Atem schlägt heiß in mein Gesicht, ich spüre die Feuchte, so nah ist er. Seine Augen glühen schwarz vor Wut, Hass, Zorn sie blitzen, sprühen Funken. Sein Gesicht ist verzerrt, ich erkenne ihn kaum wieder. Schweißtropfen stehen auf seiner Oberlippe. Der Mund bewegt

sich, was er schreit, höre ich nicht. Meine Arme sind dick, taub und rot, ich halte sie hoch, vor mich. In meinen Ohren rauscht es, wenn seine Fäuste mich treffen, wackle ich wie Pudding - alles ist in die Ferne gerückt. Es läuft nass und warm meine Beine hinunter. Ich schäme mich. Ich will ein gutes Kind sein. Ich bin 8 Jahre. Allein. Mutti ist nie da, wenn das passiert. Es passiert oft und dafür braucht es keinen Anlass. Ich beobachte ihn genau. Ganz genau. Immer.“

Pia blätterte, übersprang Seiten, gedankenverloren las sie: „‘Widersprich mir nicht!‘ herrschte er Mutti am Sonntagsmittagstisch an, sein Gesicht leicht gerötet. Seine Augen funkelten schon wieder gefährlich. Sein Finger kreiste am Rand des Rotweinglases und die Flasche halb leer, Alarmstufe rot. Spätestens jetzt musste man sich verdünnisieren. Mutti schwieg und senkte die Augen. Ihre Finger zwirbelten das Eck des Tischtuchs. Hilflos. Kampflos. Ohne Macht – ohnmächtig. Wie sooft. Alle Kinder blickten in ihre Teller oder irgendwo ins Leere. Angespannte Stille. Mozarts Flötenkonzert schwebte schwerelos im Raum, in einer gewalttätigen Stille, die vor Spannung fast zersprang, schwang sich die Querflöte unter atemlosen Tirilieren dem Blau des Himmels entgegen. Elegant, leicht und schwerelos. Ich widersprach! Er griff nach den Kartoffeln auf seinem Teller und warf nach mir.“ Sie lies das Tagebuch sinken. Pia wusste noch, dass sie damals laut gelacht hatte, weil es so absurd, so lächerlich erschien. Niemand spottet dem Tyrann - halbtot hatte er sie geprügelt.

Wieder eine andere Seite: „Die Ader auf seiner Stirn schwoll an, er brüllte, ich brüllte zurück, wir brüllten uns an. Ich hielt seinem Blick stand. Ich stand auf und ging, er sprang auf - hinterher. Außer sich vor Wut!“ Pia las den Satz: „Ich habe schon lange keine Angst mehr vor ihm, Prügel schrecken mich nicht mehr. Das weiß er, also setzte er jetzt auf Verbote und Psychoterror. Dafür lüge ich ihn an, dass sich die Balken biegen. Wir schenken uns rein gar nichts! Ein Machtkampf. Meine Lügen als Antwort auf den Terror, den er verbreitet! Alle lügen ihn an.“

Pia ließ gedankenverloren das Tagebuch sinken, die Gedanken wanderten, sie hörte seine Stimme: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe auf Erden“. Pia hatte widersprochen. Das hieße nichts anderes, als wenn es einem nicht wohl erginge, dass man dann selber schuld sei, denn dann hast du eben deine Eltern nicht genügend geehrt. So einfach geht das. Du bist schuld. Du hast keine Forderungen zu stellen. Du hast Deine Eltern nicht zu kritisieren. Eltern machen nichts falsch. Basta.

Pia nahm den Faden wieder auf und las weiter.

„Wutentbrannt warf er die Türe so ins Schloss, dass die Glasscheibe mit einem Geräusch zwischen klirrend, kratzend und kreischend auf dem Boden zerschellte und in tausend Stücke zersprang. Stille! Immer noch sangen Vivaldis Geigen ihr Konzert in der sonntäglichen Mittagsstunde und ich sah seinem Gesicht an, dass er buchstäblich wieder zu sich kam. Ich drehte mich um und ging.“ Pia wusste, dass sie damals vierzehn Jahre altgewesen war. Immer war sie damit allein. Keines der anderen Familienmitglieder muckte. Der nächste Satz in der geschwungenen Mädchenhandschrift auf hellgrauen Zeilen auf den letzten Seiten des Tagebuchs mit leicht gelblichen Seiten lautete „Alles wurde anders! Aus der Ohnmächtigen wurde eine Mächtige - und was für eine!“

Pia las, die Tagebuchzeilen aus ihrer Kindheit: „Die Metamorphose der Mutter zur Eiskönigin - jeder der es hätte sehen wollen, hätte es sehen können Es kündigte sich lange vorher an. Sie wurde eine Meisterin darin, ihn zu blamieren, ihn auflaufen zu lassen, ihn zu konterkarieren. Ungewaschene, strähnige Haare, rotes, fleckiges Gesicht mit Pickeln. Zu dick, schlampige Figur, hässlich angezogen, hinkender Gang, ungepflegte Zähne. Stinkend, lustlos, freudlos! Keine Meinung – ihre Insignien der Macht.“ Pia erinnerte sich. Er flehte, er bettelte, er kaufte Pelzmäntel, Brillantringe, Perlenketten, Schmuck, eine Rolex – nichts half, weil er nichts verstand.

Erst verachtete Pia ihn, später bemitleidete sie ihn, weil er so gar nichts verstand. Ein Trottel - in dieser Hinsicht..

Pia hatte damals gedacht „Aber ich bin fair! Ich bin dein Widerpart und kämpfe mit offenem Visier! Sie hingegen kämpft verdeckt, sie ist dein unlösbares Rätsel“ Jetzt lag er tot im Kühlraum des Kankenhauses und bis zum bitteren Ende hatte er nichts verstanden.

Pia erinnerte sich - die Hand mit dem Buch sank herunter - an die Sterbenacht. Das war gerade zwei Tage her. Morgen gab es eine pompöse Beerdigung, das stand fest.

‚Nachts. Im Krankenhaus. Es herrschte diese ungute, erwartungsschwangere Stille. Der Vater rang nach Luft. Schnappatmung nannten es die Ärzte. Pia nannte es für sich schweres Schnarchen, weil sie es sonst nicht hätte aushalten können. Er lebte noch, ihr Vater. Sie wollte ihn immer lieben, Pia wollte immer ein gutes, braves Kind gewesen sein. Pia wollte, dass er sie liebte. Jetzt saß sie an seinem Sterbebett.

Reden konnten sie wenig, denn er bekam kaum Luft. Drei Uhr in der Früh. Er war wach. Er wollte heim. Dieses Bett verlassen, in dem er sterben würde. Pia dachte an die Worte der Pfleger und dass es so kommen würde. Er wusste, dass er sterben würde. Vor einer Woche war er ins Krankenhaus gegangen, wissend, dass er nicht mehr heimkommen würde.

Er hatte alle anrufen lassen, alle könnten sich von ihm verabschieden.

Jetzt wollte er, dass Pia ihn anzöge. Er unterbreitete seinen Plan, wie sie das Krankenhaus ungesehen verlassen könnten. Pia rief

den Pfleger. Pia erinnerte sich, wie winzig die Seele wurde, als sie mit ihrer vierundvierzigjährigen Kinderstimme flüsterte „ich hab Dich lieb“, seine Augen lächelten und er röchelte „ich Dich auch“.

Der Pfleger hatte den Raum verlassen und nun betrat der Tod die Bühne. Der Sensenmann. Pia spürte ihn, der Tod kam, bereit ihn zu holen. Der Vater bereit mit ihm zu gehen. Pia fühlte sich winzig. Sie verspürte die Erleichterung, dass es nicht sie betraf. Sie durfte leben. Gleichzeitig schämte sie sich dafür. Aber der Vater wartete. Er wartete auf sie, seine Frau. Die, die zu Hause saß. Die, die nicht seine Hand hielt. Also ging der Moment vorüber.

Ein kalter Wintermorgen, grau- sah zum Fenster herein. Eine Amsel zwitscherte. Pia öffnete das Fenster und wieder kam so ein Moment, wo sie sah, dass er gehen wollte. Es war an der Zeit. Er wartete. Er wartete auf sie, auf seine Frau, die Mutter seiner Kinder. Sie, die nicht an seinem Bett saß. Sie, die erst spät kommen sollte, fast zu spät. Er wartete seit 1948.

Pia atmete tief durch, mussten die Kinder das verstehen, was diese Ehe über die Jahrzehnte zusammenhielt? Stand es ihr zu, das zu fragen? Ging sie das was an? Pia öffnete erneut das Fenster, beugte sich zu ihm und er lächelt sie an und sagte „Danke“. Sein letztes Wort an sie. Sollte das die Versöhnung mit all den Jahren der Gewalt sein?‘

Pia stand auf, griff nach dem Sterbebild, das Morgen zu seinem Gedenken verteilt werden würde. Aus dem Foto strahlten seine blitzenden braunen Augen, sie sah sein lachendes Gesicht.

Arthur

Der Vater verstorben. Arthur fuhr mit dem Bus zur Aussegnungshalle. Abschied nehmen. Wie üblich, alle kümmerten sich um alles, aber niemand kümmerte sich um ihn. Selbst seine Zwillingsschwester Alma, die um einundzwanzig Minuten Ältere,

schaute nicht nach ihm. Arthur nahm in der hintersten Reihe platz. Er musterte den Sarg. ‚Ich bin dein Sohn Arthur und ich habe seit Geburt einen verkrüppelten Arm. Ich bin die Schmach der Familie‘. Unentwegt strömten Menschen in die Aussegnungshalle. Viele Menschen in schwarzen Kleidern. Verwandte, Nachbarn, ehemalige Kollegen, einige Vereinsfreunde und eine Delegation der Siedlergemeinschaft. Die Stimmen, ein verhaltener Klangteppich, hüsteln, flüstern, verstohlene Blicke, kurzes Begrüßungsnicken. Es war einer der frühen, ersten Frühlingstage in diesem Jahr, kein Wintertag und vorne stand der Sarg, in dem der Vater lag. Arthur sinnierte ‚Anfangen konntest Du mit mir nichts. Ich bin dein erstgeborener Sohn. Selbst wenn Alma einundzwanzig Minuten älter ist als ich, ist sie nur ein Mädchen. Aber ich bin dein Stammhalter und dein Erbe! Womit ich nichts anfangen kann. Aber du hast gekämpft für mich. Die Mutti schämte sich nur für mich. Die Sprachlosigkeit zwischen uns, als Zeichen eines vollumfänglichen Nichtverstehens! Ich dich nicht und du mich nicht. Nordpol und Südpol. Du wolltest etwas Gutes für mich, nur gab es zwischen uns keinerlei Berührungspunkte. Ich hätte Sänger werden können, aber das lag weit außerhalb deiner Vorstellungswelt. So bekam ich dank deiner Hilfe meine Gärtnerhelferstelle in der Lebenshilfe. Das hast du getan für mich. Muss ich dankbar sein? Bin ich dir dankbar? Ja, ich bin dir dankbar, so einer wie ich muss dankbar sein‘ Arthur stand auf und ging den Gang zwischen den Stuhlreihen entlang. Er hielt die Rose am äußersten Ende. Sie hätte ihn stechen können. Arthur mochte nichts, was klebte oder pikste. Die Rose wippte im Rhythmus seiner Schritte. Er ging durch das Spalier der ihm unangenehmen Blicke, spürte sie in seinem Rücken und legte seine Rose auf den Sarg, hastig, fast hektisch. Arthur mochte diese Aufmerksamkeit nicht. Ein echtes Opfer aus Dankbarkeit. Bei sich dachte er ‚ich hoffe du weißt es zu würdigen. Du, der du stets gerne im Mittelpunkt standest‘. Dann ging er zurück, wieder durch das dornige Spalier dieser Blicke und setzte sich. Jeder mit sich beschäftigt, jeder allein, obwohl so viele Menschen den Saal bevölkerten.

‚Gab es zwischen uns noch etwas, was gesagt sein müsste?‘ Arthur erahnte etwas. Ungenau, grau, versunken in der Zeit, etwas das seinen Vater mit ihm besonders verband, etwas das es wert gewesen wäre, erinnert zu werden, aber es fiel ihm nicht ein, er erinnerte es nicht.